‘Christliche Politik neu definieren’?
“Zerfasert das moralische Zeugnis der Kirche, wird es bald gar nicht mehr wahrgenommen.“
– Offener Brief zu einem Plädoyer von Hermann Kues. Von Andreas Püttmann
Bonn, kath.net, 30. Oktober 2012
Der Bundestagsabgeordnete Hermann Kues, Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, Vorsitzender des “Kardinal-Höffner-Kreises” und langjähriger Sprecher für politische Grundfragen im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, ist mit einem Artikel im Internetportal “kreuz-und-quer” hervorgetreten, in dem er vorschlägt, “christliche Politik” neu zu definieren: Der Publizist Dr. Andreas Püttmann antwortet ihm mit einem Offenen Brief:
Sehr geehrter Herr Kues, erwartungsvoll habe ich mich Ihrem Text auf “kreuz-und-quer” zugewandt, der im Titel nichts weniger als eine “Neudefinition” christlicher Politik verspricht. Wahrhaftig eine Aufgabe für Titanen! Ich habe mich als Politologe und Christ auch schon um das Thema bemüht, aber immer nur in Form bescheidener Annäherungen an ein auf die Geistesgaben der “Erkenntnis” und der “Unterscheidung” angewiesenes Menschenwerk, das ich vorsichtiger “christlich orientierte” oder “inspirierte” Politik nenne. “Christliche Politik” zu “definieren”, das überlasse ich lieber Fundamentalisten, die alles immer genau wissen und kennen, vor allem die Gedanken Gottes. Obwohl diese doch, wie die Heilige Schrift uns sagt, “so hoch wie der Himmel über der Erde” über unsere Gedanken erhaben sind. Ich wundere mich, ausgerechnet Sie, zumindest begrifflich, in dieser Gesellschaft zu finden.
Aber ich stolpere auch über andere Aussagen Ihres Textes. Zum Einstieg behaupten Sie: “Ehemals geradlinige Wege vom kirchlichen und (jugend-)verbandlichen Engagement in die Politik hinein sind versperrt oder verschüttet.”
Sicher, sie werden seltener gegangen als früher und nicht mehr so vorhersehbar in die C-Parteien. Aber wer oder was “versperrt”? Ist das nicht eine gewagte Fremdattribution, mit der wir jungen Leuten den Blick auf ihre eigene Verantwortung verstellen? Wir leben in einem freien Land, und jedem steht es offen, sich in Parteien oder in anderer Weise politisch zu engagieren.
Übrigens zählen laut Allensbach 14 Prozent der religiösen jungen Deutschen (16-29 J.) die “aktive Teilnahme am politischen Leben, politisch aktiv sein” zu dem, “was wichtig im Leben ist”, unter den nicht religiösen nur 5 Prozent. Das ist doch eine schöne Entsprechung zum biblischen: “Suchet der Stadt Bestes”. Und potentiell ein struktureller Vorteil Ihrer Partei. Die Junge Union ist ja auch gross, vital und deutlich christlich ausgerichtet.
Allerdings scheint sich im geistig-geistlichen Fluidum kirchlicher Jugendverbände etwas verändert zu haben seit den 70er, 80er Jahren, das auch ihre politisch-ethischen Koordinaten verschob und manchen katholischen Jungfunktionär bei SPD und Grünen landen liess. In freier Selbstbestimmung, und nicht weil der Weg zu den Christdemokraten von irgendwem “versperrt” worden wäre.
Neulich traf ich so eine sozialdemokratisch-katholische Person, die in bester Laune locker-flockig erzählte: “Mein Sohn hat andere Interessen als Kirche”. Was mich erschrak: Nicht der leiseste Ausdruck von Bedauern, Sorge oder Schmerz huschte dabei über ihr fröhliches Gesicht. Von Kirche redete sie als einem “Interesse”, eben wie für andere Fussball, Computerspiele oder Goldfische. Offenbar konnten die Eltern ihrem Sohn nicht vermitteln, dass Glaube und Kirche etwas aussergewöhnlich Lebensrelevantes, existenziell Unverzichtbares sind, das unsere begrenzte Wahrnehmung von Wirklichkeit und unseren Sinnhorizont fundamental weitet.
Täuscht mein Eindruck, dass dieses Vermittlungsproblem in “reformkatholischen”, “romkritischen” Elternhäusern häufiger vorkommt? Warum gehen aus ihnen auch offensichtlich weniger Priesterberufungen hervor? Warum ist der liberale Katholizismus missionarisch so wenig fruchtbar? Ist die in seinen ewigen Zölibats-, Frauendiakonats- und Kirchenstrukturdebatten erschlaffte transzendente Triebfeder vielleicht mit ursächlich für ein erschlafftes Engagement in den C-Parteien? Immerhin nannte ein bedeutender Soziologe aufgrund von Umfragebefunden zum “Leben nach dem Tod” die SPD 1979 die “Partei der Sterblichen” und die Union die der “Unsterblichen”. Unter der Käseglocke reiner Diesseitigkeit atmet eben auch Politik einen anderen Geist. Und wenn verweltlichte Kirchen transzendenzvergessen fast nur noch um “Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung” kreisen, führt der Weg junger Christen natürlich eher in Parteien, die ein besonders soziales, pazifistisches und ökologisches Image haben: SPD und Grüne.
Doch kaum hat der Papst den deutschen Katholiken eine “Entweltlichung” angeraten, empört sich ihr Hauptamtlichenmilieu und interpretiert ihn teilweise regelrecht böswillig falsch im Sinne von “Rückzug”, “Abwendung”, “Weltflucht”. Das meint Benedikt XVI. ausdrücklich nicht, sondern ein Freiwerden aus innerer Distanz, gegen die Versuchung sich anpassen und korrumpieren zu lassen. Reflexhafte Abwehr und “sprungbereite Feindseligkeit” gegenüber dem eigenen Kirchenoberhaupt generieren keine Freude am Katholischsein. Dabei verkörpert Josef Ratzinger auch noch Deutschlands beste Traditionen: Bildung, Sprachkunst, wissenschaftliche Exzellenz, Frömmigkeit, Beharrlichkeit, Mut und aufopfernden Fleiss. Wo trotzdem ständig genörgelt wird, kann die Beheimatung junger Leute in der Kirche schwerlich gelingen, und damit trocknet auch das Reservoir für Christen-Nachwuchs in der Politik aus.
Ihre zweite Klage lautet: “Seit der Reform des Abtreibungsparagraphen 218 bis heute wird christlichen Politikern, die nach einem breiten gesellschaftlichen Konsens suchen, von kirchlicher Seite vorgehalten, unerlaubter Weise hinter lehramtliche Festlegungen von hoher Verbindlichkeit zurück zu fallen.” Ich habe durchaus Sympathie für eine pragmatische Logik des “kleineren Übels”, jedenfalls bis zu einer gewissen Grenze, etwa analog zum Tabu unseres Grundgesetzes, die Grundrechte nicht in ihrem “Wesensgehalt” antasten zu lassen. Im “Donum Vitae”-Streit anerkenne ich starke Argumente auf beiden Seiten, aber “in dubio” auch Roms Recht, verbindlich zu entscheiden. Wem als Einzelnem jedoch sein Gewissen zur Rettung ungeborener Kinder anderes gebietet, nämlich einen “Fuss in der Tür” des Systems straffreier Abtreibung zu behalten, den kann ich nicht verurteilen. Jedenfalls solange er nicht durch sein öffentliches Auftreten oder vertrauliches Beraten dem Eindruck Vorschub leistet, es gäbe so etwas wie einen katholisch zertifizierten Schwangerschaftsabbruch.
In etwas anderem ihres Satzes sehe ich allerdings einen Pferdefuss: Es ist sicher nicht Aufgabe christlicher Politiker, bei diesem Thema vor allem einen “breiten gesellschaftlichen Konsens” zu suchen. Konsensfähigkeit ist kein Erkennungszeichen Gottes und seiner Zeugen in einer “gefallenen” Welt. Vorrangig haben christliche Politiker hier die Pflicht der unzweideutigen Unterscheidung von Recht und Unrecht, wie es die Würde (Art. 1 GG) und das unantastbare Recht auf Leben (Art. 2 GG) des Embryos gebieten, sowie die Pflicht unermüdlicher Überzeugungsarbeit gemäss ihrem Auftrag der “Mitwirkung an der Willensbildung” (Art. 21). Dann folgt die Aufgabe, Mehrheiten für die als richtig erkannte, zumindest aber für eine noch vertretbare Position zu organisieren. Sollte sogar ein “breiter Konsens” zu erzielen sein: umso besser. Der Normalfall ist dies in freien Gesellschaften nicht. Ein christlicher Politiker, der sich nicht in erster Linie seinen ethischen Überzeugungen verpflichtet erklärt, sondern sofort mit dem “breiten Konsens” kommt, irritiert mich.
In Ihrem Text taucht der Begriff “Würde” zwar auf, aber nicht als Würde jedes menschlichen Wesens, sondern nur so: “Gute Kompromisse haben ihre eigene Würde”. Mit dem Begriff “Würde” würde ich sorgsamer umgehen. Und bei diesem Thema erst recht nicht so einseitig. Hier zeigt sich die ganze Schieflage Ihres Beitrags. Sie wird vollends zur Schlagseite durch Ihre Rede von den “beispielhaften humanen Lösungen”, die deutsche Politik beim Embryonenschutz, bei Stammzellforschung und PID gefunden habe. Aus diesem Selbstlob spricht entweder Distanzverlust oder ein Mangel an sprachlicher Sensibilität. Solange der unsicherste Ort für ein ungeborenes Kind in Deutschland der Leib der eigenen Mutter und ein Down-Syndrom ein akzeptierter Abtreibungsgrund ist, käme mir das Prädikat “beispielhaft human”, egal in welchem Vergleich, nie über die Lippen. Ich finde es geradezu obszön, wenn im Hintergrund Hunderttausende Tötungen stehen.
Dann fragen Sie, scheinbar die gegnerische Position referierend: “Wäre es nicht einfacher (und ist es nicht sogar geboten), sich als christlicher Politiker auf die verbindliche kirchliche Position zurück zu ziehen und sich der Debatte zu entziehen?” Als wenn dies eine reale Devise für irgendjemanden wäre! Wer von denen, die “verbindliche kirchliche Positionen” vertreten, entzieht sich denn der Debatte? Am wenigsten doch wohl jene bespöttelten “Lebensschützer”, die in Fussgängerzonen jedermann Rede und Antwort stehen und sogar an Ständen auf Katholikentagen befürchten müssen, angepöbelt zu werden. Auch nicht, um ein politisches Beispiel zu nehmen, Ihr Fraktionskollege Norbert Geis. Ich bin nicht immer seiner Meinung, wäre aber angesichts seiner gewissenhaften, unerschrockenen Loyalität zu kirchlichen Lehren nie so unfair, ihm (oder eben seinesgleichen) die Unterstellung unterzujubeln, er “entziehe sich der Debatte”. Wieso wurde er denn, anders als Sie, so oft in TV-Diskussionsrunden eingeladen, wenn es um katholische Positionen ging? Nicht Leute wie er haben sich “entzogen”. Man könnte schon eher sagen, dass sich andere mangels Profil der öffentlichen Aufmerksamkeit “entzogen” haben. Wenn Ihre (kirchen-)politische Freundin Annette Schavan sich auf einem CDU-Parteitag gegen das Votum des gesamten Episkopats und mehrerer evangelischer Landesbischöfe zur Vorkämpferin einer mittels Stichtagsverschiebung erleichterten Stammzellforschung macht, dann “entzieht” sie der pluralistischen Debatte auch etwas: eine wenigstens hier einmal greifbare Klarheit des katholischen Zeugnisses für eine “Kultur des Lebens”.
Zu dieser tragen übrigens auch die katholischen Beratungsstellen für Schwangere bei, die in ihrem Text indirekt als “inadäquates Beratungsangebot” herabgesetzt werden. Denn Ihre Rede vom “adäquaten kirchlichen Beratungsangebot” bezieht sich im Kontext des Ausstiegs von 1998 offensichtlich nur auf Einrichtungen, die den Schein ausstellen, der zur straffreien Tötung berechtigt.
Sie warnen davor, die Kirche dürfe nicht nur “zu ganz wenigen – zentralen – Fragen wie dem Schutz des ungeborenen Lebens äusserst pointiert Stellung” nehmen, “darüber hinaus aber christliche Positionen kaum mehr in die Debatte” einbringen. Das hielte auch ich für falsch. Aber sollten Sie damit eine bereits eingetretene Realität oder Tendenz meinen, dann leben wir offenbar in unterschiedlichen Welten. Sind Sie nicht im Verteiler der deutschen Bischofskonferenz und erhalten regelmässig alle Stellungnahmen? Reicht Ihnen die Breite der Themenpalette etwa nicht? Ich finde sie so reichhaltig, dass ich mich manchmal meines Staatsrechtsprofessors erinnere, der meinte, die Kirche dürfe nicht “zu allem ihren Senf geben”. Aufmerksamkeit ist ein rares Gut, und Inflation entwertet das Einzelstück.
AuSSerdem: Haben Sie in den letzten Jahren von der deutschen katholischen Kirche tatsächlich etwas “äusserst Pointiertes” zur Abtreibung vernommen? Etwa vergleichbar der Aussage des gerade gefeierten Zweiten Vatikanischen Konzils, dass Abtreibung ein “verabscheuungswürdiges Verbrechen” sei? Ich nicht. Ich kann mich auch nicht erinnern, wann der Schutz ungeborener Kinder zuletzt Kernthema der kirchlichen “Woche für das Leben” war, oder wann ich im Sonntagsgottesdienst eine Predigt oder Fürbitte dazu gehört hätte. Aber vielleicht ist das in Ihrem Wahlkreis, in Berlin und im Zentralkomitee ja ganz anders.
Im letzten Absatz behaupten Sie: “Die Politik kann nichts ‚verordnen’, was nicht letztlich von den Menschen auch mitgetragen wird.” Klingt gut, vor allem wegen “mittragen” und “Menschen”. Ich würde allerdings von Politikern gern als “Bürger” angesprochen. Wir befinden uns in der demokratischen “res publica”, wo sich Bürger, Abgeordneter und Regierungsmitglied dank des Bürgerstolzes der “citoyens” von 1789 auf gleicher Augenhöhe begegnen können und nicht im paternalistisch-betulich “menschelnden” Therapeutenton. Aus meinem Menschsein sollen sich Politiker heraus halten, für sie bin ich Bürger, zusammen mit anderen “Bevölkerung”, “Volk” oder gern auch “Leute”.
Zur Hauptsache: Wenn Politik nur tun könnte oder dürfte, was “von den Menschen mitgetragen wird”, dann hätte Adenauer nicht die Wiederbewaffnung, Kohl nicht die Nachrüstung und den Euro, Schröder nicht die “Agenda 2010” und Merkel/Müntefering nicht die Rente mit 67 durchsetzen dürfen. Nehmen Sie sich an Ihrem CDU-Gründungsvorsitzenden ein Beispiel, der sagte: “Ich verstehe die Bevölkerung nicht. Erst sind sie gegen mich, dann sind sie für mich, und dabei mache ich doch immer die gleiche Politik“.
Übrigens: Eine “Neudefinition” des “klassischen Konzepts” von “christlicher Politik” konnte ich in Ihrem Text nicht finden. Das klerikalistische Missverständnis davon ist schon lange passé, und die vom Konzil anerkannte “richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten” muss nicht zum zweiten Mal erfunden werden. Man darf sie auch nicht um das “iusta” verkürzen. In ethischen Fragen kann die Eigenständigkeit katholischer Politiker gegenüber dem kirchlichen Lehramt immer nur eine relative sein und nicht schrankenlos.
Zerfasert das moralische Zeugnis der Kirche, wird es bald gar nicht mehr wahrgenommen. “Wir haben Gott so gut gemacht, dass er mit allem einverstanden ist – und es nachher egal ist, ob es ihn überhaupt gibt”, sagte Erzbischof Jean-Claude Hollerich am Donnerstag bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Luxemburger Universität. Ich bin sehr für den Gewissensvorbehalt jedes Christen, auch gegenüber seiner Kirche, wenn es um sein höchstpersönliches Denken und Leben geht, und im Letzten natürlich auch in der Politik. Je öffentlichkeitswirksamer und gemeinwohlrelevanter jedoch eine von der Lehre abweichende Moral – im Grundsatz wie in der praktischen Anwendung – wird, desto schwerwiegender sind die Folgen und die Verantwortung. Um ihr gerecht zu werden, scheinen mir mehr selbstkritischer Ernst und mehr Demut im Auftritt vonnöten, als es in manchen beifallsgewissen Statements katholischer Politiker gegenüber dem kirchlichen Lehramt zum Ausdruck kommt.
Mit brüderlichem Gruss Ihr Andreas Püttmann
Dr. Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Er lebt in Bonn.
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