Predigen gegen das Vergessen

Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden müssten in Afrika ein Moto sein

Der Papst in Benin: Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden – darum kämpft die katholische Kirche in Afrika. Sie begeistert damit nicht nur Christen.

Die Tagespost, 21. November 2011, von Johannes Seibel

Moto – das sind die zweirädrigen Taxi in Cotonou, der Millionenstadt und Hafenmetropole des westafrikanischen Benins, schmale Motorrädchen. Zu Tausenden bringen sie dort so schnell wie kein anderes Vehikel gegen alle Widrigkeiten den Gast durch das Labyrinth an Asphaltstrassen, holperigen Betonsteinpisten und sandigen Seitengassen ans Ziel. Und das heisst an diesem Sonntag früh Stadion der Freundschaft. In knapp drei Stunden feiert hier Papst Benedikt XVI. mit rund 80 000 Gläubigen die Heilige Messe. Höhepunkt seiner Reise ins “lateinische Viertel Afrikas”, wie Benin auch genannt wird.

Kurz nach sechs Uhr im Morgengrauen steht Pierre Nsengiyumua in Cotonou vor dem Päpstlichen Institut Johannes Paul II. für Ehe und Familie. Ein Moto hält. Der Priester aus Burundi schwingt sich in seiner weissen Soutane hinter den Fahrer. 300 Zentralafrikanische Francs kostet das, eine Art westafrikanischer Euro, die gemeinsame Währung von Benin, Burkina Faso, der Elfenbeinküste, Guinea-Bissau, Mali, Niger, Senegal und Togo. Unter den Arm klemmt er eine Tasche. Dort ist das eigens für die Papstmesse ausgeteilte Priestergewand verstaut. Für umgerechnet rund 45 Cent braust er Benedikt XVI. entgegen.

Die Gläubigen singen sich auf den Tribünen warm

Das zinnoberrötliche Licht des Morgens weicht. Am Stadion der Freundschaft stehen lange Schlangen vor den Eingängen zu den Blocks, wo üblicherweise die Eichhörnchen, so heissen im Volksmund die Fussballer des Landes, um Punkte kämpfen. Im Block E6 ragt einer der vier hohen Flutlichtmasten empor. Frisch grau gestrichen. Auf den Tribünenstufen rund herum singen sich die Gläubigen warm. Mütter erfrischen Kleinkinder auf dem Arm. Lachen. Klatschen. Kurz nach acht Uhr. Aufschreie hallen durchs Stadion. Viele strömen Richtung oberer Rand der Stadionschüssel. Der Papst kommt – geht es von Mund zu Mund. Ob mit dem Hubschrauber oder einem Auto, darüber wird gestenreich gestritten. Knapp vierzig Minuten später erneut ein Aufschrei. Das Papamobil biegt ins Stadion auf die 400-Meter-Laufbahn. Ein Meer aus Menschenleibern umwogt es sofort. Das Grün-Weiss der Nigerianer ist oft zu sehen, Plakate machen auf die Elfenbeinküste aufmerksam, T-Shirts weisen ihre Träger als Togolesen aus. Allmählich kehrt Stille ein. Kurz nach neun Uhr: Die Papstmesse kann beginnen. Auch Pierre Nsengiyumua nimmt sein Liedheft in die Hand.

Einen Tag zuvor schon, am Samstag, hat Pierre Nsengiyumua den Papst erlebt. Im Priesterseminar St. Gall in Quidah, etwa 40 Kilometer von Cotonou entfernt. Auf der Fahrt dorthin zieht am Passagier links und rechts die irritierende Wirklichkeit afrikanischen Lebens in Benin vorbei. Zwei Häuser der Zeugen Jehovas, zwei kleinere Moscheen, Häuser von Pfingstkirchen, ein Zentrum für Naturheilkunde, katholische Kirchen und Gemeindezentren, verrottende, nicht fertig gewordene Betonbauten, armselige Unterstände aus blossen Holzstangen und braunvertrockneten Palmen als Dach, unter dem verdreckte Kinder bloss in Unterhosen teilnahmslos vor sich hindösen, Holzhändler, Sarg- und Korbmacher, Reifenverkäufer, deren goldene Uhren am Handgelenk aufblinken, schiefe, baufällige Telefonkartenbuden, in denen gelangweilt Frauen warten, Motorradhändler auf einem frisch betoniertem Areal, Garküchen oder Toilettenschüsselverkäufer in festen Wellblechhütten fliegen vorbei. Cafes und Bars laden ein – auf sandigen Boden und blauweiss gestrichene Hocker. Armut, die einem Europäer schmerzhaft ins Auge springt, und schon ein wenig Wohlstand der kleinen Händler und Handwerker gehen Hand in Hand. Plötzlich ruckt es. Der Bus chinesischer Bauart macht schlapp. Zehn Minuten braucht der Fahrer, bis er ihn repariert hat. Das sanft auf- und abschwellende Halleluja der Priester und Ordensschwestern hat scheinbar geholfen. Afrikanische Wirklichkeit: ständige Improvisation.

Im Priesterseminar Quidah dankt Papst Benedikt den Priestern, Ordensschwestern und Laien im kirchlichen Dienst für ihren katechetischen Dienst in dieser afrikanischen Wirklichkeit, nachdem er am Grab von Kardinal Gantin gebetet hat. Mehr als fünf Stunden ist Pfarrer Nsengiyumua auf den Beinen, um eine Viertelstunde Rede des Heiligen Vaters zu hören. Warum ist dem Priester aus Burundi dieser Papst so wichtig? “Der Papst bringt uns die Botschaft von Jesus, und die Botschaft von Jesus ist: Friede. Ich bringe die Botschaft des Papstes dann in meine Pfarrei: Friede”, erklärt der zuerst etwas zurückhaltende Seelsorger, der dann aber energisch wird. “Wir haben in Afrika so viel Grausamkeit erlebt und erleben es, wir brauchen diese Botschaft: Friede.” Wie einfach das klingt und wie schwer zu leben ist, das erlebt Pfarrer Nsengiyumua täglich in seiner Pfarreiarbeit. “Ich predige Friede, die Gläubigen hören es im Gottesdienst, wenn sie die Türe hinausgehen, dann ist alles wieder vergessen, das ist so aufreibend, man braucht Geduld, das müssen wir ändern, dass die Christen leben, was Jesus sagt.” So erklärt er auch die schlimmen Bilder der Gewalt, die die Weltöffentlichkeit aus Burundi und seinem Nachbarstaat Ruanda kennt. Vergessen ist die christliche Friedensbotschaft schnell, so der Geistliche aus Burundi, das zu 80 Prozent katholisch ist, vor allem deshalb, weil es zu wenig Bildung in Afrika gibt. “Bildung ist das Hauptproblem. Weil es so wenig Bildung gibt, sind die Menschen durch die Politik leicht verführbar und steuerbar und erregbar”, berichtet er von seinen Erfahrungen – derweil notieren sich Ordensschwestern mit, was Papst Benedikt XVI. ihnen sagt. Bräuchte es nicht mehr überzeugte Katholiken, die Politiker werden? Der Priester stutzt. Er ist skeptisch, ob Politik schliesslich früher oder später nicht doch jeden korrumpiert.

Meinungsfreiheit ist Einsatz der Kirche zu verdanken

Pierre Nsengiyumua liest in Quidah die Sondernummer der Zeitschrift des Priesterseminars, “La Voix de St. Gall” zum Papstbesuch. Der Theologe Ghislain Koutoukloui schreibt über die Zweite Synode der Afrikanischen Bischöfe in Rom 2009, zu der jetzt Papst Benedikt XVI. das nachsynodale Schreiben überreicht hat – und über die Erste Synode der Afrikanischen Bischöfe in Rom 1994. In dieser sei es vor allem darum gegangen, schreibt Koutoukloui, nach der historischen Wende 1989/90 und dem Ende des Sowjetkommunismus die Weichen auf eine Demokratisierung der früheren Satellitenstaaten dieses Systems auf afrikanischem Boden zu stellen. Die politische Wirkung dieser Synode von 1994 ist laut Koutoukloui noch nicht “genau abzuschätzen”. Der Einsatz der Kirche und der Bischöfe auf dem Kontinent für Gerechtigkeit, Friede und “good governance” – also gemeinwohlorientiertes Regieren – “ist nicht gänzlich ohne Folgen geblieben”, formuliert er eher vorsichtig. Eine wesentliche Frucht auch des kirchlichen Engagements in den Medien seit 20 Jahren sei gleichwohl die Meinungsfreiheit. Öffentlich sagen zu können, was man will, das könne man heute an mehr Orten in Afrika als vor 20 Jahren. Doch blieben die weitaus meisten ökonomischen und politischen Probleme des Kontinents ungelöst – und dem wolle sich die Zweite afrikanische Bischofssynode stellen. Glaubwürdigkeit der Kirche und jedes einzelnen Christen vom Laien bis zum Priester, die Botschaft des Evangeliums von “Friede und Entwicklung” zu leben, um so die Gesellschaft zu begleiten, bleibt für Koutoukloui dabei die Grundvoraussetzung, dass die Katholiken Afrika helfen können.

Pfarrer Pierre Nsengiyumua stärkt sich am Sonntag im Stadion von Cotonou für diesen Dienst in Burundi. Gerade predigt Papst Benedikt. Gut ist sein angenehmes Französisch zu hören. In der Hitze und Schwüle ist es nicht einfach, konzentriert zu bleiben. Die afrikanischen Frauen in ihren farbenfrohen Kleidern fächeln sich Luft zu. Andere suchen unter Tüchern, die als Devotionalien verkauft werden, Schutz. Freundliches, kurzes Klatschen nach der Predigt. Je eine Fürbitte beten die Gläubigen jetzt in Französisch, Englisch, Portugiesisch und den lokalen Dialekten Mina, Yoruba und Dendi. Das besitzt hohe Symbolkraft. Das heutige europäisch geprägte Afrika und das Afrika der voreuropäischen Herkunft tragen ihre Bitten gemeinsam vor Gott. Für Papst Benedikt XVI. wird gebetet, der mit den Bischöfen mitten in der Kirche Afrikas steht, so heisst es, damit sie die Gläubigen zum Frieden führen. Für die Regierenden, dass sie der Heilige Geist erleuchte, damit sie ihren Völkern Wohlergehen und Zusammenhalt ermöglichen. Für die Brüder und Schwestern Afrikas, die unter Krieg und anderen Bedrückungen leiden, damit ihnen nicht die Hoffnung verloren geht. Als Antwort singen alle in Fon mit: “Yombitu, tipue basa, ta usou, Tinun, ti biari. Tinu” – “Gott, erhöre die Gebete”.

Ein stämmiger, austrainierter Soldat der Streitkräfte Benins in seiner straff sitzenden kampfgrünen Uniform am Eingang von Block E6 hält ein Lied- und Gebetsheft der Papstmesse in der Hand und liest die Fürbitten mit. Sie sind auch ans Militär verteilt worden. Er verfolgt die Texte. Vielleicht denkt er: “Die haben gut reden, das hören wir Afrikaner tausendmal, wenn es drauf ankommt, ist doch jeder Egoist, gerade wenn er Politiker ist, und dann müssen wir wieder den Kopf hinhalten.” Unwillkürlich drängt sich ein Gedanke auf: Soldaten und Offiziere Roms waren es am Beginn des Christentums gewesen, die die Botschaft des Evangeliums im Ausgang der Antike begriffen und weitergetragen haben. Wer kämpft und töten muss, dem ist die Sehnsucht nach Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden tief im Kern der martialischen Schale keineswegs abgestorben.

Ein Muslim ist begeistert vom Papst

Von der Landung bis zum Abflug von Papst Benedikt XVI. in Benin verfolgt derweil der junge beninische Student Issa Mikaela im Pressezentrum alle Veranstaltungen – auch die Papstmesse. Er studiert Journalistik an der Abomey-Caloni Universität in Cotonou und arbeitet als freier Journalist für ein Radio. Vor allem aber notiert er alles über die Apostolische Visite in seinen Blog mit Titel “libre expression” – Meinungsfreiheit – unter “mikailaissa.blogspot.com”. Er übersetzt sogar Papstansprachen in lokale Dialekte und stellt sie online. Das Besondere dabei: Issa Mikaela ist Muslim. Und begeistert. Warum? “Papst Benedikt kommt nach Benin, um nicht allein zu den Katholiken zu sprechen. Er spricht zu uns allen. Er hat eine Botschaft an alle, der die Politiker zuhören, das ist das Entscheidende.” Alle vier Fernsehsender Benins, drei private und ein öffentlich-rechtlicher, begleiten seit Freitag den Besuch rund um die Uhr mit Live-Schaltungen und Talk-Shows, bei denen auch katholische Geistliche als Experten auftreten. “Das hat es noch nie gegeben”, sagt der junge Student. Was denkt er, stumpft das Stakkato von Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden durch die ständige Wiederholung in den vergangenen Tagen die Menschen in Benin nicht ab? Keineswegs, lacht er. “Am wichtigsten für uns in Benin war der Besuch des Papstes bei den staatlichen Autoritäten und politischen Führern, und dass er dort gesagt hat, dass jeder Beniner persönlich und für sich selbst die Verantwortung für sein Land übernehmen soll. Denn damit signalisierte er den Politikern, dass sie das Volk ernstnehmen müssen, weil es Verantwortung für sich selbst und andere übernehmen kann. Das haben hier alle so verstanden, das war das Wichtigste.”

Papst Benedikt XVI. segnet im Stadion der Freundschaft die Gläubigen und Afrika. Pfarrer Pierre Nsengiyumua zieht mit aus. Er packt säuberlich sein Papstmesse-Priestergewand zusammen. Draussen findet er sofort ein Moto. In Windeseile bringt es ihn zurück ins Päpstliche Institut Johannes Paul II. für Ehe und Familie. Wenn Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden doch bloss ein Moto wären.

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