Benedikt, Familienkrise, Kirche
Papst-Interview im “Corriere della Sera”
Lob für seinen Vorgänger, “Humanae vitae” und die orthodoxe Theologie
Rom, Die Tagespost/aho/kath.net, 5. März 2014
Papst Franziskus hat erneut ein Interview gegeben. In der italienischen Tageszeitung “Corriere della Sera” äusserte er grosses Lob für Papst Benedikt XVI., Papst Paul VI. und die Enzyklika “Humanae vitae”. Ausserdem sprach er über seinen Führungsstil, die Krise der Familie und die Bedeutung Mariens für die Kirche.
Auf die Frage, ob er Benedikt XVI. bisweilen um Rat frage, antwortete Papst Franziskus mit einem klaren “Ja”. Benedikt sei keine Statue in einem Museum, fuhr Franziskus fort: “Er ist eine Institution.” Seine Weisheit sei ein Geschenk Gottes. Dass er zurückgetreten sei, sei überraschend gewesen. “Benedikt ist der erste und vielleicht wird es weitere geben”, sagte der Papst. Benedikt sei diskret und bescheiden, er wolle nicht stören. Sie hätten darüber gesprochen und sich dann gemeinsam entschieden, dass es besser sei, wenn er Menschen sähe, ausgehe und am Leben der Kirche teilnehme. “Ich dachte an die Grossväter, die mit ihrer Klugheit und ihren Ratschlägen die Familie stärken – und es nicht verdienen, in einem Altersheim zu enden.”
Ausdrücklich hob Papst Franziskus die Rolle seines Vorgängers bei der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Kirche hervor: “Benedikt XVI. war sehr mutig – er hat uns einen Weg eröffnet. Die Kirche hat auf diesem Weg viel getan.” Die Statistiken zum Phänomen der Gewalt gegen Kinder seien beeindruckend, aber sie zeigten auch klar, dass die grosse Mehrheit der Missbrauchsfälle im familiären und nachbarschaftlichen Umfeld geschehen. “Die katholische Kirche ist vielleicht die einzige öffentliche Institution, die sich mit Transparenz und Verantwortung bewegt hat”, so der Papst. Niemand anderer habe mehr getan. “Und dennoch ist die Kirche die einzige, die angegriffen wird.”
Angesprochen auf das Thema Familie und wiederverheiratete Geschiedene unterstrich der Heilige Vater, dass die Kirche einen langen Weg zurücklegen müsse. Die Familie mache eine sehr “ernsthafte Krise” durch, junge Leute heirateten kaum mehr. Die vielen Scheidungen gingen vor allem zu Lasten der Kinder, die darunter sehr litten. “Wir müssen eine Antwort geben. Aber darüber müssen wir tief nachdenken. Das ist es, was das Konsistorium und die Synode bereits tun. Man muss vermeiden, an der Oberfläche zu verbleiben.” Die Versuchung, jedes Problem kasuistisch zu lösen, sei ein Irrtum, eine Vereinfachung tiefgründiger Sachverhalte. “So machten es die Pharisäer: eine sehr oberflächliche Theologie.”
Zum Referat von Kardinal Kaspar beim Konsistorium zum Thema meinte Franziskus, dass dieser einen “schönen und tiefgehenden” Vortrag gehalten habe. Beim fünften Punkt sei das Thema der wiederverheirateten Geschiedenen angesprochen worden. “Ich wäre besorgt gewesen, wenn es im Konsistorium keine intensive Debatte gegeben hätte, das hätte nichts gebracht. Die Kardinäle wussten, dass sie sagen konnten, was sie wollten, und sie haben viele verschiedene Gesichtspunkte präsentiert, die bereichern. Der brüderliche und offene Austausch lässt das theologische und pastorale Denken wachsen. Davor habe ich keine Angst, im Gegenteil, das suche ich!” Der Begriff “nicht verhandelbare Werte” ergibt für ihn keinen Sinn: “Werte sind Werte und basta. Ich kann nicht sagen, dass von den Fingern einer Hand einer weniger nützlich sei als der andere. Darum verstehe ich nicht, in welchem Sinne es verhandelbare Werte geben könnte.”
Nicht die Lehre verändern, sondern in die Tiefe gehen
Franziskus stellte auch klar, dass Paul VI. mit der Enzyklika “Humanae vitae” den Mut gehabt hatte, gegen den Strom zu schwimmen. “Seine Genialität war prophetisch, er hatte den Mut, sich gegen die Mehrheit zu stellen, die moralische Disziplin zu verteidigen, eine kulturelle Bremse zu ziehen”, so der Papst. “Das Anliegen ist nicht, die Lehre zu verändern, sondern in die Tiefe zu gehen und dafür zu sorgen, dass die Pastoral die einzelnen Lebenslagen und das, wozu die Menschen jeweils imstande sind, berücksichtigt.” Auch darüber würde auf dem Weg der Synode gesprochen werden.
Er versuche, in die Praxis umzusetzen, was in der Debatte der Kardinäle bei den verschiedenen Kongregationen angesprochen worden sei. “In meinem Handeln warte ich darauf, dass mir der Herr die Inspiration gibt.”
Gefragt nach der Rolle der Frau in der Kirche führte Papst Franziskus den Theologen Hans Urs von Balthasar an. “Die Kirche hat den Artikel ‘die‘, das heisst, sie ist ihrem Ursprung nach weiblich… Das marianische Prinzip leitet die Kirche neben dem petrinischen. Die Jungfrau Maria ist wichtiger als jedweder Bischof und jedweder Apostel.” Eine theologische Vertiefung sei bereits in Gange.
Lob gab es für die orthodoxe Theologie. “Die orthodoxe Theologie ist ausgesprochen reich, und ich glaube, sie haben in diesem Moment grosse Theologen. Ihr Bild von Kirche und Synodalität ist fantastisch.”
Angesprochen auf den medialen Franziskus-Hype meinte der Papst: “Mir gefallen die ideologischen Interpretationen nicht, ein gewisser Papst-Franziskus-Mythos. Wenn man zum Beispiel behauptet, dass ich des nachts aus dem Vatikan gehe, um den Bettlern in der Via Ottaviano zu Essen zu geben. Das ist mir nie in den Sinn gekommen. Sigmund Freud sagte, wenn ich mich nicht irre, dass sich in jeder Idealisierung eine Aggression verstecke. Den Papst als eine Art Superman zu zeichnen, als eine Art Star, erscheint mir beleidigend. Der Papst ist ein Mensch, der lacht, weint, ruhig schläft und Freunde hat wie alle. Er ist ein normaler Mensch.”
Als Essenz seiner spirituellen Botschaft verstehe er “Zärtlichkeit und Barmherzigkeit”. Dies komme aus dem Evangelium. “Ich bin gerne unter Leuten, zusammen mit Leidenden, gehe gerne in die Pfarreien.” Zu den Marxismus-Vorwürfen, die manche erhoben haben, meinte Franziskus: “Ich habe nie die marxistische Ideologie geteilt, weil sie nicht wahr ist. Aber ich habe viele tüchtige Personen kennen gelernt, die sich zum Marxismus bekannten.”
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