Ratzingers “Rückkehr nach vorn”

Besucher der Vatikanischen Museen wundern sich über ein Portrait Voltaires

Die neue Ordnung Nr. 3, Juni 2005

Ein Bild von Jean Huber. Man sieht den Propheten der Aufklärung als triefäugigen Greis mit Schlafmütze. Die katholische Kirche, die er als die “Infame” verleumdete, bis er am Ende seiner Tage einen Priester herbeirief, hat ihm in der päpstlichen Pinakothek einen Ehrenplatz zugewiesen. Die Kirche lässt ihre Gegner zuweilen alt aussehen, geht aber, wenn sie kaum mehr gefährlich sind, doch schonend mit ihnen um und beerbt sie sogar. Das mag auch an der Altersweisheit einer Institution liegen, die wie keine andere den Wandel der Zeiten geprägt und überlebt hat, ohne überlebt zu sein.

“Wenn eine Kultur fühlt, dass es mit ihr zu Ende geht, lässt sie den Priester kommen”, meinte einst der bissige Karl Kraus – an Voltaire erinnernd, der übrigens mit Papst Benedikt XIV. korrespondierte. Aber wie kann eine Kirche, die selber von den Kulturkrisen der Gegenwart erschüttert ist, der Gesellschaft als Rettungsanker dienen?

Schon als Theologieprofessor, als Erzbischof von München/Freising und als Präfekt der römischen Glaubenskongregation liess Joseph Ratzinger jetzt Papst Benedikt XVI., keinen Zweifel daran, dass die Kirche als Weltkirche nicht an eine bestimmte, etwa “westliche” Kultur gebunden sei, erst recht nicht an eine “Kultur des Todes” (Johannes Paul II.). Der weltkirchliche Auftrag umfasst vielmehr alle Kulturen, in denen die christliche Botschaft zur befreienden Wirkung gebracht werden soll.

Dem Theologen und Cardinal Ratzinger ging es im Sinn des christlichen Ur-sprungs immer darum, die Aufklärer aufzuklären, die Kritiker zu kritisieren, die Befreier zu befreien. Daran wird auch sein neues Amt nichts ändern, und das “Roma locuta, causa finita” wird Dialoge nicht beenden, sondern provozieren. Angesichts des Bösen, das sie in der Welt unter Missbrauch ihrer gottgeschenkten Freiheit anrichten, werden sich ideologische “Modernisten” wie religiös-politische “Fundamentalisten” einigen unangenehmen Fragen zu stellen haben.

Mit seiner westeuropäischen, speziell deutschen Kirche, die sich immer noch für den Nabel der Weltkirche hält, wird Papst Ratzinger, der wegen seiner deutschen Herkunft ausgerechnet vielen Deutschen verdächtig erscheint, ziemlich gnädig ins Gericht gehen. Geradezu väterlich war seine Mahnung in “Salz der Erde” zu verstehen, die Kirche in Deutschland solle sich nicht so wichtig nehmen hinter ihrer Fassade organisatorischer Stärke, die oft nur geistliche Dürftigkeit verdecke. Ideologisch zerfasert und zu sehr mit den eigenen Verdriesslichkeiten beschäftigt, sind die westlichen “Volkskirchen” dabei, sich zu Minderheitenkirchen zurückzubilden und sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.

In dieser Not wächst das Rettende auch, bilden sich neue Tugenden, charismatische Bewegungen und Gemeinschaften, die den alten Glauben neu entdecken und glaubwürdig leben. Gegen die Immobilität kirchlicher Verwaltungen und den Wirrwarr der Gremien setzte Cardinal Ratzinger auf Kreativität und Charme von Minderheiten, die noch als “Salz der Erde” wirken können. Der Kirche schreibt er ins Stammbuch, dass “sie sich nie einfach mit dem Zeitgeist liieren darf. Sie muss die Laster und Gefährdungen einer Zeit ansprechen; sie muss den Mächtigen ins Gewissen reden, aber auch den Intellektuellen, denen auch, die banausisch und gemütlich an den Nöten einer Zeit vorbeileben wollen”.

Das Kirchenvolksbegehren, das in den deutschsprachigen Ländern immer noch von sich reden macht, fordert Strukturreformen, die in den evangelischen Kirchen längst verwirklicht sind, ohne jedoch den massenhaften Abfall vom Glauben verhindern zu können. Nach Cardinal Ratzinger wird der Glaubensverlust in den westlichen Industriestaaten nicht aufgehalten, sondern eher beschleunigt, sollte das Begehren der Kirchen-“Basis” erfüllt werden.

Um so spannender ist die Frage, was den erlösenden Kern der Glaubenswahrheit ausmacht. Diesen Kern versuchte Cardinal Ratzinger aus allerlei ideologischen Wucherungen, zeitgeistkompatiblen Schalen und theologischen Worthülsen herauszulösen. Die Kirche hat eine “Botschaft der Freiheit” zu verkünden. Aber der Glaube ist theologisch “so ausgebaut und übersystematisiert, dass sich der Zugang nicht mehr so leicht eröffnet”.

“Den Kern freilegen, ohne die Haut zu verletzen” ist nach Rochus Spiecker OP ein schönes Motto für Theologen, aber zugleich ein Kunststück, das selten gelingt. Ratzinger nahm mit feinem Skalpell Einschnitte vor, die bei der Wehleidigkeit mancher Theologen als schmerzlich empfunden werden können. Gegenüber einer akademisch hochgezüchteten Theologie, die den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen lässt, plädierte er für den Sinnzusammenhang des Glaubens. Gegenüber Theologen, die es in der Kunst, sich unverständlich auszudrücken, schon weit gebracht und die Leuchtkraft des Glaubens mit einem rationalistischen Grauschleier verdunkelt haben, trat er für die Einfachheit des Glaubens ein. Damit spricht er gerade auch die einfachen Gläubigen an.

Es sind gewiss nicht allein die hohen kirchlichen Ämter, die Ratzingers Autorität begründen. Wenn er scheinbar unbewegt seine leise und helle Stimme erhebt, können sich auch kritisch distanzierte Geister dem Zauber dieser Persönlichkeit und der Macht seines Wortes kaum entziehen. Das muss man einmal erlebt haben – etwa vor einigen Jahren im unterkühlten Hamburg oder vor einigen Monaten in München mit Jürgen Habermas, wie er die vertrockneten intellektuellen Gemüter in Bewegung versetzt. Wie er die mystisch erlebte und vernünftig durchdachte Wirklichkeit des Glaubens mit den geistigen und moralischen Problemen der Gegenwart verbindet. Wie er dabei aber auch die Geister unterscheidet.

Der Name des neuen Papstes lässt auf ein gutes Omen für Dialog und Frieden schliessen, auf eine benediktinische Friedensmission, mit der Benedikt XVI. wohl auch die kirchliche Soziallehre imprägnieren wird. Mit einem konservativen Reformer auf die Suche nach den verschütteten Schätzen des Glaubens zu gehen und diese neu mit der Vernunft zu vermitteln, dürfte zu einem Abenteuer ganz besonderer, überkonfessioneller und kulturübergreifender Art werden.

Wolfgang Ockenfels

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