Leere Bänke – neue Wege

Weniger Kinder, mehr Ältere. Weniger Familien, mehr Singles

Der demografische Wandel verändert Kirchengemeinden. Wie sehen Gegenwart und Zukunft der christlichen Gemeinden in Deutschland aus? Von Andreas Püttmann / Pro-Medienmagazin

Bonn, kath.net/ Pro-Medienmagazin, 25. Oktober 2012

Während die Zahl der Christen im Weltmassstab, insbesondere in Asien und Afrika wächst, ist der christliche Bevölkerungsanteil in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970 von über 90 auf etwa 60 Prozent gesunken. Nur ein Drittel dieser Schrumpfung geht auf die Wiedervereinigung zurück. 1950 gab es 43 Millionen deutsche Protestanten, heute noch rund 24 Millionen. Nur etwa 900.000 von ihnen, also weniger als 4 Prozent treffen sich sonntags zu rund 20.000 Gottesdiensten. Die Katholiken verringerten sich langsamer dank höherer Kinderzahl, mehr Zuwanderern und weniger Kirchenaustritten.

Doch sackte ihr Gottesdienstbesuch seit 1950 von rund 50 auf 12 Prozent ab. Dieser Indikator ist für die Prägekraft einer Religion wichtiger als die blosse Kirchenmitgliedschaft: “Wird Gott nicht mehr im lebendigen Zusammenhang einer kirchlichen Gemeinde erfahren, verschwindet auch das Bewusstsein, ihm sittliche Rechenschaft zu schulden, in einem Dämmerlicht”, sagte der Sozialethiker und Theologe Walter Kerber.

Nur noch jeder siebte Christ bezeichnet sich laut Allensbach (2010) als “gläubiges Mitglied meiner Kirche”, das sich “der Kirche eng verbunden” fühlt. Ein weiteres Viertel sagt: “Ich fühle mich meiner Kirche verbunden, auch wenn ich ihr in vielen Dingen kritisch gegenüberstehe”. Die meisten (38 Prozent Protestanten, 32 Prozent Katholiken) bezeichnen sich als “Christ, aber die Kirche bedeutet mir nicht viel”. 20 Prozent der Protestanten und 14 Prozent der Katholiken äussern sogar, “keine Religion” zu brauchen, sich “religiös, aber nicht als Christ” zu fühlen oder sagten: “Ich weiss nicht, was ich glauben soll”.

Angesichts solcher Zahlen fragt man sich nicht mehr, warum so viele, sondern, warum so wenige Menschen aus der Kirche austreten. Übrigens sind zwei Drittel der Ausgetretenen Ex-Protestanten. Selbst im Missbrauchsskandaljahr 2010 mit erstmals mehr katholischen als evangelischen Kirchenaustritten sagten Protestanten häufiger als Katholiken, sie hätten schon “mit dem Gedanken gespielt, aus der Kirche auszutreten”.

“Die Gottesfrage stellen viele erst im Hospiz“

Die Ursachen für den Aderlass sind nicht nur “hausgemacht”, sondern liegen auch ausserhalb der Kirchen: “Alles deutet darauf hin, dass die Wurzeln des Glaubens vor allem durch die grosse Veränderung der Lebensbedingungen und den dramatischen Wertewandel beschädigt werden”, meint Wilhelm Haumann vom Allensbacher Institut. In einer friedens- und wohlstandsverwöhnten Zerstreuungs- und Vollkasko-Gesellschaft des “anything goes” sind die auf das Jenseits hinführenden Lebenserfahrungen reduziert. Erst im Angesicht des in Hospize und Altenheime verdrängten Todes wird sich die Gottesfrage für die meisten Zeitgenossen radikal stellen. Bis dahin leben sie in einer entzauberten Welt, in der scheinbar alles von Menschen durchschaut, erklärt, gemacht und überspielt werden kann. In einer Zeit des schnellen Wandels, der Verfügbarkeit, der Visualisierung und Entzauberung muss eine Institution, die vom Unsichtbaren, Unwandelbaren und Unverfügbaren kündet, naturgemäss einen schweren Stand haben. Nach einer “Focus”-Umfrage von 2011 glauben 44 Prozent der Deutschen, “dass Gott die Welt geschaffen hat”, 37 Prozent “an die Auferstehung der Toten” und 29 Prozent “an das Jüngste Gericht”. Nur sechs Prozent beten regelmässig vor oder nach einer Mahlzeit. 1965 dankte noch jeder Dritte für das Essen. 17 Prozent lesen zumindest “hin und wieder” in der Bibel. Das Glaubenswissen schwindet, Glaubensinhalte werden zum selbst gebastelten “Patchwork”.
Das Christentum ist vielen Menschen “nur noch der kulturelle Hintergrund, auf dem sie sich ihre Religion zurechtlegen. Sich auf das christliche Abendland zu beziehen, bedeutet nur noch Abgrenzung zum Islam“, meint Infratest-Werteforscher Thomas Gensicke.

Zur Schrumpfung und geistlichen Auszehrung der Kirchen kommt eine doppelte Überalterung: Einerseits durch die demografische Entwicklung, andererseits durch die mangelnde Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation. Gottesdienste gleichen einer Rentnerversammlung. Mehr als die Hälfte der demoskopisch identifizierbaren “Kirchennahen” ist älter als 60 Jahre. Von den unter 30-jährigen Deutschen betrachten laut Allensbach nur noch 15 Prozent die religiöse Erziehung als “sehr wichtig für Kinder”.

Wenn die Eltern der kommenden Generation bei der Weitergabe des Glaubens also ausfallen, rückt die religiöse Unterweisung mehr in den Bereich der Gemeinden und des konfessionellen Religionsunterrichts, soweit dieser noch vorhanden ist.
Nur 8 Prozent der in Ostdeutschland religionsfern Erzogenen wurden später gläubig. “Die kirchen- und glaubensferne Erziehung bedeutet deshalb in der Regel keine Erziehung hin zu einer wirklich freien Wahl, sondern nimmt die Entscheidung gegen die Religion bereits vorweg“, meint Wilhelm Haumann. Zwei Drittel der über 60-jährigen berichten von einer religiösen Erziehung in ihrem Elternhaus, aber nur noch ein Drittel der 16- bis 29jährigen. Zwei Drittel derer, die aus einem religiösen Elternhaus stammen, glauben an Gott, aber 83 Prozent der Nichtgläubigen bezeichnen ihr Elternhaus als nicht religiös. Bei derartigen Zahlen liegt eine weitere schnelle Schrumpfung und Überalterung der Kirchen auf der Hand.

Hinzu kommt: Nach einer internationalen Studie der Universität Chicago 2012 entwickeln sich in den meisten Ländern religiöse Biographien häufiger vom Glauben zum Atheismus als umgekehrt. Auffallend an einer Allensbacher Umfrage zu christlichen Glaubensinhalten ist allerdings: Unter 30-jährige Deutsche, die diesen generell weniger zustimmen als die Gesamtbevölkerung, sind in einem Punkt etwas aufgeschlossener: im Glauben “an mystische Erfahrungen, an Begegnungen mit dem Geheimnisvollen“.

Der Bertelsmann-“Religionsmonitor 2008” weist darauf hin, dass “im weitgehend säkularisierten Osten Deutschlands gerade junge Leute zunehmend etwas mit der Vorstellung eines Lebens nach dem Tode anfangen können, obwohl sie nicht unbedingt an Gott glauben. Medienberichte über Nahtoderfahrungen, Science-Fiction-Filme und Informationen über fremde Religionen speisen diese experimentelle Annäherung”.

Weniger, älter, entschiedener

Die 18- bis 29-Jährigen zeigen in bestimmten Fragen überraschend traditionelle Überzeugungen: Sie stimmen mit 51 Prozent weniger als alle anderen Altersgruppen einem abstrakten Bild Gottes als “höherer Macht” zu. Eine neuere Bertelsmann- Umfrage, über die die “Welt am Sonntag” berichtete, lässt darauf schliessen, dass die Gleichzeitigkeit der Achtung vor der Instanz Kirche und der persönlichen Relativierung ihrer Botschaften es jungen Leuten erleichtert, ein konservatives Christentum zu akzeptieren.

So wurde gefragt, ob “sich die katholische Kirche stärker liberalisieren und öffnen” sollte. Von den über 30-Jährigen wünschen sich dies, je nach Altersgruppe, zwischen 70 und 82 Prozent, bei den unter 30-Jährigen aber nur 45 bis 58 Prozent. “Jüngere Menschen, die heute mit der Nicht-Übereinstimmung von Alltagspraxis und Dogmen gut zu leben wissen, können offenbar eine konservative Kirche eher hinnehmen”, meint der Journalist Matthias Kamann.

Wenn die demoskopischen Anzeichen nicht trügen, werden die Kirchen in Deutschland also in 20 Jahren viel kleiner sein, mehrheitlich ältere Menschen versammeln, und insgesamt von entschiedeneren, nach heutigen Massstäben “konservativen” Gläubigen dominiert werden. Schon jetzt geht von den Evangelikalen und den bekenntnistreuen, “römischen” Katholiken mehr Tradierungskraft und Missionseifer aus als vom liberalen Mainstream beider Konfessionen. Die grösste Herausforderung der kleineren Christengemeinden der Zukunft wird es sein, sich trotz des verschärften Minderheitenstatus nicht von der säkularen Gesellschaft abzukapseln, lernfähig zu bleiben und als “Sauerteig” durch ein authentisches Lebenszeugnis ebenso wirksam zu predigen wie mit Worten.

Dr. Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Er lebt in Bonn.

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