Welche Sexualmoral brauchen wir?

Eine Antwort von Martin Gächter, Weihbischof im Bistum Basel

Sexualität ist für jeden Menschen wichtig. Sie kann ihm grösste Freude und Erfüllung geben. Sie hat auch weit reichende Folgen, da sie neues menschliches Leben schenken, aber auch tödliche Krankheiten bringen kann. Sexualität weckt grosse Erwartungen, die allerdings auch enttäuscht werden und in Desillusion enden können. Sexualität ist für jeden einzelnen und für das Zusammenleben der Menschen so wichtig, dass dafür in allen Kulturen Regeln entstanden sind. Für uns Christen bleiben die zehn Gebote wichtig, die ebenfalls für die Juden und die Muslime gelten. Das 6. und 9. Gebot ermahnen uns, die Ehe nicht zu brechen und des Nächsten Frau nicht zu begehren. In allen Religionen gelten ähnliche Regeln.

Die traditionelle Sexualmoral wurde in den letzten 100 Jahren durch die so genannte “sexuelle Revolution” in Frage gestellt. Diese propagiert die jederzeitige Befriedigung des Sexualtriebes und eine grosse Freiheit in wechselnden sexuellen Beziehungen. Alles sei
erlaubt, solange ein Mitmensch nicht zu etwas gezwungen wird, was er nicht will. Diese absolute sexuelle Freiheit überzeugt allerdings viele nicht mehr, weil das menschliche Verlangen auf dauerhaftes Glück und treue Liebe ausgerichtet ist. Diese wird in einer dauerhaften Ehe realisiert, die auch den Kindern eine Sicherheit und Identität gibt.

Sexuelle Beziehungen werden dann menschlich, wenn sie frei, liebevoll und mit grosser Rücksicht auf den Partner gelebt werden. Das bedeutet in jeder Partnerschaft auch einen liebevollen Verzicht aus Rücksicht auf den andern. Ohne Momente des Verzichtes gelingt das Sexualleben nicht.

Kardinal Joseph Ratzinger hat festgestellt, “dass wir heute vor einer früher ganz unbekannten Trennung zwischen Sexualität und Fortpflanzung stehen” (Salz der Erde, 1996, S.215). Die Maxime der katholischen Sexualmoral, dass sexuelle Aktivität ihren Ort in der Ehe haben soll, wird heute von vielen Menschen, auch von Nichtkatholiken, mit Überzeugung gelebt. Sexuelle Erlebnisse vor, ausserhalb oder nach einer Ehe können interessante Beziehungen und aufregende Abenteuer bringen, jedoch nicht die bleibende liebevolle Annahme, nach der sich jeder Mensch sehnt. Zeitweise Enthaltsamkeit lebt nicht nur jedes glückliche Ehepaar. Enthaltsamkeit wird heute – trotz der starken Propagierung von sexueller Freiheit – von vielen jugendlichen, alleinstehenden, verwitweten und geschiedenen Menschen gelebt. Sie machen statistisch gesehen immerhin die Hälfte aller Menschen aus.

Diese Hälfte darf nicht übersehen werden. Ihr darf nicht verallgemeinernd ein verstecktes Sexualtreiben unterstellt werden. Auch müssen sie wegen der Enthaltsamkeit nicht verklemmt oder krank werden. Es gibt viele, welche die Sexualität gut in ihr Leben integriert haben. Sie bejahen freudig ihre Sexualität, auch wenn sie sexuell nicht aktiv sind. Diese Menschen, zu denen auch die Ordensleute und zölibatären Priester zu rechnen sind, sollten sich heute vermehrt “outen”, weil sie eine grosse Hilfe sein können für die Mitmenschen, die mit ihrer Sexualität nicht so gut zurecht kommen. Sie können zeigen, was wahre menschliche Freiheit ist: dass jeder Mensch seine Sexualität hat, die Sexualität jedoch den Menschen nicht besitzt.

Ähnlich gilt auch: Der Mensch kann Alkohol und Nikotin haben, doch Alkohol und Nikotin dürfen nicht den Menschen besitzen. Gott der Schöpfer hat uns die sexuelle Lust geschenkt, damit sich jeder Mensch den anderen Menschen – auch dem anderen Geschlecht – öffnet und gedrängt wird, sein Leben weiterzugeben. Wenn aber die Sexualität allein zur Erzeugung von Lust und zur eigenen Befriedigung gebraucht wird, könnte das mit dem Schlecken des süssen Honigs vom Butterbrot verglichen werden, bei dem das Brot weggeworfen wird.

Heute wird die katholische Sexualmoral von manchen abgelehnt, weil sie zu rigid und weltfremd sei, geschrieben von zölibatären Theologen. Vergessen wir nicht, dass unsere Schweizer Synoden 72 aufgeschlossene, heute noch gültige Texte im Heft Nr. 6 “Ehe und Familie im Wandel unserer Gesellschaft” geschrieben haben. Die Synode 72 war bekanntlich zur Hälfte aus Laien – Ehepaaren, Frauen und Männern – und zur Hälfte aus Theologen, Priestern und Bischöfen zusammengesetzt. Diese guten Texte katholischer Sexualmoral sind heute noch gültig. Darin stehen gute Worte über die Geburtenregelung, die nach der Enzyklika “Humane vitae” (1968) viel zu reden gab. Diese Enzyklika hat ausdrücklich die heutige Notwendigkeit einer Familienplanung betont. Allerdings empfahl sie dafür die natürlichen Methoden. Diese werden heute von manchen Ehepaaren mit Begeisterung angewendet, ganz im Trend der wachsenden Vorliebe für das Natürliche (Ökologie, Bio- Produkte). Es darf nicht vergessen werden, dass Milliarden von Menschen einfacher leben als wir und keinen Zugang zu Pille und Kondom haben. In Togo (Afrika), wo nur 25 Prozent der Bevölkerung katholisch ist, sagen junge Erwachsene auf grossen Plakaten der Anti-Aids- Kampagne: “Wir sind noch zu jung für den Sex”.

Wer die offiziellen Texte der katholischen Sexualmoral liest, kann über die Offenheit und Menschlichkeit immer wieder staunen. So stehen im römischen Katechismus der katholischen Kirche (1993) nicht nur respektvolle Worte über die Homosexuellen. Zur Masturbation steht dort geschrieben (KKK 2352), dass affektive Unreife, die Macht eingefleischter Gewohnheiten, Angstzustände und weitere psychische oder gesellschaftliche Faktoren eine moralische Schuld vermindern oder gar aufheben können.

Da ist kirchliche Seelsorge zu spüren, die sich an Jesus orientiert, der ja nicht gekommen ist, die Vollkommenen zu suchen, sondern die Sünder. Nicht Gesunde brauchen den Arzt, sondern Kranke. Gerade im Gebiet der Sexualität führen Perfektionismus und Puritanismus nicht weiter.

Eine wichtige Aufgabe ist heute sicher, dass die katholische Sexuallehre neu dargestellt wird: Nicht einengend, sondern erleuchtend und befreiend. Es gehört zur schönen Aufgabe der Neuevangelisierung, dass unsere frohe Botschaft mit neuen Worten, neuen Methoden gewinnend und wohltuend dargestellt wird.

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