“Wahrheit ist keine Mehrheitsfrage”

Im Jahr 2025 jährt sich das Erste Ökumenische Konzil von Nizäa zum 1700. Mal. Papst Franziskus will an den Feierlichkeiten teilnehmen. Ein Gespräch mit dem Kirchenhistoriker Michael Fiedrowicz, Theologische Fakultät in Trier, über die Streitkultur der frühen Kirche

Quelle
Bekenntnis von Nicäa – Wikipedia
Kirche und Staat im frühen Christentum: Kostenloser Download, Ausleihe und Streaming : Internet Archive
Die ökumenische Premiere der Kirche | Die Tagespost (die-tagespost.de)
Kirchenhistoriker Michael Fiedrowicz
Der Maler Michael Damaskinos

13.07.2024

Regina Einig

Herr Fiedrowicz, das Konzil von Nizäa war das erste ökumenische Konzil der Christenheit. Inwiefern wurde es konstitutiv für den Anspruch und das Selbstverständnis späterer Konzilien?

Sehr klar beschrieb Athanasius, der damals als Diakon und Sekretär des Bischofs von Alexandrien am Konzil teilnahm, wie die Beschlüsse jener Kirchenversammlung theologisch einzuordnen seien. Er betonte, dass die Bischöfe in ihrer Formulierung klar zwischen Disziplinar- und Glaubensfragen unterschieden: “Was den Ostertermin betrifft, schrieben sie:

;Folgendes wurde beschlossen. ‘Denn man beschloss damals, dass alle Folge leisten sollten. Was den Glauben betrifft, haben sie jedoch nicht geschrieben: ;Es wurde beschlossen’, sondern: ;So glaubt die katholische Kirche’, und sogleich bekannten sie, wie sie glauben, um zu zeigen, dass ihr Glaube nicht neuartig, sondern apostolisch ist, und dass, was sie aufgeschrieben haben, von ihnen nicht erfunden wurde, sondern das ist, was die Apostel gelehrt haben.”

Das Konzil zog also allem eigenmächtigen Beschließen in Glaubensfragen klare Grenzen. Es formulierte ein Bekenntnis des unverfälscht zu bewahrenden apostolischen Glaubens in Form eines anti-häretisch akzentuierten Symbolum, wie es schon zuvor in der Taufvorbereitung und verwendet wurde.

Inwiefern war das Konzil stilbildend für christliche Streitkultur?

Ihrem Selbstverständnis nach ging es den frühchristlichen Konzilien insgesamt um den Konsens in strittigen Fragen. Allerdings wusste man sehr wohl: Wahrheit ist keine Mehrheitsfrage. Sie existiert oder sie existiert nicht. Die Verbindlichkeit der Konzilien, zumindest in Glaubensfragen, resultierte nicht einfach daraus, dass eine Mehrheit etwas beschlossen hatte. Im Gegensatz zu Ansätzen moderner Diskurstheorien waren die Väter der Kirche überzeugt: Nicht der Konsens begründet die Wahrheit, sondern die Wahrheit den Konsens. Die Einmütigkeit so zahlreicher Personen galt immer als etwas, das rein menschliches Vermögen grundsätzlich übersteigt. Wo Einmütigkeit gelingt, zeigt sich in ihr die überwältigende Evidenz der Wahrheit selbst. Die Einmütigkeit begründet also nicht die Verbindlichkeit, sondern bezeugt die sich manifestierende Wahrheit, auf der alle Verbindlichkeit erst beruht. Die Konsensfähigkeit des nizänischen Glaubensbekenntnisses resultierte nun aber gerade daraus, dass dieses sich durch das Merkmal der Apostolizität ausweisen konnte: “Die ganze Ökumene stimmte überein, weil der Glaube dem apostolischen Gut entstammte”, schrieb um 400 der syrische Bischof Severian von Gabala. Der synchrone Konsens der Konzilsbischöfe war also das Ergebnis ihres diachronen Konsenses mit dem Glauben der Apostel.

“Im Gegensatz zu Ansätzen moderner Diskurstheorien waren die Väter der Kirche überzeugt: Nicht der Konsens begründet die Wahrheit, sondern die Wahrheit den Konsens”

In den Texten der frühen Kirche begegnet der Leser der Auffassung, dem Glaubensbekenntnis von Nizäa nichts hinzufügen zu können. Was ist da dran?

Kirchenväter wie Athanasius und Hilarius sprachen von der Autarkie oder Suffizienz des nizänischen Symbolum. In der Tat genügte diese Definition zur Klärung der damaligen Frage, ob der Logos beziehungsweise der Sohn auf die Seite Gottes oder der Geschöpfe gehört. Nachdem diese Frage verbindlich entschieden war, erhob sich eine neue Fragestellung: wie verhalten sich dann die göttliche und die menschliche Natur Christi zueinander? Die rechte Austarierung der göttlichen und menschlichen Wesenheit Christi war dann die Aufgabe der folgenden Konzilien von Ephesus 431 und Chalcedon 451.

Welche Rolle spielten Dissidenten-Bischöfe wie Athanasius und Hilarius, als die Mehrheit ihrer Amtskollegen sich nicht zuletzt unter dem Druck der kaiserlichen Religionspolitik vom nizänischen Glaubensbekenntnis distanzierte?

Der Chronist Sulpicius Severus zählte zu diesen unbeugsamen Glaubenszeugen, die sich nicht opportunistisch dem Mainstream anpassen wollten, auch Paulinus, den Bischof von Trier, der in die Verbannung gehen musste und dort, im kleinasiatischen Phrygien, als Bekenner verstarb. Er habe zu den wenigen gehört, “denen der Glaube kostbar und die Wahrheit vorrangig waren”. Im Blick auf Bischof Athanasius zeigte John Henry Newman sehr anschaulich, wie es im Laufe der Kirchengeschichte oft nur Einzelne waren, die gegen alle Widerstände die Wahrheit bezeugten und ihre Weitergabe an spätere Generationen ermöglichten.

Warum scheiterten letztlich alle Versuche, nach dem Konzil von Nizäa dessen Glaubensbekenntnis durch vage Kompromissformeln zu ersetzen?

Kaiser Konstantius II. setzte den religionspolitischen Kurswechsel seines Vaters Konstantin in forcierter Weise fort. Auch ihm ging es primär um die Ruhe im Römischen Reich, der theologische Kontroversen abträglich waren. Das nizänische Homousios – gleichen Wesens mit dem Vater – wurde durch ein unbestimmteres Homoios – ähnlich gemäß der Schrift – ersetzt. Vordergründig erschien das als kluger Schachzug, um mit dieser Formel alle Parteien irgendwie zufriedenzustellen. Hieronymus kommentierte den faktischen Sieg der Nizänums-Gegner mit dem viel zitierten Wort: “Der ganze Erdkreis seufzte auf und entdeckte verwundert, dass er arianisch sei.” Bischof Hilarius von Poitiers beklagte, man habe sich “unter dem schönen Namen des Friedens auf Schleichwegen mit dem Unglauben verbündet”. Letztlich musste jedoch der Versuch scheitern, Glaubenseinheit dadurch zu erzielen, dass man die theologischen Kernfragen ausklammerte, präzise Formeln vermied und sich in einen Biblizismus flüchtete, das heißt die Schrift zur exklusiven Argumentationsinstanz erhob. Die nach dem Trial-and-Error-Prinzip nacheinander ins Spiel gebrachten Kompromissformeln hatten sich nicht als tragfähig erwiesen. Die scheinbar so fromme Lösung, den Glauben an Christus allein auf das Wort der Schrift zu verweisen, ließ den einzelnen Glaubenden in der Frage nach dessen wahrer Bedeutung allein. Die Bibel wurde den streitenden Theologenparteien ausgeliefert. Die Erwartung, wenn nur alle auf das Wort Gottes hörten, müssten sie schon erkennen, dass sie im Tiefsten einig sind, erfüllte sich nicht. Indem die Kirche zeitweise auf ihre dogmatische Entscheidungskompetenz verzichtete, hatte sie die Lösung der Glaubensfragen an die Politik delegiert, die wiederum rein pragmatisch agierte. Die Konsequenzen notierte Hilarius von Poitiers:

“So ist ein Glaube entstanden, der sich mehr nach dem Zeitgeist als nach den Evangelien richtet, indem er Jahr für Jahr neu niedergeschrieben und nicht entsprechend des Glaubensbekenntnisses festgehalten wird.”

“Indem die Kirche zeitweise auf ihre dogmatische Entscheidungskompetenz verzichtete, hatte sie die Lösung der Glaubensfragen an die Politik delegiert”

Die Kirchenväter haben den “einfachen Glauben” in den intellektuellen Auseinandersetzungen der frühen Kirche gegen jene verteidigt, die mit dem Herrenwort “Suchet, und ihr werdet finden” (Mt 7,7) – modern gesprochen – “weiterdenken” wollten. Warum?

Die Ambition “weiterzudenken” war schon im 2. Jahrhundert Kennzeichen der Gnostiker, die sich hierfür ausdrücklich auf das genannte Herrenwort beriefen. Sie wollten den Glauben der Kirche zugunsten einer höheren Erkenntnis übersteigen und hinter den biblischen Worten ganz andere Geheimnisse aufspüren, die selbst den Aposteln verborgen geblieben wären. Die einfachen Gläubigen waren in ihren Augen bemitleidenswert, zurückgeblieben und naiv, da sie das kirchliche Glaubensbekenntnis ganz wörtlich verstanden und ebenso den Wortlaut der Heiligen Schrift ernstnahmen. Bischöfe wie Irenäus, Hilarius und Augustinus verstanden sich demgegenüber stets als Anwälte des einfachen Glaubens und seiner grundlegenden Einsichten. Ihre theologische Verantwortung sahen sie vor allem darin, den gemeinsamen Grund des Taufglaubens zu schützen und die schlichten Gläubigen vor der elitären Anmaßung der Intellektuellen, seien es Gnostiker, Manichäer oder theologische Rationalisten sonstiger Couleur, zu bewahren.

Tertullian zufolge kann es bei einer einzigen und eindeutigen Lehre kein endloses Suchen geben. Unter welchen Voraussetzungen sind theologische Auseinandersetzungen nach dieser Maßgabe noch sinnvoll?

Die Äußerung bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit den Gnostikern im 2. Jahrhundert, die tatsächlich den Glauben der Kirche ständigen Neu-Interpretationen unterwarfen. Tertullians Verdikt darf jedoch nicht verallgemeinert werden. Augustinus beispielsweise sah im Aufkommen von Irrlehren geradezu ein Stimulans, um die Katholiken aus ihrer geistigen Lethargie aufzurütteln und den Glauben tiefer zu durchdenken. In seinem Werk “Über den Gottessstaat” schrieb er:

“Denn vieles, was zum katholischen Glauben gehört, wird, sobald es der hitzige und ruhelose Geist der Häretiker anficht, zwecks ihrer Abwehr sorgfältiger erwogen, klarer erkannt und nachdrücklicher verkündet, so dass das Aufwerfen einer Streitfrage seitens des Gegners Anlass zum Lernen gibt.”

Welche Erfahrungen der Konzilsväter im Spannungsverhältnis von Kirche und weltlicher Macht können für die Christen von heute aufschlussreich sein?

Eine wichtige Lektion wäre die Einsicht, wie schnell sich das Blatt wenden und die Kirchenpolitik ändern kann. Man denke an die enthusiastische Schilderung, wie sie Eusebius in seiner Konstantin-Biographie bot. Der Kaiser lud zum Konzilsabschluss die Bischöfe zum Gala-Dinner in seinen Palast: “Kein Bischof fehlte an der Tafel des Kaisers. Da lagen sie nun auf dem gleichen Polster wie der Kaiser. Leicht hätte man das für ein Bild vom Königreich Christi halten können.” Der Kirchenhistoriker Hugo Rahner kommentierte schon 1943 in seinem lesenswerten Werk “Abendländische Kirchenfreiheit”: “Das Königreich Christi ist noch nie von Bischöfen aufgebaut worden, die auf kaiserlichen Polstern ruhen. Freiheit wird nur im Kampf geboren.”

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