Hoffnung in Zeiten des Hungers

Hilfe für die Flüchtlingscamps in der Ogade-Wüste

In den Wirren der Dürrekatastrophe am Horn von Afrika hält ein Missionar an der somalisch-äthiopischen Grenze unbeirrt die Stellung. Er bringt Hilfe in die verloren scheinenden Flüchtlingscamps in der unwirtlichen Ogaden-Wüste. Von A. Thonhauser

Wien, kath.net/Missio.at, 19. Juni 2012

Sand und Buschwerk so weit das Auge reicht. Sechzehn Kilometer von der somalisch-äthiopischen Grenze entfernt: hier liegt Godere. Irgendwann einmal stand an diesem Ort ein stolzes Fort, das Äthiopien von Angreifern aus dem Westen schützen sollte. Geblieben sind Ruinen und ein kleines Dorf aus Ästen und vertrockneten Blättern, das der glühenden Hitze und den heftigen Sandböen die Stirn bietet. Unbegreiflich, wie man unter solchen Bedingungen überleben kann.

Seit die Dürre in dieser Region immer mehr Todesopfer fordert, bekommen die wenigen Familien, die der Wüste in Godere trotzen, Gesellschaft: Mehr als 2.000 Familien, knapp 12.000 Menschen, schlugen rund um das Fort buchstäblich ihre Zelte auf: ein paar Äste gebogen und die eigenen Kleider darüber gespannt. Sie kommen aus Somalia und Äthiopien, manche sind Nomadenfamilien, deren Tiere der Dürre zum Opfer fielen, andere Bauern, die dem Wüstenboden kein Essen mehr abringen können.

Wären sie nicht von aussen mit Grundnahrungsmitteln versorgt worden – Godere hätte sich binnen Tagen in eine Leichenstätte verwandelt. “Bevor die ersten Hilfslieferungen eintrafen, starben täglich mindestens drei Menschen”, erzählt Goge. Er ist der Dorfvorsteher. Seine Hütte aus vertrockneten Buschbündeln und Plastikplanen befindet sich hinter den Ruinen des alten Forts. Er hilft den wenigen Hilfsorganisationen, die ihren Weg in dieses Flüchtlingslager gefunden haben, bei der Koordination ihrer Arbeit: Wie viele Männer, Frauen, Kinder? Was wird benötigt? Wie viele Neuankömmlinge? Bis zu 90 Menschen erreichen dieses Notlager pro Tag, manchmal sind es drei Mal so viele. Sie haben kein Wasser, kaum Kleidung, keine Schuhe, kein Essen, keine Perspektive.

Viele Mütter kommen ohne Männer. Mit sich bringen sie oft bis zu zehn Kinder. Die Väter seien zu Hause geblieben, gestorben. Dass viele wahrscheinlich auch bei den fundamentalistischen Al Shabab Milizen Zuflucht nahmen, um sich und ihre Familien irgendwie am Leben zu erhalten, wird verschwiegen. Man will nicht noch mehr Ärger. Und irgendwer hört immer mit. Das äthiopische Militär ist omnipräsent. Selbst hier draussen in der Wüste.

Es gibt keinen Schatten, ausser den selbst gebauten Kugelzelten. Ständig blasen heftige, heisse Sandböen über die behelfsmässigen Unterschlüpfe und der Staub sammelt sich in Haaren, Augen, Mund und bleibt an der Haut kleben. Tagsüber hat es hier 40 Grad und mehr, und in der Nacht fällt die Temperatur. “Wir brauchen Kleider und Schuhe”, erklärt Lul, die mit ihren drei Kindern Luc, Ahmed und Nemo bereits seit drei Monaten in Godere ist. Sie hatte nichts zu essen, und in ihrer Region war es durch die Al Shabab Milizen gefährlich geworden. Ihr Mann und sie entschlossen sich, nach Äthiopien zu gehen, zu Fuss durch die Wüste.

Was sie heute schon gegessen hätte, wird Lul von Father Christopher Hartley gefragt. “Nichts!” Aber sie werde am Abend, also in drei, vier Stunden noch einen Brei zubereiten. Ein wenig ist noch von den Hilfsrationen übrig, die vor einem Monat ins Lager gebracht wurden. Father Hartley notiert sich ihre Antwort in seinen grossen Schreibblock. An welchen Nahrungsmitteln es vor allem fehle, will er wissen. Lul möchte Milch haben – und deutet auf ihre Kinder. Ob sie wisse, wie man Milchpulver zubereitet? Lul nickt. Aber es gibt hier eben keines. Wieder schreibt Hartley in seine Liste. Dann erklärt er: “Viele Hilfsorganisationen sind sehr vorsichtig mit Milch, da viele Frauen sie verwenden, um bereits nach einem Monat abstillen zu können. So werden sie schneller wieder schwanger.” Das sei ein wichtiger kultureller Aspekt dieser Region, so Hartley: Kinder bedeuten Reichtum. Mit schwarzem Hemd und weissem Kollar ist der Priester ein ungewohnter Anblick im Flüchtlingslager.

Nicht nur hier, auch in der nächstgrösseren Stadt Gode, wo er seine Missionsstation aufbaut. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung sind in dieser Region Muslime und die übrigen gehören der äthiopisch-orthodoxen Kirche an. Father Hartley feiert jeden Tag um sechs Uhr in der Früh die heilige Messe. Zumeist alleine. An Sonntagen kommen manchmal Mitarbeiter internationaler NGOs und einige Somalis vorbei. Seit vier Jahren ist der Spanier mit englischen Wurzeln als Missionar in Gode.

Einst war er ein enger Vertrauter von Mutter Teresa. Nach einigen Jahren als Pfarrer in New York und später in den Zuckerrohrfeldern der Dominikanischen Republik entschied er sich, nach Afrika zu gehen. “Ich wollte Jesus Christus in der Eucharistie an jene Orte bringen, an denen es noch keine Präsenz der Kirche gibt. Und ich wollte bei den Ärmsten der Armen sein”, so der Missionar. Dass ihm vor vier Jahren alle – auch der für ihn zuständige Bischof von Harar – abrieten, nach Gode zu gehen, spornte Hartley sogar an: “Man sagte mir, es sei unmöglich, dort als Pfarrer tätig zu sein. Für Gott ist nichts unmöglich. Und hier bin ich. Ich lebe und feiere täglich die heilige Messe.” Der nächste Gottesdienst in östlicher Richtung wird in Indien zelebriert. Dazwischen liegen Somalia und der indische Ozean.

Wer am Flughafen von Gode ankommt, dem wird rasch bewusst, dass er das Ende der erschlossenen Welt erreicht hat. Strom gibt es nur zwischen sechs und zwölf Uhr abends, zum Telefonieren braucht man Satellitenanbindung. Die wenigen Autos, die es hier gibt, gehören NGOs und dem Militär. Die Somali-Region ist Kriegsgebiet. “Wenn man einmal in den Flüchtlingscamps entlang der Grenze war, hält man Gode für New York City”, relativiert der Priester. Die Camps befinden sich rund 150 Kilometer von der Stadt entfernt. Der sicherste Weg ist querfeldein durch Wüste und Steppe. Die normale Strasse – eine unbefestigte Schotterpiste, auf der man höchstens 30 km/h fahren kann – ist zu unsicher.

Rebellengruppen und Al Shabab-Milizen liefern sich rund um die Stadt blutige Gefechte. NGOs werden immer wieder von Banditenbanden überfallen.
Father Hartley ist noch nie etwas passiert: “Ich habe viele Freunde unter den Einheimischen, die mich warnen, wenn es unsicher wird.” Hartley steht in gutem Einvernehmen mit den örtlichen Behörden: Er bekam sogar sieben Hektar Land geschenkt. Hier baut er nun eine Ernährungsstation für Kinder, die gleichzeitig eine Schule ist. Die Kleinen erhalten eine Grundbildung, während ihre Eltern Näh-, Mechaniker- und Tischlerkurse besuchen können. Damit Kinder und Jugendliche überhaupt zur Schule gehen können, bekommen sie Frühstück und Mittagessen – so fallen sie ihren Familien nicht zur Last und diese können leichter auf die Arbeitskraft der Kinder verzichten.

Um den Menschen hier noch besser helfen zu können, träumt der Missionar davon, die Missionarinnen der Nächstenliebe, den Orden, den Mutter Teresa gründete, nach Gode zu bringen. Auch für sie gäbe es genügend Platz in diesem Areal: Ein Waisenhaus und eine Krankenstation würden dringend benötigt.
Zuerst aber ziehen auf Initiative des Missionars und mit Hilfe von Missio vier Mutter-Teresa-Schwestern in das Flüchtlingscamp nach Godere, um den Menschen vor Ort beizustehen. Der nächstgrössere Ort ist 70 Kilometer entfernt. Man erreicht ihn nur per Jeep und der Weg durch die Wüste ist gefährlich. Jene NGOs, die bereits vor Ort helfen, bleiben nicht über Nacht in Godere. Zu unwirtlich ist die Wüste hier draussen. Father Hartley will gemeinsam mit den Schwestern bei den Flüchtlingen ausharren: als Schutz für die Schwestern, und um für sie die tägliche heilige Messe zu feiern.

“Dort”, sagt er und deutet auf ein paar alte Ziegelmauern inmitten des alten Forts in Godere, “dort werden wir das Kloster für die Schwestern einrichten, wir müssen nur das Dach decken sowie einen Wassertank und einen Stromgenerator herbringen.” Father Hartley weiss, wovon er spricht. Mit örtlichen Partnern baute er in dieser Region bereits eine Schule für vier Dorfgemeinschaften. Freunde aus Spanien halfen ihm bei der Finanzierung. “Die Arbeit ist zwar billig, aber gute Baumaterialien sind hier unerschwinglich”, erklärt der Priester.

Dafür erhält er viel einheimische Unterstützung für seine Idee, die Schwestern vor Ort einzuquartieren. Die Missionaries of Charity sind seit 30 Jahren in Äthiopien und werden für ihre Arbeit geschätzt. Gerade für die vielen Frauen unter den Flüchtlingen seien die Schwestern wichtige Ansprechpartner, ist Hartley überzeugt.

Zusätzlich will er eine einfache Konstruktion bauen lassen, die tagsüber mehreren hundert Menschen Schatten spendet. Die Masse und den Platz dafür hat er bereits in seinen grossen Block eingetragen.

Auch Lehrer wird er hierher bringen: “Hier sind tausende Kinder und Jugendliche, die nichts zu tun haben: Da können wir ihnen auch Mathematik, Lesen und Schreiben beibringen.” Während Father Hartley seine Visionen für diesen unwirtlichen Ort ausmalt, breitet sich ein gütiges Lächeln über sein Antlitz.

“Das ist es, was ich von Mutter Teresa gelernt habe: Die Armen nehmen in der Kirche den wichtigsten Platz ein. Und Jesus will von mir, dass ich den Ärmsten helfe, diesen Platz auch tatsächlich einzunehmen.” Dann nimmt er die Hand von Lul, die ihren jüngsten Sohn an der Hüfte trägt und streicht dem kleinen Nemo sanft über die Stirn. Luls vom Sand verkrustetes Gesicht beginnt zu strahlen. Der Priester bittet die Frau, ihre Hoffnung nicht zu verlieren und stark zu bleiben. An diesem Tag wird Lul nicht hungrig zu Bett gehen.

Aber für Father Hartley ist es nicht genug, Menschen zu füttern und sie medizinisch zu versorgen: Gerade die Armen verdienten die beste Behandlung. “Und”, fügt der Missionar mit einem Augenzwinkern hinzu, “wäre es nicht wunderbar, wenn am Himmelstor jene Ausgestossenen uns erwarten würden und sagten, ,Petrus, den lass hinein, den kenne ich – er hat mir nicht nur geholfen, er war auch ein echter Freund’.”

SOS-Kinderdorf in Gode
Gode: Äthiopien

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