Plagiat erwünscht

Ein Blick auf die Friedenspolitik der Nachfolger Petri in Lateinamerika

Die Tagespost, 21. März 2012, von Ulrich Nersinger

Papst Benedikt XVI. reist am Freitag auf einen Kontinent, mit dem sich die Päpste seit mehr als einem halben Jahrtausend eng verbunden fühlen. Aber nicht nur seelsorgerlich, als Oberhirten der katholischen Kirche, hinterliessen sie dort ihre unauslöschbaren Spuren, auch politisch waren und sind sie in Lateinamerika präsent – in unseren Tagen nicht aus einem Eigeninteresse heraus, sondern in der Verpflichtung, für den Frieden unter den Völkern einzutreten und hierfür den erforderlichen Beitrag zu leisten.

1962 stand die Welt am Rande eines Krieges. Die Sowjetunion hatte auf Kuba, in unmittelbarer Nähe zu den Vereinigten Staaten, Raketen mit atomaren Sprengköpfen aufstellen lassen. Die Regierung in Washington bekundete ihre Bereitschaft, dieser Provokation und Bedrohung mit einem Präventivschlag zu begegnen. Auf dem Höhepunkt der Krise überbrachten Kuriere des Heiligen Stuhles den diplomatischen Vertretungen der Amerikaner und Sowjets in Rom einen Friedensappell Johannes’ XXIII. (1958–1963). Chruschtschow gestand später ein, die Botschaft des Papstes sei für ihn “der einzige Hoffnungsschimmer” gewesen. Am 26. Oktober 1962, dem Tag, an dem sich der sowjetische Staats- und Parteichef bereit erklärte, das Zerstörung und Tod verheissende Raketenarsenal aus Kuba zurückzubeordern, druckte die “Prawda”, das publizistische Sprachrohr Moskaus, den Appell des Papstes ab.

Sechzehn Jahre später konnte der Heilige Stuhl einen weiteren Erfolg seiner friedensstiftenden Politik in Lateinamerika verbuchen. Papst Johannes Paul II. (1978–2005) musste schon in den ersten Monaten seines Pontifikates als Schlichter in einem drohenden Krieg tätig werden. 1978 war ein Streit zwischen Argentinien und Chile eskaliert; beide Länder erhoben Anspruch auf eine Inselgruppe südlich des Beagle-Kanals und hatten Flottenverbände dorthin entsandt. Der italienische Kurienkardinal Antonio Samore wurde von Johannes Paul II. beauftragt, eine gerechte und friedliche Lösung herbeizuführen, was dem Purpurträger in langen und schwierigen Verhandlungen auch gelang.

Bereits über hundert Jahre zuvor hatte der Heilige Stuhl in einem Konflikt zwischen England und Venezuela eine Friedensmission übernommen. Obschon der Papst nach dem Verlust des Kirchenstaates (1870) über kein eigenes Staatsterritorium mehr verfügte, war seine Präsenz in der Welt der Politik weiterhin gefragt. 1885 ersuchte ihn Bismarck, im Streit um die Karolinen-Inseln (Pazifik) als Schiedsrichter zwischen Deutschland und Spanien zu agieren. Leo XIII. gelang es, einen für beide Seiten annehmbaren Kompromiss zu erreichen, der dem Ansehen des Papstes international neue Geltung verschaffte. Der Erfolg Roms machte auch in Venezuela Eindruck.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Kolonialmacht England der Republik Venezuela Gebiete des Orinoco zu Gunsten von Britisch-Guayana streitig gemacht. Nachdem es zu einem Bruch der diplomatischen Beziehungen des südamerikanischen Staates zu England gekommen war, wandte sich General Joaquin Crespo, der Präsident Venezuelas, an Papst Leo XIII. mit der Bitte, zwischen den beiden Ländern zu vermitteln. Crespo schlug dem Heiligen Stuhl vor, sich für diese heikle Mission des Apostolischen Delegaten in Venezuela, Monsignore Giulio Tonti, zu bedienen. Der Papst stimmte zu, und der Prälat begab sich unverzüglich nach Rom, um sich dort mit den Verantwortlichen im Päpstlichen Staatssekretariat ins Einvernehmen zu setzen. Dann fuhr er nach London, wo er sich mit Eifer und Takt um eine Lösung des Konflikts bemühte.

Bei einem ersten Gedankenaustausch mit dem englischen Aussenminister erfuhr Msgr. Tonti, dass dessen Regierung auf keinen Fall bereit war, den besetzten Teil des Orinocogebietes zu räumen. Tonti bemühte sich darzulegen, dass für Venezuela dieser Konflikt keineswegs eine Angelegenheit von untergeordneter Bedeutung sei, sondern dieser in kaum vorstellbarem Masse die Identität des lateinamerikanischen Staats bedrohe. In einer Lageeinschätzung für Kardinalstaatssekretär Rampolla del Tindaro hatte Monsignore Tonti deutlich herausgestellt: “Wollte eine Regierung von Venezuela auf einer Grundlage verhandeln, die dem Lande den ausschliesslichen Besitz des Orinocogebietes entziehen würde, so wäre sie nicht fähig, sich noch länger an der Macht zu halten: Sie würde in der ganzen Republik zum Gegenstand des öffentlichen Abscheues werden und eine Revolution, einen Bürgerkrieg heraufbeschwören mit all seinen furchtbaren Folgeerscheinungen, wodurch der Konflikt nur noch verschärft würde.”

Grosse Hoffnungen setzte Tonti auf George Frederick Samuel Robinson, den Marquess of Ripon, den ehemaligen Grossmeister der “United Grand Lodge of England”, der zum Katholizismus konvertiert war und in der Regierung Ihrer Majestät das Amt des Kolonialministers innehatte. Der Argumentation des päpstlichen Diplomaten und seiner Vorschläge zur Beilegung des Konflikts liehen der Aristokrat und seine Ministerkollegen höflich ihr Ohr, sie konnten sich ihnen jedoch bei allem Wohlwollen nicht anschliessen. Die Mission Giulio Tontis schien gescheitert. Lord Ripon schrieb am 26. November 1894 an Kardinal Herbert Vaughan, den Erzbischof von Westminster: “Monsignore Tonti tat zu Gunsten der Ansprüche Venezuelas alles, was im Bereiche seiner Möglichkeiten lag; er hat dessen Sache mit kraftvollem Nachdruck vertreten. Wenn seinen Bemühungen der Erfolg versagt blieb, so ist dies keineswegs auf einen Mangel an Klugheit und Eifer seinerseits zurückzuführen, sondern vielmehr auf die grossen Schwierigkeiten, die mit der Angelegenheit verbunden sind.”

Die Regierung Venezuelas war ähnlicher Auffassung. Ihr Aussenminister Ezequiel Rojas telegrafierte am 25. Februar 1895 an Giulio Tonti: “Die Regierung von Venezuela ist Euer Exzellenz zu grossen Dank verpflichtet für die ausserordentliche Klugheit und Aufopferung, womit Euer Exzellenz die Vorschläge der Regierung von Venezuela und den Auftrag des Heiligen Vaters bei der englischen Regierung vertreten haben”. Der Präsident der Republik Venezuela betonte drei Tage später in einem Schreiben an Papst Leo XIII.: “Venezuela und seine Regierung werden stets in aufrichtiger Hochschätzung sich des Schrittes erinnern, den Euer Heiligkeit zur Beilegung dieser schwierigen Angelegenheit getan haben. Er war für uns von grösster Bedeutung und deshalb werden wir uns seiner stets mit gleicher Dankbarkeit erinnern, als hätte er jenen Erfolg gehabt, den Euer Heiligkeit zu erreichen bemüht waren und den die Republik so sehnsüchtig erwartet hat”.

Nur wenige Jahre später musste England sich im Orinoco-Konflikt einer anderen Macht beugen, die nicht wie der Heilige Stuhl als moralische Instanz auftrat, dafür aber ihr politisches Gewicht in die Waagschale warf: die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA wandten auf diesen Streitfall die Monroe-Doktrin an, die eine Unabhängigkeit amerikanischer Staaten von den europäischen Mächten feststellt und das Ende aller Kolonialisierungsbestrebungen fordert. Aufgrund eines Schiedsspruches, der am 3. Oktober 1899 in Paris unterzeichnet wurde, musste England der Republik Venezuela den Besitz des strittigen Gebietes am Orinoco zugestehen. Das Dokument, das in vielen Punkten die Auffassungen Monsignore Tontis wiedergab, bisweilen sogar wortwörtlich seine Ausführungen erkennen liess, bekam auch der Papst zu Gesicht. Als Kardinal Rampolla gegenüber Leo XIII. von einem dreisten Plagiat sprach, erwiderte ihm der greise Pontifex: “Wenn es damit dem Frieden gedient hat, soll es Uns recht sein.”

1985PapstJohannesPaulII. In Venezuela und weiteren südamerikanischen Ländern
UnsereLiebeFrau von Coromoto Venezuela
Teresa de los Andes: Chile: Seligsprechung Vatikan
Teresa de los Andes Heiligenlexikon

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel