Osteuropas Schicksal: Vom Westen vergessen

Warum die Ukraine für Wladimir Putins “gelenkte Demokratie” ab 2014 zu einer Herausforderung wurde, erklärt der Historiker Leonid Luks

Quelle
Völkerbund – Wikipedia

17.02.2024

Leonid Luks

Die Tatsache, dass die westlichen Staaten sich mit der am 24. Februar 2022 überfallenen Ukraine beinahe vorbehaltlos solidarisieren und sie massiv unterstützen, stellt für die Geschichte der Region, in der sich die Ukraine befindet, keine Selbstverständlichkeit dar. Das Interesse des Westens für die Völker Ost- und Ostmitteleuropas war in der Vergangenheit in der Regel nicht stark ausgeprägt. Oft wurden sie ihrem Schicksal überlassen.

Der östliche Teil des europäischen Kontinents wurde gelegentlich als die “vergessene Hälfte” Europas bezeichnet. Generationenlang kämpften osteuropäische Völker gegen Fremdherrschaft, und dieser Kampf wurde selten durch Erfolge gekrönt. Paradigmatisch war in diesem Zusammenhang das Schicksal Polens, das seine mächtigen Nachbarn Russland, Preußen und Österreich im ausgehenden 18. Jahrhundert aufteilten und 1797 als Staat für erloschen erklärten.

Zwar hat sich die polnische Gesellschaft mit diesem “Verdikt” nie abgefunden. Ihr ununterbrochener Kampf um die Wiederherstellung der Unabhängigkeit blieb aber zunächst vergeblich. Ein Aufstand nach dem anderen scheiterte. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die westliche Öffentlichkeit sich mit dem polnischen Freiheitskampf in der Regel solidarisierte.

Diese Sympathien waren aber in keiner Weise ausreichend, um das Kräfteverhältnis in der Region zu ändern. Die Übermacht der Teilungsmächte war so gewaltig, dass das Streben der polnischen Freiheitskämpfer lange als chancenloses Unterfangen galt. Erst 123 Jahre nach dem Verschwinden Polens von der politischen Karte konnten die Verfechter der polnischen Unabhängigkeit ihr Ziel erreichen. Diesem “Wunder an der Weichsel” ging die Niederlage aller Teilungsmächte im Ersten Weltkrieg voraus. Zunächst wurde Russland durch die Mittelmächte besiegt und schied im März 1918 aus dem Krieg aus. Acht Monate später wurden die Mittelmächte von der Entente geschlagen.

Multinationale Reiche im Kleinformat

Aber nicht nur die Träume der Polen, auch jene anderer osteuropäischer Völker sind nach dem Ersten Weltkrieg über Nacht Wirklichkeit geworden. Die Mehrzahl der Völker der Region wurde nun frei. Diese politische Revolution wurde aber von keinen wirtschaftlichen oder sozialen Umwälzungen begleitet. Die Herrschaftsstrukturen in der Region haben sich kaum verändert. Die feudal-bürokratischen und militärischen Eliten, die in Osteuropa seit Generationen tonangebend waren, büßten ihren Einfluss nach 1918 kaum ein, wirtschaftliche Strukturen blieben fast unangetastet. Die Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesse berührten die Region, wenn man von Tschechien absieht, nur am Rande. Die patriarchalischen Herrschaftsstrukturen der Länder Ost- und Südosteuropas wirkten sich auch auf ihre politischen Strukturen aus. Demokratische Verfassungen wurden fast überall abgeschafft und durch mehr oder weniger autoritäre Systeme abgelöst. Auch hier stellte die Tschechoslowakei eine Ausnahme dar.

Verhängnisvoll sollte sich auf die Geschicke der Region auswirken, dass die neuen Staaten, obwohl sie infolge der Auflehnung gegen multinationale Imperien entstanden, selbst in der Regel multinationale Reiche im Kleinformat darstellten. An der ungelösten nationalen Frage sollten einige von ihnen zerbrechen. Nicht nur in Osteuropa, sondern europaweit erreichten nationalistische Emotionen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg einen neuen Höhepunkt. Dies war einer der Gründe für das Scheitern des 1920 gegründeten Völkerbunds, der nur wenige Regelungsinstrumente hatte, um das überdimensional gesteigerte Selbstwertgefühl einzelner Nationen einzudämmen.

Angst vor Kommunismus bereitet rechtsextremen Diktaturen den Boden

Nicht weniger gefährlich als der nationale Egoismus sollte für das Schicksal vieler neuer Staaten Osteuropas deren nachgiebige Haltung gegenüber rechtsextremen Diktaturen werden, die in den 1930er Jahren beinahe ungestraft einen aggressiven Akt nach dem anderen verüben konnten. Der autoritäre Charakter vieler osteuropäischer Regime erklärt ihre Affinität zum faschistischen Regime in Italien und zum Dritten Reich. Auch die Angst vor dem Kommunismus und vor der Sowjetunion führte dazu, dass einige Staaten sich an rechtsextreme Diktaturen anlehnten.

Sogar in Polen, das von den revisionistischen Bestrebungen des Dritten Reichs aufs Äußerste gefährdet war, entstand nach der Etablierung des NS-Regimes die Illusion, man könne sich mit dem Dritten Reich auf der Basis des Antikommunismus und Antisowjetismus einigen. Von 1934 bis 1938 arbeitete die polnische Führung mit dem Dritten Reich zusammen. Erst als sich nach dem Münchner Abkommen im September 1938 herausstellte, dass die Vernichtung des polnischen Staates für Hitlers Konzeption der Neuordnung Europas eine conditio sine qua non darstellte, begann sich die Warschauer Führung gegen den Expansionismus des Dritten Reiches zu wehren.

Auch die westlichen Verteidiger der Nachkriegsordnung, vor allem Großbritannien und Frankreich, haben sich bei ihrer Einschätzung der rechtsextremen Regime geirrt. Ihre butterweiche Reaktion auf den Eroberungskrieg Mussolinis in Abessinien, ihre Appeasementpolitik gegenüber Hitler haben die Aggressivität beider Diktatoren angestachelt. So stand Europas Nachkriegsordnung 20 Jahre nach ihrer Entstehung am Rande des Scheiterns. Die Lage der osteuropäischen Völker war 20 Jahre nach der errungenen Freiheit prekär. Das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 verwandelte sie in eine Art Manövriermasse, die zwei totalitäre Diktatoren wie einen Kuchen in zwei Einflusssphären aufteilten. Dieser Pakt besiegelte das Schicksal Polens und anderer Länder der “vergessenen” östlichen Hälfte Europas für die nächsten 50 Jahre. Die volle Souveränität der Staaten der Region schien nur eine Episode darzustellen.

Bezwingung der Nazis ohne Sowjetunion nicht mehr möglich

Nachdem die Westmächte durch ihre Appeasementpolitik der 1930er Jahre dem Aufbau der Hitlerschen Kriegsmaschinerie keine Hindernisse in den Weg legten, war die Bezwingung des Dritten Reichs ohne das Bündnis mit der Sowjetunion nicht mehr möglich. Dieses Bündnis forderte seinen Preis, den die Völker Osteuropas zahlen mussten. Je weiter die Rote Armee in Richtung Westen vorstieß, desto nachgiebiger wurden die Westalliierten. Sie waren mit der Errichtung einer sowjetischen Einflusssphäre im östlichen Teil des europäischen Kontinents im Wesentlichen einverstanden. Beispielhaft hierfür war der Teilungsplan, den Winston Churchill der sowjetischen Führung bei seinem Moskau-Besuch im Oktober 1944 vorschlug: Bulgarien und Rumänien sollten dem sowjetischen, Griechenland dem britischen Einflussbereich angehören. Ungarn und Jugoslawien sollten paritätisch geteilt werden. Stalin war einverstanden.

Wie verhielt es sich mit der auf der Jalta-Konferenz der “Großen Drei” im Februar 1945 proklamierten “Erklärung über das befreite Europa”, die jedem Land, das von der Nazi-Herrschaft befreit war, eine freigewählte Regierung versprach? Der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Wjatscheslaw Molotow, erinnerte sich, dass er Zweifel hatte, ob die Sowjetunion eine solche Erklärung unterschreiben solle. Stalin habe keine Bedenken gehabt: “Wir werden diese Erklärung auf unsere Art in die Wirklichkeit umsetzen. Alles hängt vom Kräfteverhältnis ab.”

Die sowjetische Lesart der Erklärung bestand darin, dass die UdSSR nur jenen politischen Kräften Osteuropas die Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen gestattete, die aus ihrer Sicht “demokratisch” und nicht “volksfeindlich” waren. In die Kategorie der “volksfeindlichen Kräfte” sollte im Laufe der Zeit eine immer größere Zahl von Gruppierungen geraten, bis nur die Kommunisten und ihre Marionetten auf der politischen Bühne übrig blieben.

Da die Sowjetunion 1945 durch die Ausdehnung ihres Machtbereichs bis zur Elbe die traditionelle russische Einflusssphäre in diesem Teil Europas überschritten hatte, sagte der amerikanische Russland-Kenner George F. Kennan 1945 den baldigen Zusammenbruch der sowjetischen Hegemonie voraus. Diese Voraussage hat sich zunächst nicht erfüllt. Denn die Geschichte des Ostblocks bestand in den Jahren 1945 bis 1989 nicht aus einer Kette von Auflehnungsversuchen wie dies gelegentlich, nicht zuletzt unter dem Eindruck des Revolutionsjahrs 1989 geschildert wird. Im Gegenteil, Revolten stellten eher Episoden dar: Ost-Berlin 1953, Ungarn 1956, die Tschechoslowakei 1968. Vorherrschend war der Konformitätsdrang, worüber sich mitteleuropäische Regimekritiker wiederholt beklagten.

Putins Angst vor einem “ukrainischen Szenario”

Nur das unbotmäßige Polen stellte einen permanenten Unruheherd im sowjetischen Machtbereich dar. Dennoch ist es auch den polnischen Regimegegnern bis zur Gorbatschowschen Perestroika nicht gelungen, einen Systemwechsel herbeizuführen. Die Auflösung des Ostblocks ereignete sich 1989 nicht in erster Linie unter dem Druck von unten, sondern war eher die Folge eines neuen außenpolitischen Konzepts der sowjetischen Führung, die das Festhalten an der Breschnew-Doktrin, die eine begrenzte Souveränität der “sozialistischen” Länder postulierte, nicht mehr für opportun hielt.

Anders bewertete die Moskauer Führung die ehemaligen Republiken der UdSSR, die infolge der Auflösung der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erlangten. Sie galten als Länder des “nahen Auslands”, die aus Sicht vieler Vertreter des russischen Establishments im Einflussbereich Moskaus verbleiben sollten. Diese Meinung vertraten sogar demokratisch gesinnte russische Politiker.

Der Vorsitzende des Außenpolitischen Komitees des Obersten Sowjets, Jewgenij Ambarzumow, sagte, ehrwürdige Einrichtungen wie die UNO oder die KSZE würden kaum imstande sein, die unzähligen Konflikte, die das untergegangene Sowjetreich hinterlassen hat, in den Griff zu bekommen. Also habe Russland als stärkster Nachfolgestaat der UdSSR eine besondere Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Stabilität in der Region.

Moskaus neo-imperiale Tendenzen erreichen neue Dimension

Nach der Entstehung der Putinschen “gelenkten Demokratie” im Jahr 2000 erreichten diese neo-imperialen Tendenzen Moskaus eine neue Dimension. Denn Putins Ziel war nicht nur die Zementierung des russischen Einflusses im “nahen Ausland”, sondern die Bekämpfung aller emanzipatorischen Tendenzen in der Region, die das Machtmonopol der herrschenden Oligarchien in den Nachfolgestaaten der UdSSR, nicht zuletzt in Russland, in Frage stellten.

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Vor allem aus diesem Grund wurde die Ukraine für Putin nach dem Sieg der “farbigen Revolutionen” von 2004 und 2013/14 zu einer doppelten Herausforderung. Die 2004 und 2014 erfolgte Abwendung der Ukraine von Moskau machte alle Versuche Putins, das sowjetische Imperium im Kleinformat wiederherzustellen, zunichte.

Zugleich stellte der Kiewer Maidan für Putin innenpolitisch eine Gefahr dar. Er wollte um jeden Preis verhindern, dass das “ukrainische Szenario” der Entmachtung der korrupten Staatsführung sich in Moskau wiederholt. Deshalb versucht er seit 2014 die Ukraine zu spalten und zu destabilisieren, und seit dem 24. Februar 2022 als souveränen Staat gänzlich zu zerstören.

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