Syrien: Das unsichtbare Drama
Das Erdbeben in der Türkei vom 6. Februar hat international große Betroffenheit und Solidarität ausgelöst: Vor allem die Bilder aus Antakya, dem antiken Antiochien, gingen um die Welt
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
Doch auch in Syrien war das Beben zu spüren – und hier sind die betroffenen Gebiete für Helfer schwer oder gar nicht zugänglich. Ein Teil von Nordsyrien (die Provinz Idlib) ist in der Hand von Rebellen, Hilfe kommt nur durch ein Nadelöhr hinein. Nach offiziellen Angaben starben hier 3.600 Menschen, doch die wirkliche Opferzahl könnte weit höher liegen, da Teile des Nordens aufgrund des Bürgerkrieges isoliert sind und die Kommunikation schwierig ist.
“Wir haben nicht viele Informationen, weil das eine Region ist, in der wir keine Verbindung haben; wir können keine Informationen bekommen.“ Das sagt der syrisch-katholisch Erzbischof von Homs und Hama, Jacques Mourad, in einem Telefoninterview mit Radio Vatikan. Er berichtet vor allem über die Region von Aleppo, das ebenfalls von den Erschütterungen betroffen war.
“Der Schock ist wirklich sehr, sehr groß”
“Schon der Krieg hat ja die Gegend rund um Aleppo, Nordsyriens größte Stadt, völlig zerstört; darum ist es jetzt sehr schmerzhaft, dass alle Bewohner von Aleppo aus ihren Häusern fliehen und auf den Straßen, auf leeren Plätzen oder in Kirchen und Moscheen Schutz suchen mussten. Der Schock ist wirklich sehr, sehr groß.”
Zwar schicken jetzt auch arabische Länder, die Gegner der syrischen Regierung von Präsident Baschar al-Assad sind – etwa Saudi-Arabien und Katar –, humanitäre Hilfe über zwei Grenzübergänge von der Türkei nach Syrien. Doch ansonsten kann man die guten Nachrichten in Syrien mit der Lupe suchen. Die christlichen Kirchen haben zwar fast keine Mittel, aber dafür gute Kontakte zu Helfern im Ausland; sie haben sich zusammengeschlossen, um den Opfern zu helfen.
Kirchen tun sich zum Helfen zusammen
“Kurz nach dem Beben ist der päpstliche Nuntius, Kardinal Mario Zenari, nach Aleppo gereist; er hat alle Leiter der christlichen Gemeinden, die Protestanten, die Orthodoxen und die Katholiken, zusammengebracht. Sie haben gemeinsam ein Komitee gegründet, um den Bedürftigen zu helfen und um die Hilfen und die ankommenden Gelder zu koordinieren.”
Zum Leiter dieses Komitees wurde der chaldäische Bischof von Aleppo, Antoine Audo, gewählt; er ist auch der Caritas-Verantwortliche der katholischen Kirche in Syrien.
Manche flüchteten im Schlafanzug vor den Erdstößen
“Sie haben sofort nach dem Beben ihre Kirchen, ihre Hallen, ihre Gemeindezentren geöffnet, um die Flüchtlinge aufzunehmen, und sie kümmern sich darum, alles Notwendige zu verteilen: Nahrungsmittel und die Bedarfsgüter des täglichen Lebens. Denn Sie können sich vorstellen, dass die Leute nichts mitgenommen haben, als sie aus ihren Häusern gerannt sind; es gibt Leute, die während des Bebens im Schlafanzug rausgerannt sind, die haben sonst nichts mehr. Also versuchen die Kirchen jetzt alles, um Kleidung für die Menschen zu finden, Matratzen – was man eben so braucht für das praktische Leben.”
Das christliche Hilfskomitee lässt außerdem untersuchen, ob einige der zerstörten Häuser nicht wiederhergestellt werden könnten – denn Mieten sind teuer in Aleppo, und Wohnraum ist sowieso schon rar.
“Das Problem ist, dass ein großer Teil von Aleppo bereits durch den Krieg zerstört ist. Es gibt also nicht viele Möglichkeiten, Häuser zu finden, die die Menschen, die jetzt durch das Beben obdachlos geworden sind, mieten könnten.”
“Sanktionen verstoßen gegen die Menschenrechte”
Die Kirchenführer in Syrien haben erneut ein Ende der westlichen Sanktionen gegen Syrien gefordert. Aus ihrer Sicht zahlt nicht das Regime, sondern zahlen die einfachen Leute die Zeche.
“Wir betrachten diese Entscheidung zu Sanktionen als Verstoß gegen die menschliche Sensibilität und gegen die Menschenrechte. Die Menschen in Syrien haben das Recht auf ein Leben in Würde, auf ein Leben in Freiheit auf allen Ebenen, vor allem auf der wirtschaftlichen Ebene! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie tief wir hier gesunken sind: Wir leben wirklich unterhalb der Armutsgrenze. Was wir erleben, ist wirklich ein Beispiel für internationale Ungerechtigkeit.”
Nicht heizen, nicht duschen, nicht leben
Erzbischof Mourad kann das ganz konkret illustrieren: “Ich und die Priester, die wir in unserem Bistum haben, wir konnten den ganzen Winter über nicht heizen. Wir können noch nicht mal einmal in der Woche duschen: Wir können nicht heizen, wir können nicht leben, wir haben nicht das Nötigste zum täglichen Leben. Warum ist das so? Was haben wir falsch gemacht, um so weit zu kommen?”
Bei dem Erdbeben vor zwei Wochen in der türkisch-syrischen Grenzregion, in der viele Kurden leben, sind nach Schätzungen mindestens 45.000 Menschen ums Leben gekommen und Zehntausende verletzt worden; Millionen verloren ihre Häuser und Wohnungen.
vatican news, 20. Februar 2023
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