Hier behandelt Sie Prof. Dr. Influencer

Psychische Erkrankungen sind heute enttabuisiert. Das ist gut, aber kein Grund, auf Quacksalber zu hören, die auf Social Media wissensfrei sich und uns therapieren

Quelle
Christliche Influencer: In der Aufmerksamkeitsspirale (herder.de)

20.08.2023

Stephan Baier

Sie suchen nach maximaler Aufmerksamkeit, legen verführerisches oder provokatives Verhalten an den Tag, nehmen uns mit auf die Achterbahn ihrer eigenen Gefühle, neigen zu Theatralik und Dramatisierung, wissen andere zu beeinflussen und sind selbst von anderen beeinflusst. Heute bezeichnen wir sie elegant als “Influencer”, früher nannte man sie “Hysteriker”.

Tatsächlich beschreibt die US-amerikanische Klassifikation psychischer Störungen (DSM) die “histrionische Persönlichkeitsstörung”, früher Hysterie genannt, so wie oben beschrieben. Die ICD, die Klassifikation der UN-Weltgesundheitsorganisation WHO, argumentiert ähnlich: Egozentrik, Selbstbezogenheit, dauerndes Verlangen nach Aufmerksamkeit, Oberflächlichkeit und manipulatives Verhalten. Wenn Sie in dieser Beschreibung der histrionischen (hysterischen) Persönlichkeit den Influencer, dem Sie auf Facebook, TikTok und Instagram folgen, erkennen, dann wissen Sie, was sie von ihm ganz bestimmt nicht wollen: Ferndiagnosen und Ratschläge zu Ihrer eigenen psychischen Befindlichkeit.

Von einer so beschreibbaren Persönlichkeit würden wir nicht einmal therapiert werden wollen, wenn sie eine gediegene psychotherapeutische oder psychiatrische Ausbildung hätte, aber die meisten Influencer, die uns über ihre (und möglicherweise unsere) Depression, Angststörung oder Traumatisierung “aufklären”, haben nichts davon.

Der Einfluss der Social-Media-Stars ist gewaltig

Wie von qualifizierten Ärzten verschriebene und von ebenso qualifizierten Apothekern ausgegebene Medikamente Hinweise zu Risiken und Nebenwirkungen enthalten, sollten öffentliche Selbstdiagnosen fachlich unqualifizierter Influencer wenigstens Warnhinweise aufweisen. Denn der Einfluss dieser Social-Media-Stars auf junge Menschen ist gewaltig. Und ebenso der Schaden, wenn diese in die emotionale Achterbahn des Influencers einsteigen, und dann in einer Essstörung, bei Selbstverletzungen oder Schlimmerem enden.

Der schwer bestreitbare Hinweis, dass so manche Gesellschaft in freier Wahl ähnlich beschreibbare Persönlichkeiten in höchste Staatsämter wählte, macht die Sache nicht besser. Die virtuelle Welt wird immer realer, je mehr Menschen sich immer tiefer in ihr verlieren. Die Grenzen verschwimmen. Weltpolitik wird zum Computerspiel.

Alle Opfer werden leicht übersehen: Vom Baby, das ohne mütterliche Zuwendung im Kinderwagen liegt, während Mama in TikTok-Welten abtaucht, über Mädchen, die ihrem Insta-Idol nach und nach in die Essstörung folgen, bis zu politischen Aktivisten und “Haltungs”-Publizisten, die ihre Telegram-Blase mit der Wirklichkeit verwechseln. Ja, auch mit Verschwörungstheorien verhält es sich so wie mit dem Wald, den wir vor lauter Bäumen nicht sehen.

Panikmache hat wieder Hochkonjunktur

Der Verdacht, dass wir in einer hysterischen Zeit leben, ist gut begründet. Die manipulativen Hitzewallungen unserer Gesellschaft haben weder mit Lust noch mit Lachen zu tun, sondern mit Fieberschüben kollektiver Angst. Panikmache hat wieder einmal Hochkonjunktur – und die beherrschen hysterische Influencer mit und ohne Parteibuch perfekt. Da muss nun aber die ganze Gesellschaft auf die Couch! Vielleicht beginnen wir unsere Therapie mit einer emotionalen Abrüstung und der Rückkehr zur Vernunft. Vor ihren hohen Hürden ist die psychiatrische Diagnose eines Insta-Influencers gewiss nicht bedeutender als die des Stammtisch-Kumpels nach dem fünften Bier. Vielleicht eher umgekehrt.

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