Die dramatische Identitäts- und Kulturkrise des Abendlandes

Eine Perle des Lehramts Benedikts XVI.

Der Mythos von Ikarus und die Notwendigkeit von Massstäben, die aus einer tieferen Einsicht stammen. ‚veluti si Deus daretur – als ob es Gott gäbe’ und die Verantwortung der Forschung.

Rom, kath.net/as, 05.12.2011, von Armin Schwibach 

Am 21. Oktober 2006 eröffnete Papst Benedikt XVI. das akademische Jahr der Päpstlichen Lateranuniversität und hielt zu diesem Anlass eine bedeutende und wegweisende Ansprache – eine der vielen Perlen, die diesen Pontifikat schmücken, ausgestalten und in seiner inneren Kohärenz aufscheinen lassen. Auch der Ort, an dem diese Perle der Weltkirche geschenkt wurde, ist bezeichnend, ist doch die Universität bei der Lateranbasilika die “Universität des Bischofs von Rom” und steht als solche im besonderen Dienst des Wissens als Dienst am Evangelium, das heisst im Dienst der Wahrheit, ohne die es keine Freiheit gibt, denn: “Ohne Wahrheit stehen wir nicht vollkommen in der ursprünglichen Idee des Schöpfers”.

In seiner Ansprache knüpfte Benedikt XVI. an seinen letzten Besuch im Lateran an, als er noch als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre zusammen mit dem italienischen Philosophen Marcello Pera eine ausführliche Auseinandersetzung über die christlichen Wurzeln Europas führte (12. Mai 2004), die mit der berühmten Ansprache des Kardinals im Senat der italienischen Republik ihren Höhepunkt fand (13. Mai 2004; vgl. Joseph Ratzinger, Marcello Pera, Ohne Wurzeln: Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, St. Ulrichs-Verlag, Augsburg 2005). Der Papst beschäftigte sich weiter mit der Kultur- und Identitätskrise, die in diesen Jahrzehnten dramatisch vor Augen steht. “Die Universität ist einer der am besten geeigneten Orte für den Versuch, angemessene Wege zu finden, die aus dieser Situation herausführen. In der Universität wird nämlich der Reichtum der Tradition bewahrt, die über die Jahrhunderte hinweg lebendig ist”, so Benedikt XVI. “In der Universität kann die Fruchtbarkeit der Wahrheit zum Ausdruck gebracht werden, wenn diese in ihrer Authentizität mit einfachem und offenem Geist aufgenommen wird. An der Universität werden die jungen Generationen ausgebildet; sie erwarten hier ein ernsthaftes und anspruchsvolles Angebot, das in neuen Zusammenhängen auf die ewige Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz zu antworten vermag. Diese Erwartung darf nicht enttäuscht werden”.In unserer Zeit scheine einer “künstlichen Intelligenz” der Vorrang gegeben zu werden, “die sich in immer stärkerem Ausmass der experimentellen Technik unterwirft”. Sie vergesse so, dass jede Wissenschaft stets den Menschen schützen und sein Streben nach dem wahren Gut fördern müsse: “Das ‚Tun’ überzubewerten und dabei das ‚Sein’ zu verdunkeln ist keine Hilfe bei der Wiederherstellung des grundlegenden Gleichgewichts, das jeder Mensch braucht, um dem eigenen Dasein ein festes Fundament und eine gültige Zielsetzung zu geben”.

Jeder Mensch sei aufgerufen, seinem Handeln einen Sinn zu geben, vor allem dann, wenn dieses Handeln vor dem Hintergrund einer wissenschaftlichen Entdeckung geschehe, die dem Wesen der personalen Existenz des Menschen seinen Wert abspricht. “Wenn man sich von der Entdeckerfreude ergreifen lässt, ohne die Massstäbe zu wahren, die aus einer tieferen Einsicht stammen, dann kommt es leicht zu dem Drama, von dem der antike Mythos erzählt: Der junge Ikarus, ergriffen von der Freude am Flug in die absolute Freiheit und die Warnungen seines alten Vaters Dädalus missachtend, kommt der Sonne immer näher und vergisst dabei, dass die Flügel, mit denen er sich zum Himmel erhoben hat, aus Wachs sind. Jäher Absturz und Tod sind der Preis, den er für seine Illusion zahlt. Die antike Sage enthält für uns eine Lehre von bleibendem Wert. Im Leben gibt es noch andere Illusionen, denen man sich nicht hingeben darf, wenn man nicht verheerende Folgen für das eigene Leben und das Leben der anderen Menschen riskieren will”.

Die Aufgabe des Universitätsprofessors besteht für den Papst nicht nur darin, nach der Wahrheit zu forschen und immer wieder Staunen über sie hervorzurufen Er müsse zudem ihre Kenntnis in ihrem ganzen Facettenreichtum fördern und sie gegen verkürzte und verzerrte Interpretationen verteidigen. “Das Thema der Wahrheit in den Mittelpunkt zu stellen ist kein rein spekulativer, auf einen kleinen Kreis von Denkern beschränkter Akt, sondern es ist im Gegenteil eine lebenswichtige Frage, um dem persönlichen Leben eine tiefgreifende Identität zu geben und die Verantwortung in den sozialen Beziehungen zu wecken”, so Benedikt XVI. vor “seinen Studenten” und den Professoren “seiner Universität”.

Werde die Frage nach der Wahrheit sowie die konkrete Möglichkeit für jeden Menschen fallen gelassen, sie erreichen zu können, “wird das Leben am Ende auf eine Reihe von Hypothesen ohne sichere Bezugspunkte reduziert”. Das Bemühen um die Wahrheit befähige auf jeden Fall, nach und nach zum Kern der Fragen vorzudringen, “und es macht offen gegenüber der Leidenschaft für die Wahrheit und gegenüber der Freude, sie gefunden zu haben”.

So besitzen für den Papst die Worte des heiligen Anselms von Canterbury immer noch grosse Aktualität: “Möge ich dich mit Verlangen suchen, möge ich suchend nach dir verlangen. Möge ich dich liebend finden, möge ich dich im Finden lieben” (Proslogion, 1). Dabei sei der unverzichtbare Hintergrund, vor den die Fragen, die der Verstand aufwerfe, gestellt werden müssten, “der Raum des Schweigens und der Betrachtung”.

“Gott ist die letzte Wahrheit, nach der die Vernunft naturgemäss strebt, vom Wunsch getrieben, den ihr zugewiesenen Weg bis ans Ende zu gehe”, so Benedikt XVI. seine Ansprache abschliessend. “Gott ist weder ein leeres Wort noch eine abstrakte Hypothese; er ist im Gegenteil die Grundlage, auf die man sein Leben bauen kann. In der Welt zu leben, ‚veluti si Deus daretur – als ob es Gott gäbe’, bringt die Übernahme einer Verantwortung mit sich, die jeden gangbaren Weg zu erforschen weiss, um Gott so nahe wie möglich zu kommen; er ist das Ziel, zu dem alles hinstrebt”.

Der Gläubige wisse, dass dieser Gott ein Antlitz habe und dass er sich in Jesus Christus ein für allemal jedem Menschen genähert habe. Ihn erkennen heisse, “die volle Wahrheit erkennen, dank der man die Freiheit findet: ‚Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien’ (Joh 8,32)”.

Joseph Ratzinger, Marcello Pera, Ohne Wurzeln: Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, St. Ulrichs-Verlag, Augsburg 2005, ISBN 3-936484-57-0 13,5 x 21,5 cm, 160 Seiten, gebunden.
sFr 24,50, EUR 17,40

Papst.Benedikt.XVI. : Besuch der Päpstlichen Lateranuniversität
Anselm.von.Canterbury

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