Papst: Wille zur Gemeinschaft ist Gegengift zu Extremismus

Am 20. November 2025 erscheint ein neues Buch von Papst Leo XIV. im Vatikanverlag LEV: “La forza del Vangelo. La fede cristiana in 10 parole” (Die Kraft des Evangeliums. Der christliche Glaube in 10 Worten). Lorenzo Fazzini hat für das Buch Papst-Texte zusammengestellt; außerdem bietet das Buch einen bisher unveröffentlichten Text von Leo XIV., nämlich die Einleitung. Vatican News dokumentiert diese in einer Arbeitsübersetzung

Quelle

Einleitung

Leo XIV.

Zehn Worte. Das ist nicht viel, aber doch genug, um über den Reichtum des christlichen Lebens zu sprechen. Um damit anzufangen, möchte ich von den zehn Worten drei auswählen, als Auftakt für einen imaginären Dialog mit all jenen, die diese Seiten lesen werden: Christus, Gemeinschaft, Frieden. Auf den ersten Blick könnten diese drei Begriffe ohne Verbindung scheinen, ohne Folgen füreinander. Doch so ist es nicht: Sie können in Bezug zueinander treten. Das möchte ich gerne mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, vertiefen, damit wir gemeinsam das Neue, das sie bieten, und ihre Bedeutung verstehen.

Zuerst die Zentralität Christi. Jeder Getaufte hat das Geschenk der Begegnung mit Ihm erhalten. Er ist von seinem Licht und seiner Gnade erreicht worden. Der Glaube ist genau dies: Nicht eine titanische Anstrengung, um einen übernatürlichen Gott zu erreichen, sondern die Aufnahme Jesu in unser Leben, die Entdeckung, dass das Antlitz Gottes nicht entfernt ist von unserem Herzen. Der Herr ist weder etwas Magisches noch ein unerkenntliches Geheimnis, er ist uns in Jesus nahe gekommen, in diesem Menschen, der in Betlehem geboren wurde, in Jerusalem starb, auferstand und heute lebendig ist. Heute! Das Geheimnis des Christseins besteht darin, dass Gott sich mit uns vereinen will, uns nahe sein will, unser Freund werden will. So, dass wir zu Ihm werden.

Der heilige Augustinus schreibt: “Versteht ihr, Brüder, erfasst ihr die Gnade, die Gott uns schenkte, als er uns Christus zum Haupt gab? Staunt, freut euch, Christus sind wir geworden. Denn wenn jener das Haupt ist, wir die Glieder, dann ist der ganze Mensch er und wir”. (1)
Der christliche Glaube ist Teilhabe am göttlichen Leben durch die Erfahrung der Menschlichkeit Jesu. In Ihm ist Gott nicht mehr nur ein Konzept oder ein Rätsel, sondern eine uns nahe Person. Augustinus hat all dies in seiner Bekehrung erlebt, als er die Kraft der Freundschaft Christi mit Händen griff, was sein Leben radikal veränderte: “Und wo war ich, als ich dich suchte? Du warst vor mir, ich aber hatte mich selbst verlassen und fand mich nicht, geschweige denn dich!”(2)

Christus ist, darüber hinaus, der Anfang der Gemeinschaft. Seine ganze Existenz ist durch seinen Willen, Brücke zu sein, gekennzeichnet: Brücke zur Menschheit und dem Vater, Brücke zu den Menschen, auf die er traf, Brücke zwischen Ihm und all jenen, die an den Rändern waren. Die Kirche ist diese Gemeinschaft Christi, die in der Geschichte weitergeht. Und es ist eine Gemeinschaft, die in der Einheit die Vielfalt lebt.

Augustinus nutzt hier ein Bild, das des Gartens, um die Schönheit der Gemeinschaft der Gläubigen zu veranschaulichen, die aus den eigenen Unterschieden eine Vielfalt macht, welche zur Einheit hinstrebt und die nicht der Unordnung oder Verwirrung verfällt: “Brüder, dieser Garten des Herrn besitzt nicht nur die Rosen der Märtyrer, sondern auch die Lilien der Jungfrauen, das Efeu der Eheleute und die Veilchen der Witwen. Mit einem Wort, meine Lieben, in keinem Lebensstand sollen die Menschen an ihrer Berufung zweifeln: Christus ist für alle gestorben. In aller Wahrheit steht über ihn geschrieben: ‘Er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen’ (1 Tim 2,4).” (3)

Diese Vielfalt wird Gemeinschaft im einen Christus. Jesus vereint uns unabhängig von unserer Persönlichkeit, unserer kulturellen und geografischen Herkunft, unserer Sprache und unserer Geschichte. Die Einheit, die Er unter seinen Freunden herstellt, ist geheimnisvoll fruchtbar und spricht zu allen: “Die Kirche besteht aus allen, die mit ihren Brüdern in Eintracht leben und ihre Nächsten lieben”. (4)

Die Christen können und müssen in der heutigen Zeit, die von zahlreichen Kriegen gezeichnet ist, Zeugnis geben von diesem Einklang, dieser Geschwisterlichkeit, dieser Nähe. Dies hängt nicht allein von unseren Kräften ab, sondern ist ein Geschenk von oben, ein Geschenk dieses Gottes, der uns versprochen hat, mit seinem Geist stets an unserer Seite, lebendig bei uns zu sein: “Wir haben den Heiligen Geist, wenn wir die Kirche lieben”. (5)

Die Kirche, ein Haus verschiedener Völker, kann zum Zeichen dafür werden, dass wir nicht verurteilt sind, in ständigem Konflikt zu leben, und sie kann den Traum einer versöhnten, im Einklang lebenden, befriedeten Menschheit verkörpern. Dieser Traum hat eine Basis: Jesus, sein Gebet zum Vater für die Einheit der Seinen. Und wenn Jesus zum Vater gebetet hat, müssen wir umso mehr zu ihm beten, damit er uns das Geschenk einer befriedeten Welt gewähren möge. Und, schließlich, aus Christus und der Gemeinschaft herstammend: Frieden. Ein Frieden, der weder eine Frucht der Unterdrückung noch der Gewalt ist, und auch kein Kind des Hasses oder der Rache.

Es ist Christus, der mit den Wunden seines Leidens den Seinen begegnet und sagt: “Friede sei mit euch”. Die Heiligen haben bezeugt, dass die Liebe den Krieg besiegt, dass nur die Güte die Bösartigkeit entwaffnet und dass Gewaltlosigkeit Unterdrückung ein Ende machen kann. Wir müssen unserer Welt ins Gesicht sehen: Wir können strukturelle Ungerechtigkeiten – Reiche werden immer reicher und im Gegenzug Arme immer ärmer – nicht länger hinnehmen. Hass und Gewalt riskieren, über die Ufer zu treten und abfallendes Gelände zu überfluten, bis sich die Not unter den Völkern ausbreitet: Der Wille zur Gemeinschaft, das gegenseitige Anerkennen als Geschwister, ist das Gegengift zu jeglichem Extremismus.

Pater Christian de Chergé, der Prior des Klosters von Tibhirine, der mit weiteren 18 Ordensmännern und -frauen als Märtyrer in Algerien seliggesprochen wurde und Terrorismus von Angesicht zu Angesicht erlebte, hat von Christus – in Gemeinschaft mit Ihm und allen Kindern Gottes – die Gabe erhalten, Worte zu schreiben, die auch heute noch gelten, weil sie von Gott kommen. Nachdem das Kloster gewaltsam eingenommen worden war, fragte er sich, welche Worte er denn nach einer solch schwierigen Prüfung im Gebet an Gott richten könne, und schrieb: “Habe ich das Recht zu bitten ‘Entwaffne ihn’, wenn ich nicht zuvor sage ‘Entwaffne mich’ und ‘Entwaffne uns’, als Gemeinschaft? Das ist mein tägliches Gebet.” Genau auf jenem nordafrikanischen Gebiet hatte der heilige Augustinus, etwa 1.600 Jahre früher, bemerkt: “Lasst uns gut leben, dann werden die Zeiten gut sein. Wir sind die Zeiten.” (6)

Wir können auf unsere Zeit Einfluss nehmen durch unser Zeugnis, durch das Gebet zum Heiligen Geist, auf dass er uns zu mutigen Männern und Frauen eines ansteckenden Friedens mache, die die Gnade Christi aufnehmen und auf der Welt den Duft seiner Nächstenliebe und Barmherzigkeit verbreiten. “Wir sind die Zeiten”: Lassen Sie uns angesichts der Gewalt, deren Zeugen wir werden, nicht in Trostlosigkeit verfallen, lassen Sie uns von Gottvater täglich die Kraft des Heiligen Geistes erbitten, auf dass in den dunklen Zeiten der Geschichte die lebendige Flamme des Friedens leuchten möge.

Vatikanstadt, 16. Oktober 2025

1 Heiliger Augustinus, Kommentar zum Johannesevangelium, 21,8.

2 Ebd., Bekenntnisse, V, 2, 2.

3 Ebd., Sermo, 304, 3.

4 Ebd., Sermo, 359, 9.

5 Ebd., Kommentar zum Johannesevangelium, 32, 8,8.

6 Ebd., Sermo 80,8.

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