Was heisst Fortschritt?

“Fortschrittlich”, “progressistisch”, “konservativ”, “traditionalistisch”

Von Robert Spaemann

In dem Parteienstreit, der zur Zeit das Bild der Kirche verunstaltet, spielen bestimmte Begriffe eine Schlüsselrolle. Es sind Begriffe wie “fortschrittlich”, “progressistisch”, “konservativ”, “traditionalistisch” und “rückschrittlich”. Einige dieser Begriffe werden gern zur Selbstkennzeichnung benutzt, andere als Waffe gegen andere. Alle diese Worte haben es an sich, zweideutig und erklärungsbedürftig zu sein. Wer sie ohne Erläuterung benutzt, klärt in der Regel nicht auf, sondern treibt Propaganda und fischt im Trüben.

So z.B. bedeutet “Fortschritt” eine Veränderung, die als Schritt auf ein erwünschtes Ziel zu verstanden wird. Ausserdem muss man wissen, ob das Ziel gut ist und ob die Schritte wirklich zu ihm hinführen. Darum hat es keinen Sinn zu sagen, eine Veränderung sei deshalb gut, weil sie fortschrittlich sei. Zuerst muss man wissen, was der Massstab für gut und schlecht, für besser und weniger gut ist, ehe man wissen kann, ob eine Veränderung eine Verbesserung, ob also ein Schritt ein Fortschritt ist.

Der Massstab für Fortschrittlichkeit versteht sich für die Kirche eigentlich von selbst: Gott selbst hat ihn geoffenbart durch die Propheten und zuletzt vor fast 2000 Jahren durch Jesus Christus. Fortschritt der Kirche – im ganzen und in jedem einzelnen – kann nur an diesem Massstab gemessen werden. Die fortschrittlichsten Christen sind deshalb die Heiligen. Nur wenn wir diesen Massstab nicht verändern, kann von christlichem Fortschritt die Rede sein. Nur ein unveränderliches Koordinatensystem ermöglicht es uns, die Richtung unserer Bewegung überhaupt festzustellen. Darum muss jeder fortschrittliche Christ “konservativ” und “traditionalistisch” sein. Das heisst, er muss die Überlieferung – die “traditio” – der Apostel sorgfältig bewahren (“conservare”) und weitergeben. “Bleibe bei dem, was du gelernt hast und womit du vertraut bist” (2 Tim 3,14), ermahnt der heilige Paulus den Timotheus. (Das Wort “konservativ” ist ebenso vieldeutig wie das Wort “fortschrittlich”. Seine Bedeutung hängt davon ab, was jemand bewahren will.)

Wenn jedoch die Kirche oder der einzelne Christ sich entfernt haben von dem Ursprung ihres Lebens und ihrer Kraft, müssen sie einen Schritt zurück tun – auch auf die Gefahr hin, als “rückschrittlich” verschrien zu werden. “Kehrt um!” – so beginnt die Predigt des Herrn ebenso wie die Johannes’ des Täufers. “Kehre zurück!” – so spricht Gott immer wieder zu seinem Volk im Alten Bund. “Ich will das Verirrte zurückbringen”, so lautet seine Verheissung (Ez 34,16). Echter Fortschritt macht manchmal Kurskorrekturen notwendig und unter Umständen auch Schritte zurück. Alle Reformen der Kirche waren immer auch Rückgang zu den Quellen. So erklärte das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich, hinter bestimmte Entwicklungen zurückgehen und Ursprünglicheres in Lehre und Liturgie freilegen und fruchtbar machen zu wollen. Es gibt darum nichts Dümmeres als die oft gehörte Parole, niemand dürfe “hinter das Konzil zurück”. Entweder ist das eine Banalität, weil nämlich niemand die Vergangenheit, so wie sie war, zurückholen kann – oder aber es ist falsch, dann nämlich, wenn mit dieser Parole gemeint ist, im Unterschied zu allen anderen Konzilien der Kirche sei das Vaticanum II ein Ereignis, das die Offenbarung Gottes so endgültig und vollkommen zusammengefasst hat, dass von nun an jeder nicht durch diesen Filter gegangene Rückgang zu den Quellen verboten ist. Keinem Konzilsvater ist wohl etwas so Unsinniges eingefallen.

Es gibt aber zu denken, dass diejenigen, die die Parole “Nicht hinters Konzil zurück!” so gern benutzen, das Konzil weniger respektieren als diejenigen, die von ihnen als “konservativ” bezeichnet werden. Sie wählen aus, was ihnen gefällt. Was das Konzil sagt über die Aufgabe des Papstes bei der Ernennung von Bischöfen, über den Zölibat der Priester, über den Vorrang der Jungfräulichkeit vor der Ehe, über die Pflicht der Eheleute, in Fragen der Geburtenplanung der Lehre der Kirche zu folgen, über den Sinn der täglichen Feier der heiligen Messe durch den Priester – auch wenn sie ohne Volk stattfindet -, über das Latein als Sprache der Liturgie, all das stellen sie ungeniert in Frage. Sie messen ihre Idee von Fortschritt nicht an den Massstäben der Kirche, sondern die Kirche an ihrem Massstab von Fortschritt, ohne doch offen auszusprechen, worin anders dieser nun eigentlich bestehen soll, als in der Angleichung an die Massstäbe der Welt. Aber diesen sollen wir uns ja nach den Worten des heiligen Paulus gerade nicht anpassen (Röm 12,2).

Fortschritt und Tradition, ja manchmal sogar ein Schritt zurück, sind darum im christlichen Leben und im Leben der Kirche unzertrennlich, wenn sie richtig verstanden werden. Legitimer Fortschritt ist immer organische Fortentwicklung der Tradition. Der Kirche ist für eine solche organische Fortentwicklung der Beistand des Heiligen Geistes versprochen, der die Kirche immer tiefer in das Mysterium unserer Erlösung einführt. Es ist gerade der sogenannte “Progressismus” in der Kirche, der solchen legitimen, organischen Fortschritt nicht anerkennt und häufig die Quelle gegen den Strom ausspielt. Die Lehrentwicklung der Kirche von der Urgemeinde bis zum Vaticanum I wird mit Misstrauen betrachtet. Sie gilt als Entstellung und Verzerrung der Botschaft Jesu. Ähnliches geschieht, wenn man hinter eine 1500jährige Entwicklung zu angeblichen Urformen der Liturgie zurückkehren möchte und dabei dem gegenwärtigen Zeitgeist auf eine Weise verfällt, über die die Urkirche nur gestaunt hätte. Sie hätte in einem Hochamt oder einer stillen Messe nach dem “tridentinischen” Missale von Pius V. und Johannes XXIII. Geist von ihrem Geist leichter wiedererkannt als in manchen von Urchristennostalgie geprägten Liturgieexperimenten.

Es gibt ein gutes und zuverlässiges Kriterium für die Legitimität einer Liturgiereform, nämlich ob sie begleitet ist von Ehrfurcht und Liebe zur überlieferten Gestalt der Liturgie. So war es mit der tridentinischen Reform Pius’ V: alle Riten der lateinischen Kirche, die älter als 150 Jahre waren, durften weiter bestehen, wurden mit Liebe weiter gepflegt und bestanden teilweise bis vor 20 Jahren. Das Verbot des tridentinischen Ritus ist es, das die Legitimität des reformierten unvermeidlich ins Zwielicht geraten liess. Warum wird nicht die Gegenwart der alten Gestalt der heiligen Messe in jeder Stadt mit Dankbarkeit und Liebe gerade von denen begrüsst, die die neue feiern? Warum wird nicht jeder Priesteramtskandidat von seinen Oberen ermuntert, diese Gestalt von innen heraus kennenzulernen, um an ihr Mass zu nehmen für seine eigene Zelebration? Leider ist das Gegenteil der Fall: entgegen der dringenden Bitte des Heiligen Vaters wird die Feier der Messe im alten Ritus nach Möglichkeit verhindert, mit kleinlichsten Schikanen begleitet, in Quarantäne gesperrt; Priestern, die sie feiern, wird von “fortschrittlichen” Mitbrüdern geraten, doch lieber zu den Schismatikern zu gehen. Wo eine solche geradezu magische Berührungsangst vor der Liturgie unserer Väter und Mütter sowie der meisten unserer Heiligen kultiviert wird, da drängt sich der Schluss auf, dass mit dieser Reform irgend etwas nicht stimmt, dass hier nicht eine lebendige und geliebte Tradition fortgebildet wurde, sondern dass ein Bruch stattfand. Brüche werden mit Erscheinungen erkauft, die die Psychologie “Verdrängung” nennt. Verdrängung erzeugt Angst und schlechtes Gewissen. Das Verdrängte muss gewaltsam ausgegrenzt und abgekapselt werden. Geistigen Fortschritt kann es nur geben, wenn das Verdrängte als Gegenwart der eigenen Herkunft wiedererkannt und zugelassen wird.

Als Kardinal Lustiger in Notre Dame von Paris, als der Bischof von Strassburg in seinem Münster, als Kardinal Ratzinger inmitten der Priesterbruderschaft St. Petrus in Wigratzbad feierliche Hochämter im alten römischen Ritus feierten, da wurden erste Schritte getan, um den Bann der kollektiven Verdrängung zu brechen. Erst wenn er wirklich gebrochen ist, wird der Weg frei für eine Reform, die den Namen Fortschritt verdient.

Der Essay “Was heisst Fortschritt?” ist zusammen mit dem Interview “Der Weg in die Frustration” als Broschüre in der Schriftenreihe der CKJ erschienen, beziehbar über www.apostolat.de

Quelle
Schriftenapostolat im Dienst der Neuevangelisierung
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