Das Konzil hat den Umgang mit der Bibel verändert

Der Herzschlag eines Jahrhunderts

Das Konzil hat den Umgang mit der Bibel verändert – Fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanum leidet die Exegese noch unter Gleichgewichtsstörungen Von Klaus Berger

Hat das Konzil den Umgang mit der Bibel verändert? Diese Frage ist unumwunden mit Ja zu beantworten, wenn ich auf das blicke, was eben sichtbar ist: Der Bibelkodex wird liturgisch hoch geehrt. Wie ein grosser Schatz wird das kostbare Buch in jedem feierlichen Gottesdienst stolz zum Ort der Lesung getragen. Und die Kerzen zur Verkündigung des Evangeliums hat man erst nach dem Konzil richtig bemerkt. In vielen Messen gibt es drei biblische Lesungen, was früher nur ausnahmsweise üblich war.

Andererseits ist es schade, dass man aus falschem Reformeifer nicht-biblische Texte wie die Sequenzen gestrichen hat – zum Beispiel das “Dies irae, dies illa” oder die Pfingstsequenz. Eine Neuerung, die bis in die Gegenwart hinein reicht, sind katholische Bibelkreise, oft auch in ökumenischer Besetzung. Da wird eine Menge diskutiert, wenn auch nicht selten evangelikale oder sogar fundamentalistische Bibelkenner durch ihr breiteres Wissen die Diskussionen beherrschen. Die Katholiken sind dann nicht nur ärmer an Kenntnissen, sondern leider auch bereit, schnell katholische Wahrheiten zu opfern, weil die Verbindung von Bibel und katholischem Glauben immer noch ein Problem ist, nun aber eben eines der Laien. Priester getrauen sich oft aus Angst nicht in Bibelkreise oder entsprechende Vorträge, weil sie aufgrund ihrer mangelhaften biblischen Ausbildung fürchten, sich zu blamieren.

Überdies gilt die Ökumene als das wichtigste und kirchenpolitisch bedeutendste Feld der Bewährung der neuen Liebe zur Bibel. So werden in der bekannten Reihe “Evangelisch-katholischer Kommentar” je zwei etwa zusammengehörige Schriften des Neuen Testaments von je einem Katholiken und einem Protestanten bearbeitet, so etwa der Kolosserbrief von einem Protestanten und der Epheserbrief von einem Katholiken, der Galaterbrief von einem Katholiken und der Römerbrief von einem angeblich katholisierenden Protestanten.

Daneben gibt es seit Jahrzehnten zum Beispiel den Kreis der “Rhein-Main-Exegeten”, also von evangelischen und katholischen Alt- und Neutestamentlern. Dieser Kreis sollte am Anfang besonders die katholischen Ordens-Exegeten auf den neueren Stand bringen. Im Laufe der Jahrzehnte wurde daraus freilich ein machtvoller Berufungs- und Beziehungsverein. Denn sind Theologieprofessoren ohnehin schon durch die Existenz militanter Seilschaften ausgezeichnet, so gilt das unter ökumenischen Vorzeichen nun in mehrfacher Potenz. Das Gleiche gilt auch von allen übrigen Exegeten-Vereinigungen. Sie sind grundsätzlich multikonfessionell, sodass die Berufungspolitik weder an konfessionelle noch an nationale Grenzen gebunden ist. So kann man sagen: Wenn irgendwo in der theologischen Landschaft traditionelle Grenzen von Konfession, Geschlecht oder Nationalität ohne Bedeutung sind, dann gilt das von den Bibel-Auslegern. Naiv ist nur der, der diese Entwicklung für schlechthin begrüssenswert hält. Denn sie spielt doch mitten in der Welt und nicht unter Engeln.

Man kann sagen: Auslegung der Schrift gibt es seit Jahren entweder ökumenisch oder gar nicht. Von katholischen Sondergebieten oder -meinungen kann keine Rede mehr sein. Eher ist das Gegenteil der Fall: Seit vielen Jahren bemühen sich katholische Exegeten mehr als alle anderen, ihre katholische Herkunft bei der Auslegung vergessen zu machen. Ein Beispiel sind die Worte Jesu an Petrus im Matthäusevangelium “Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen”. Ich kenne keinen Exegeten deutscher Zunge, der es wagen könnte, diesen Text für ein (echtes) Jesuswort zu halten.

So wird ganz klar erkennbar: Die antipäpstliche Stimmung, die dem gegenwärtigen Heiligen Vater so viel Kummer bereitet, wird von den Studierenden der Theologie in jeder Vorlesung eingesogen. Für die latente Spaltung der katholischen Kirche in Deutschland ist zweifellos die sogenannte ökumenische Exegese verantwortlich zu machen. Auch die Bischöfe haben sie in ihrem Studium gelernt; wo sie anders denken, kann man sicher sein, dass in ihrem Studium nie über die Geheime Offenbarung eine Vorlesung angeboten wurde. Wie soll man mit dieser Exegese Zölibat, Priesterweihe, die Sieben Sakramente, die Mariologie, Dreifaltigkeit und Vatikanstaat begründen?

Das katholische Bibelwerk blüht, die Einheitsübersetzung wird überarbeitet, und katholische Medien veröffentlichen regelmässig ausführliche Schriftbetrachtungen. Dergleichen fehlte in der vorkonziliaren kirchlichen Publizistik. Man sollte da auch nicht lange herumnörgeln und kritisch fragen, warum die Liebe zur Bibel so plötzlich erwacht ist. Auch wenn es kirchenpolitische Gründe zuhauf sind, die dazu führten, entscheidend ist doch das Ergebnis, dass etwa allein aufgrund der Sonntagslesungen die Basis der Bibelkenntnisse bei den Katholiken stetig gewachsen ist. Die Angst vor der Exegese, die früher bei kirchlichen Oberen und professoralen Nicht-Exegeten herrschte, hat ausgedient, und damit ist die Bibel kein Kinderschreck mehr.

Das entscheidende Konzilsdokument über die Bibel heisst “Dei verbum“, und dieser Text hat dank der Emotionen, die ihn geleiteten, eine neue Epoche im Umgang mit der Schrift eröffnet. Auch Jesus und Maria wieder als Juden zu entdecken, hängt natürlich mit der Schrift zusammen, auch wenn es in den ersten zwanzig Jahren nach dem Konzil hier manche Unklarheiten gab, sodass man einem vorwerfen konnte, ihm fehle der nötige Antijudaismus und er könne deswegen nicht Priester werden. Das war 1967, doch lassen wir Biografisches.

Heute ist es vielmehr eher umgekehrt, und man scheint vielerorts das rechte Gleichgewicht noch immer nicht gefunden zu haben. Gerade bei Katholiken ist eine Schwärmerei für das Judentum ausgebrochen, die ihre Ursache übrigens – wie auch die entsprechende Leidenschaft für Protestanten – ihren Ursprung im schlechten Gewissen hat. So ist man gegenüber jüdischen Gesprächspartnern gern und allzu schnell bereit, die Trinität “fahren zu lassen”, weil sie angeblich nicht schriftgemäss sei, und auch gegenüber Protestanten alles Katholische, weil man sich als Katholik noch immer für vorreformatorische Missstände – oder was man gelernt hat dafür zu halten – verantwortlich fühlt. Aber dieses Ausschlagen des Pendels ins andere Extrem zeigt nur, wie gravierend der “Einbruch” eines neuen Verständnisses über die Rolle der Schrift für Katholiken war.

Allerdings ist mit der Bibel auch die folgenreichste Epoche ihrer Erforschung in die nachkonziliare Kirche eingezogen, nämlich die rationalistische Kritik der Offenbarung, der Bibel und des Übernatürlichen überhaupt. Hier wurden Fenster geöffnet, die sich mit blossen Appellen zum Durchhalten nicht schliessen lassen. Das wird gerade an den in vorderster Linie gern diskutierten Reizthemen Zölibat, Frauenweihe und Geschiedenen-Pastoral deutlich, bei denen es Katholiken schwer haben, mit der Schrift zu argumentieren.

Und wenn einer es doch tut, wird er wie ein Aussätziger behandelt, dessen pure Existenz peinlich ist. Denn ausgerechnet für den katholischen Standpunkt hier die Bibel zu bemühen, das erscheint als Sakrileg. Denn wer weiss noch, dass ausgerechnet das häufigst belegte Wort Jesu sein Verbot der Ehescheidung ist. Jesus brandmarkt die Scheidung von Mann und Frau, weil die eheliche Treue Gottes zu seinem Volk Kern und Voraussetzung seiner Botschaft vom Reich Gottes ist. Es verlangt zumindest Respekt vor der katholischen Position, dass die katholische Kirche trotz immenser Verluste wegen dieses Punktes die Position Jesu nicht aufgegeben hat. So wird manchen Christen erst spät deutlich, dass das Kennenlernen der Bibel nicht zur generellen Einführung grösserer Laxheit und Unverbindlichkeit führen kann.

Mittlerweile ist man – nicht ohne Einfluss des regierenden Papstes – dazu gekommen, ausser der Gesamtheit der protestantischen Ergebnisse auch ein gewisses Bedürfnis nach “Theologie” zu übernehmen. Und wo immer der traumwandelnde ökumenistische Geist der Nachkriegszeit ab 1960 ersetzt wird durch eine “Ökumene der Profile”, da bedeutet es auch das Ende der Normativität alles Protestantischen. Das heisst: Fünfzig Jahre absoluter Dominanz der protestantischen Schultheologie in Deutschlands Bibelauslegung aller Konfessionen sind nun zu Ende. Noch vor zehn Jahren konnte der mit Kardinal Ratzinger befreundete katholische Exeget Rudolf Pesch erklären, Josef sei der biologische Vater Jesu. Doch es steht zu erwarten, dass der Papst mit dem dritten Band seines Jesusbuches über die Kindheitsgeschichten neue Massstäbe setzen wird.

Einer der Exegeten des Übergangs konnte deshalb 2006 sagen: “Ohne Entmythologisierung – und deren Entmythologisierung – funktioniert keine Hermeneutik”. Das Konzil habe geklärt, “die Wahrheit der Schrift sei nicht ihre historische … Richtigkeit, auch nicht ihre dogmatische Korrektheit, sondern die Wahrheit des Evangeliums”. Dass das, was diese Wahrheit nun ist, undefinierbar schwammig bleibt, liegt dann wohl an dem oft beschworenen “pastoralen” Charakter des Konzils.

Das einzige feste Datum, das man diesen Sprüchen entnehmen kann, ist dann wohl das gespürte Ungenügen, das mit dem theologischen Kahlschlag der rationalistischen Exegese verbunden ist. Das bedeutet: Einerseits stehen wir am Ende einer Epoche, in der Exegese zum Instrument von allerlei Kirchen- und Autoritätskritik wurde. Diese Exegese hat die Kirchen entleert und die Gemeinden halbiert. Andererseits ist am Ende dieser Epoche noch nicht deutlich, worin denn das neue Konstruktive liegen soll. Denn “Kritik der Kritik” bleibt als solche schlechthin unerbaulich.

Solange man freilich alles, was jenseits der roten Linie der engen historischen Kritik liegt als “Fundamentalismus” kennzeichnet, ist keine Bereitschaft für Theologie zu erkennen. Die Äusserung Josef Blanks von 1979, Exegese sei “theologische Basiswissenschaft”, wird als grosse, mutige Tat dargestellt. Und der Münchener Josef Schmid, den man dafür lobt, er habe die Zwei-Quellen-Theorie bei den Katholiken heimisch gemacht, hat im Juli 1967 die Publikation meiner Dissertation in seine Reihe (Studien zum Alten und Neuen Testament) mit der schlichten Begründung abgelehnt: “Was werden die Dogmatiker sagen?”

Das heisst: “Die Dogmatiker” waren ganz pauschal die “Feinde der Exegeten”, und angesichts der puren Möglichkeit ihres Vetos liess sich schon ganz gut Kirchenpolitik machen. Heutzutage ist freilich eine derartige Front zwischen Dogmatik und Exegese unvorstellbar, da die Exegeten keine aufregenden Theorien mehr bringen können – die Möglichkeiten sind alle ausgereizt. Selbst die wildesten destruktiven Hypothesen nimmt man gelangweilt und “cool” zur Kenntnis. Und die Dogmatiker klagen gemeinsam mit den Exegeten an einem nun wirklich die Existenz bedrohenden Rückgang von Theologiestudierenden überhaupt. Und wenn erklärt wird, ein zu Beginn der sechziger Jahre in München lehrender Exeget habe mit seinem Kommentar zum Römerbrief selbst bei führenden Lutheranern Achtung erlangt, so gilt doch, dass seine kritische Schülerin A. van Dülmen in den sechziger Jahren nicht an der Tübinger katholischen Fakultät promovieren konnte, weil dort das Kollegium der Meinung war, ihre Auseinandersetzung mit Bultmann und Käsemann sei “peinlich”. Das heisst, sie war so kritisch gegenüber den professoralen Halbgöttern, dass die protestantisierenden Tübinger katholischen Kollegen meinen konnten, sie sei “zu katholisch” im Sinne von vorgestern. Dabei war sie nur neugierig im Sinne von übermorgen. Hier sind die Absurditäten so übereinandergetürmt – auf Kosten der Biografie einer Frau –, dass es Sinnen und Trachten einer ganzen Generation entlarvt. Es war die Generation der protestantisierenden Katholiken, Ausnahmen waren schon damals tödlich. Josef Blank und Rudolf Schnackenburg waren bei ausdrücklicher Anerkennung ihrer persönlichen Integrität die Installateure dieses Mainstreams.

Wenden wir uns am Ende den Konzilsdokumenten selbst zu. Die für die Bibelwissenschaften gedachte Publikation “Dei verbum” ist eine wohltemperierte Schrift über die Aufgaben der Exegese. Sie ist offensichtlich dazu gedacht, Bischöfe und nicht-exegetische Professoren zu beruhigen. Denn sie enthält viele schöne Aussagen über die Heilige Schrift und freundliche Details über das Tun der Ausleger, die spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa jedem Besucher eines exegetischen Seminars geläufig waren. Aber das Konzil war ja doch nicht nur für Mittel- und Nordeuropa bestimmt! Wenn man das bedenkt, erfährt man aus diesem freundlichen Dokument vieles über den Herzschlag der Kirche gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Dann aber gibt es Fälle, wie die Aussagen zum “allgemeinen” und “besonderen” “Priestertum”, die irreführend gewirkt haben, weil Protestanten und andere meinten, damit des Priestertum der Frauen begründen zu können.

In der Tat verschleiert das lateinische Wort “sacerdotium” hier Tatbestände, die erst angesichts des griechischen und hebräischen Textes in ihrer gottgegebenen Unvereinbarkeit erkennbar werden. An vielen Konzilstexten fällt sofort ins Auge, dass sie in der Menge der Zitate einer eher quantitativ als qualitativ wertenden Auslegung das Wort redeten und sich im Ganzen nicht als “die radikale Erneuerung”, sondern “als die fundamentale Bestätigung” katholischer Theologie wahrgenommen haben.

So bleibt ein etwas zwiespältiger Eindruck. Das Konzil hat auf diesem Gebiet eine neue Epoche eingeleitet, die den Charakter eines Übergangs hatte und nun hoffentlich bald durchgestanden ist.

Dei verbum: Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung

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