Vergebung auf ruandisch

Vergangenheitsbewältigung in Ruanda – Im Bergdorf Magi leben Überlebende des Genozids mit Vergewaltigern und Mördern Seite an Seite. Wie ein katholisches Reintegrationsprojekt die Normalität zurückgebracht hat

Quelle
Ruanda
Ruanda – Wikipedia

18.07.2024

Veronika Wetzel

Eine Hacke schwingt durch die Luft, sinkt wieder auf den Boden, gräbt sich tief in die rote Erde ein und wird nach hinten gezogen. Die nächste Hacke schwingt nach oben, fällt, zieht. Die immer gleiche Bewegung wiederholt sich im immer gleichen Rhythmus. Die Arbeiter reden leise miteinander, während sie die rote Erde zwischen den grünen Bananenbäumen und Maniokpflanzen umgraben. Die Mittagssonne brennt auf das Feld, irgendwo blökt eine Ziege. Das Normale, der Alltag, ist hier in Magi, in der Nähe der Grenze zu Burundi, etwas Außergewöhnliches. Denn in dem Dorf, das wie abgeschieden von der Welt in den Bergen Ruandas liegt und nur über eine holprige Straße aus Erde zu erreichen ist, leben mehr als 500 ehemalige Gefangene, die während des Genozids 1994 in Ruanda ihre Dorfmitbewohner ermordeten, vergewaltigten, ausraubten, Seite an Seite mit den gut 400 Überlebenden.

Hier wurde das Unvorstellbare, das pure Grauen zum Normalen, zum Alltag. Heute arbeiten sie nebeneinander auf dem Feld, verkaufen gemeinsam ihre Ernten auf den Märkten, helfen sich gegenseitig aus, wenn jemand krank wird. Man fragt sich, wie das Leben hier wieder so normal werden konnte.

Die Antwort steht in kariertem Hemd zwischen den Bananenbäumen. Sie heißt Zephyrin Kizimana, hat strahlende Augen, schiefe Zähne, die beim Lächeln zum Vorschein kommen und einen festen Händedruck. Er hat selbst bei den Massakern mitgemacht, inzwischen ist er in dem Dorf Leiter eines Projekts der katholischen Friedenskommission “Justitia et Pax”, das ehemalige Gefangene wieder in die Dorfgemeinschaft integrieren möchte. Der nationale Minister für die Einheit, Jean Bizimana, kündigte an, “bald” 22.000 Gefangene, die sich am Genozid beteiligt haben, aus den Gefängnissen entlassen zu wollen. Dabei handelt es sich um die Straftäter, die zu einer Haftstrafe von 20 bis 30 Jahren verurteilt wurden. Damit werden die letzten Inhaftierten des Genozids freigelassen, diejenigen, die eine lebenslängliche Haftstrafe bekommen haben, ausgeschlossen.

Kriterien von Freilassungen unklar

Ruanda unterteilte nach den Massenmorden von 1994 die Täter in drei Kategorien: Diejenigen, die auf staatlicher Ebene den Genozid planten und anordneten, sowie Vergewaltiger bekamen bis zu 30 Jahre oder lebenslängliche Strafen, solche, die Morde begangen haben oder versuchten, zu morden und folterten oder Tote verstümmelten, zwischen fünf und 30 Jahre und diejenigen, die Eigentum beschädigt oder gestohlen haben, mussten Geldstrafen zahlen oder Gemeinschaftsarbeit leisten. Wer sich allerdings schuldig bekannte und um Verzeihung bat, konnte seine Haftstrafe deutlich verkürzen. Die Frage, wie überprüft wird, ob das Gedankengut der Menschen sich wirklich verändert habe, wird immer wieder umschifft. Letztlich bleibt unklar, an welche Kriterien die Freilassung geknüpft sind. Wegen überfüllter Gefängnisse wurden immer wieder Massen von Gefängnisinsassen freigelassen – im Jahr 2003 waren es 40.000. Die Angst in der Bevölkerung, dass eine neue Welle der Gewalt über das Land hereinbrechen würde, war groß, die Kritik ebenso.

Ruanda hat sich in den vergangenen 30 Jahren stark verändert: Die einfachen Lehmhütten sind zumindest in den Städten Kigali und Butare modernen Hochhäusern gewichen, dicke SUVs fahren nun statt Eselskarren durch das Land, die Namen der Städte und Straßen wurden nach dem Genozid verändert. Die Gefangenen, die über 20 Jahre inhaftiert waren und ihre Haftstrafe nicht durch Geständnis in Gemeinschaftsarbeit auf den Feldern oder zum Häuserbau umwandeln konnten, kommen in ein neues, ihnen fremdes Land. Doch nicht nur das Land hat sich verändert, oft auch das private Umfeld. Manche Frauen haben neue Männer, neue Kinder, eine neue Familie. Ehemalige Gefangene wieder in die Gesellschaft zu integrieren, scheint beinahe unmöglich.

Heilige Messe besiegelt Versöhnung offiziell

Doch insbesondere die katholische Kirche versucht genau das zu leisten: Die meisten Versöhnungsprogramme in Ruanda sind von der Kirche. “Justitia et Pax” bietet in sechs Pfarrgemeinden in der Diözese Butare solche Wiedereingliederungsprogramme an. Dabei werden sowohl die aus dem Gefängnis Entlassenen als auch die Überlebenden über mindestens sechs Monate hinweg jeweils einmal pro Woche in der Pfarrei unter der Leitung des Pfarrers in verschiedenen Themen unter Einbezug des Evangeliums unterrichtet. Es geht um Verzeihung, um Barmherzigkeit, aber auch um politische Themen, wie zum Beispiel die Geschichte Ruandas oder was es heißt, ein Ruander zu sein. Gegen Ende der ersten Phase, des getrennten Unterrichts, werden die Gruppen von Ex-Gefangenen und Überlebenden dann zusammengeführt, die Menschen werden ermutigt, ihre Taten einzugestehen und vor der Gemeinde um Verzeihung zu bitten.

Zum Abschluss des Programms feiern die Teilnehmer gemeinsam eine heilige Messe, die offiziell die Versöhnung besiegeln soll. Da es das Reintegrationsprogramm von “Justitia et Pax” erst seit 2020 gibt, nehmen viele, die bereits vor Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurden und wieder zu Hause leben, erst jetzt an den Wiedereingliederungsprogrammen teil. Die Pfarrer in den Gemeinden informieren über die Programme und ermutigen die Leute, daran teilzunehmen, doch die Teilnahme ist freiwillig.

Das Absurde ist normal

Die Bewohner von Magi haben das Programm von “Justitia et Pax” bereits abgeschlossen. Ein paar von ihnen versammeln sich unter dem Schatten eines Baumes. François, ein klein gewachsener Mann mit schmalen Schultern und hartem Kiefer beginnt zu erzählen: Er habe viele Menschen ermordet, er wisse nicht mehr, wie viele. Er war es, der andere dazu aufgestachelt hat, möglichst viele Tutsi zu ermorden. Darunter den Ehemann und die Kinder von Fortune. Er zeigt auf die Frau neben sich. Es scheint unglaublich, dass die Frau einfach neben dem Mörder ihres Mannes steht, dass der Mörder so offen darüber spricht. Es ist unglaublich, wie normal das Absurde in Ruanda ist. 13 Jahre war François im Gefängnis. Während seiner Haft habe er angefangen, seine Taten zu bereuen und als Zeichen der Reue dem Vater von Fortune eine Kuh geschenkt. In Ruanda werden Kühe normalerweise als Brautpreis gezahlt, nach dem Genozid wurden sie auch ein Symbol der Versöhnung.

Trotzdem: Das Misstrauen ist groß, als Francois 2007 aus dem Gefängnis kommt. “Die Leute hatten Angst, als ich zurückgekommen bin. Sie sind vor mir geflohen.” Fortune hakt in die Erzählung ein: “Ich hatte Angst, als er freigekommen ist, ich habe ihn gemieden, so gut es ging. Ich habe immer einen anderen Weg zum Feld genommen, um ihm nicht begegnen zu müssen.” Sie trägt ein buntes Kopftuch, ein T-Shirt von “Justitia et Pax” und einen Rosenkranz um ihren Hals. Das Programm von “Justitia et Pax” und der Glaube haben ihr Frieden geschenkt: “Ich habe an Christus gedacht, der seinen Mördern verziehen hat, und das hat auch mir die Kraft gegeben, dem Mörder meiner Familie zu verzeihen”, sagt sie, während sie Francois lachend in den Arm nimmt. Der Glaube hat in Magi das scheinbar Unmögliche vollbracht: Er hat die Normalität zurückgebracht.

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