Schrei nach Entrümpelung

Priester und Laien in dem einen Auftrag der Kirche

Zum fünfzigsten Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanums. Von Professor Andreas Wollbold

Die Tagespost, 10. Oktober 2012

Mit einem Frühling hat man das letzte Konzil gerne verglichen. Doch der Frühling verlangt auch nach etwas Unliebsamem, dem Frühjahrsputz. Denn die Sonne bringt Staub, Gerümpel und Spinnweben ans Licht. So wird die Jahreszeit der Hoffnung nur durch Grossreinemachen schön. Auch “50 Jahre Zweites Vatikanum” schreit förmlich nach Entrümpelung von manchem, was sich in den letzten Jahrzehnten angesammelt hat. Nur dann können seine Dokumente glänzen wie am ersten Tag. “Reform der Reform”, das ist nicht nur für den Gottesdienst angesagt. Denn die Staubschichten dessen, was man über dieses Konzil gelegt hat, sind eher in Metern als in Zentimetern zu messen. Beispiele?

Da bekräftigt es erneut und feierlich den Zölibat: “Die Heilige Synode billigt und bekräftigt von neuem das Gesetz für jene, die zum Priestertum ausersehen sind” (Presbyterorum Ordinis, Dekret über den Dienst und Leben der Priester, PO 16). Dieses Bekenntnis hindert viele nicht, genau das Gegenteil als Geist des Konzils auszugeben. Oder: “Der einzige Sinn des pfarrlichen Dienstes besteht im Heil der Seelen” (Christus Dominus, Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche, CD 31)? Genau diese Art von Seelsorge sucht man in nicht wenigen Pfarreien vergeblich. Da verlangt schliesslich das Konzil von den Priestern die Bereitschaft, sich bei noch so eindringlichen Wortmeldungen „dem Urteil derer zu unterstellen, die ein führendes Amt in der Leitung der Kirche Gottes ausüben” (PO 15). Aber inzwischen gilt: “Roma locuta, causa aperta. – Ein Wort aus Rom, und schon geht die Kritik los.”

“Ist die Kirche also nur ein religiöser Mensch-ärgere-dich-nicht-Verein?”

Was sagt dieses Konzil von den Priestern? Welches Verhältnis zu den Laien steht ihm vor Augen? Es hat einen einfachen und geradezu genialen Kunstgriff angewendet: Es hat sich auf die gemeinsame Aufgabe konzentriert. Ohne Gleichmacherei kommt dadurch das Verbindende zum Tragen. Die Kirchenversammlung hat also keine dogmatisch erschöpfende Bestimmung des Priesteramtes vorgelegt. Ihre Theologie des Priestertums beschränkt sich auf knappe Andeutungen. Darin kommt die uneingeschränkte Kontinuität mit den Aussagen der Kirchenväter, des Konzils von Trient und der Piuspäpste zum Ausdruck. Oft ist etwas anderes behauptet worden, wurde gar von einem revolutionären Priesterbild gesprochen. Das Zweite Vatikanum soll den Dienst am Wort vor den an der Eucharistie gestellt haben? Eindrucksvoll sieht PO 5 dagegen alles sakramentale und pastorale Wirken auf die Eucharistie hingeordnet. Das Konzil habe den Priester entsazerdotalisiert? So kann nur reden, wer die vorkonziliare Tradition verzerrt, so als sei der katholische Priester dort so etwas wie ein heidnischer Tempelbonze gewesen. Hat das Konzil ihm die Aura des “in persona Christi agere” genommen? PO 2 fasst dagegen knapp zusammen, was Ludwig Otts Dogmatik nicht prägnanter hätte sagen können: Das Sakrament der Weihe “zeichnet die Priester durch die Salbung des Heiligen Geistes mit einem besonderen Prägemal und macht sie auf diese Weise dem Priester Christus gleichförmig, so dass sie in der Person des Hauptes Christus handeln können” (vgl. Lumen Gentium 10). Nein, es gibt “das Konzil” in den Köpfen, und es gehört sicher zu dem, was den Frühjahrsputz dringend nötig hat.

Das “neue” Priesterbild des Zweiten Vatikanums zu suchen ist also nicht mehr als die Suche nach Nessy im nach ihm benannten schottischen Loch – reine fantasy, aber zu beliebt, um aufgegeben zu werden. Doch Kirche heute ist kein Unterhaltungsprogramm, und darum die ernste Frage: Was bringen die Dokumente dieses Konzils für das Miteinander von Priestern und Laien? Sie geben Hinweise darauf, wie die Aufgabe von beiden den Herausforderungen unserer Zeit besser entsprechen kann. Denn die Aufgabe ist enorm: allen Menschen die Tore für Christus aufzureissen. Dabei kann und will die Kirche in der Moderne auf keinerlei Rückenwind seitens des Staates mehr bauen. Sie sieht sich einer Welt gegenüber, die sich weithin abseits vom Christentum neu erfindet. Sie muss schliesslich Reste einer Standesgesellschaft abbauen, in der Adel, Klerus, Gelehrte, Bürger, Handwerker, Bauern und Arbeiter wie in weitgehend geschlossenen Stockwerken jeweils ihr eigenes standesgemässes Leben führen.

Dazu sprechen die Texte des Konzils eine deutliche Sprache: nicht über die Veränderungen jammern, sondern die Chancen darin nutzen! Die Chancen der Moderne für Priester und Laien, das sind eine grössere Nähe beider, eine gegenseitige effektive Stütze und die Motivation dadurch, dass jeder an seinem Platz sein Bestes tut. Theologischer gesagt: Priester und Laien sind aufeinander verwiesen. Zum einen ist das Priestertum kein Selbstzweck, sondern Dienst an der Verwirklichung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen. Auch das ist durchaus traditionell: Die Weihegnade dient der Kirche und nicht primär der eigenen Heiligung. Mit Vorliebe greifen die Dokumente dabei auf das dreifache Amt Christi zurück, des Priesters, Königs und Propheten. Denn Heiligung, Leitung und Verkündigung im vollmächtigen Sinn bleiben an die sakramentale Weihe gebunden.

Zum anderen erkennen die Gläubigen in einer weltlich gewordenen Welt nur umso mehr, wie sehr sie auf gute Priester als “Väter in Christus” angewiesen sind, die sie “geistlich in Taufe und Lehre gezeugt haben” (LG 28). Denn die soziale Stütze eines Kulturchristentums fällt nun weg. Die Luft zum Atmen ist nicht mehr katholisch. Umso klarer wird jedem Gläubigen: Christsein ist eine Gnade, die ihm durch den Dienst von Kirche und Amt vermittelt wird. “Wir sind Kirche” ohne das Amt gibt es eben nicht! Oder positiv: Priester sind für alle lebensnotwendig. Ihr Wirken ist tausend Mal mehr als bezahlte Vereinsarbeit. Es ist Zeugung von übernatürlichem Leben. Dabei vermeidet das Konzil allerdings die Einbahnstrasse, so als würde alles vom Amt ausgehen und als wären die Laien nur passive Gnadenempfänger. Nein, Zeugung von Leben ist Zeugung von Lebendigem. Das Wort Gottes, die Sakramente, das Leben in Christus, das Gebet, die Bewährung im Tun, all das sind Lebensmittel für alle. Darum gehört zu wirklicher Väterlichkeit die Freude am wachsenden Leben der Christen. Aus Milchbubis sollen ganze Kerle werden, die einmal ihren Hirten zur Seite stehen und mit anpacken können. Klerikalismus, autoritärem Gehabe und Einzelkämpfertum hat das Zweite Vatikanum darum eine klare Absage erteilt. Dafür hat es aber auch ein Bild vom mündigen Christen geprägt, der Gehorsam und Verantwortung miteinander zu verbinden weiss. Das Laienapostolat sagt nicht den priesterlichen Vätern im Glauben: “Weg da, jetzt komm ich!”, sondern: “Hier bin ich, du kannst mich doch sicher gebrauchen!” Gewiss, der Einsatz von Laien beruht auf Taufe und Firmung. Aber dadurch bilden sie nicht eine unabhängige Säule des Apostolates, sondern sie sind aufgerufen, sich im geordneten Ganzen einzubringen. Bei der Sendung in die Welt agieren sie tatsächlich weitgehend autonom, nur gebunden an die Werte und Gebote Christi. Innerhalb der Kirche dagegen ergänzen und stärken sie das Apostolat der Hirten und bringen es zur vollen Wirkung (AA 10).

Ein traditionelles Priesterbild also, verbunden mit einem anspruchsvollen Bild vom Gläubigen, der nicht nur für sich und seine Seele sorgt, sondern sich von der Kirche in die Pflicht nehmen lässt. Wunderbar! Genau das Richtige für unsere Zeit! Möchte man meinen. Doch vielfach ist das Gegenteil eingetreten. Nicht dass der Krieg aller gegen alle ausgebrochen wäre. Nein, das funktionale Priesterbild, verbunden mit einer Vorstellung vom Christentum als Lebensverschönerung, hat ein Miteinander auf niedrigem Niveau hervorgebracht. Man ist sich gerade so nahe, dass man einander nicht auf die Füsse tritt. Anything goes, und nur wer nicht zu allem lächelt, muss ausscheiden. Ist die Kirche also nur ein religiöser Mensch-ärgere-dich-nicht-Verein?

“Das ist das eigentliche Drama: Stell dir vor, es gibt den Himmel, und keiner will hin!“Viele glaubenstreue Priester ebenso wie Laien fühlen sich da auf verlorenem Posten. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, denn als Einzelkämpfer auszuharren. Die neuen Pfarrstrukturen, die jeden verbindlich einbinden, wirken da erstickend wie die Schlangen des Laokoon. Denn es gibt keine Communio ohne die gemeinsame Verpflichtung auf die Glaubenswahrheit und Treue zur Kirche. Vor allem gibt es die Not der Seelsorge. Wirkliche Sorge um die Seelen, um ihr Heil, darum, dass ein Mensch am Scheideweg das Leben und nicht den Tod wählt, fällt weithin aus. Und da soll man brav mitmachen und applaudieren? Das ist das eigentliche Drama: “Stell dir vor, es gibt den Himmel, und keiner will hin!”

Eine neue Sammlung um die Seelsorge, das also wäre fünfzig Jahre nach Konzilsbeginn an der Zeit. Die Aufgabe ist von niemandem allein zu bewältigen. An allen Ecken und Enden der Kirche muss einem Menschen dieselbe Einladung entgegenkommen: “Hab Mut, glaube nur!” Denn die kulturprägenden Mächte lehren ein Kind schon in der Krippe ein anderes Credo: “Lebe nach deinen Bedürfnissen!” Diese Mächte sind 24 Stunden auf Sendung, Tag für Tag und auf allen Kanälen. Auch sie sind Väter, die Leben zeugen – nämlich ein Bild vom Leben, in dem Gott allenfalls Gegenstand eines spirituellen Bedürfnisses sein kann. Wie soll darin das Evangelium Gehör finden? Wie soll ein Mensch sich bekehren können? Doch noch einmal: Nicht jammern, sondern die Chancen nutzen! Eine Milliarde Christen sind doch auch kein Pappenstiel. Sie brauchen nur einen klaren Blick für die Aufgabe und den beherzten Willen eines jeden, das Seine zu tun.

Konkret, wie könnte das Miteinander von Priestern und Laien aussehen? Was wir am schmerzlichsten vermissen, ist wohl eines der wichtigsten Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils: eine “vertrauensvolle und grosszügige Gesinnung” untereinander (LG 28). Freude an der Kirche entsteht nicht durch flotte Slogans und Hochglanzprospekte, sondern durch die Erfahrung: “Ich bin dankbar für das, was Gott in den anderen wirkt.” Stattdessen herrscht eine seltsame Naherwartung: “Was für ein Blödsinn erwartet mich denn schon wieder als nächstes?” Daraus wird nie und nimmer ein Miteinander, allenfalls ein schlaues Leben und Leben-lassen. Es gibt undiskutable Grundlagen des Glaubens – Bischof Franz-Josef Overbeck hat dies etwa zum Dialogprozess klargestellt. Ein katholischer Christ nimmt sie nicht nur zähneknirschend hin, womöglich die Faust in der Tasche bis zum nächsten Memorandum. Er glaubt sie, und was er nicht versteht, dazu setzt er sich wie Maria Magdalena Jesus zu Füssen und hört ihm so lange zu, bis ihm die tiefe Wahrheit gerade des Anstössigen aufgeht. Innerkirchliche Laienbeteiligung war in den letzten Jahrzehnten vergleichsweise einfach zu in-stitutionalisieren. Der Organisationsweltmeister Deutschland hat flächendeckend Pfarrgemeinderäte, Erstkommunion- und Firm-Katecheten, vor Selbstbewusstsein strotzende Verbände, Referenten, Fachstellen und manches mehr hervorgebracht. Bei weitem nicht mitgehalten hat demgegenüber die Aufgabe der Laien für die Heiligung der Welt. Auf diesem Gebiet ist es Zeit für einen Kassensturz: Was hat tatsächlich etwas für die Heiligung der Welt bewirkt? Ist man nicht vielfach dem Schwereren ausgewichen, der eigentlichen Evangelisierung?

Gibt es etwa auch nur ein Programm im Fernsehen, das man anschauen kann, ohne irgendwann rot zu werden – den Kinderkanal vielleicht einmal ausgeschlossen? Wohin ist die lebendige Szene katholischer Literatur ausgewandert? Wie viele Schulen, Kindergärten, Frauenhäuser oder Drogenberatungen in Trägerschaft einer neuen geistlichen Bewegung gibt es? Warum geben die neuen Formen der Begräbniskultur rasant die christlichen Wurzeln auf, und das einzige, was kirchlicherseits dazu einfällt, sind Urnenkirchen?

Schliesslich: Berufstätige Laien in der Seelsorge sind Mitarbeiter von Bischöfen und Priestern. Die Richtlinienkompetenz liegt also bei denen, die als Hirten die amtliche Verantwortung tragen. Laien arbeiten zu, arbeiten mit, verarbeiten es (auch manches, was Amtsträger vielleicht links liegen gelassen haben). In den Anfängen der Laien in der Seelsorge nannte man die Frauen Seelsorgehelferinnen. Der Begriff trifft genau das, worum es geht, auch wenn man aus Gründen des Berufsprestiges vielleicht andere Bezeichnungen gewählt hat. Helfer in der Seelsorge zu sein, vielleicht auch bei einem Priester, der deutliche Defizienzen aufweist, das ist geistlich und menschlich anspruchsvoll und verlangt einige Demut. Aber angesichts der Not der Seelsorge darf nicht verschleiert werden: Hirten sind die Priester und niemand sonst. Alles andere führt in Spielwiesen, Grabenkämpfe und pastorale Unfruchtbarkeit.

Eine letzte Chance der Moderne: Das mit dem Frühjahrsputz muss man nicht zu eng sehen. Man kann damit auch schon im Herbst beginnen. Im Herbst 2012.

Der Autor hat den Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwigs-Maximilians-Universität München inne.

Prof.Dr.Andreas Wollbold
PresbyterorumOrdinis: Dekret Dienst und Leben der Priesters
ChristusDominus: Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe
LumenGentium: Dogmatische Konstitution über die Kirche

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