“Für mich sind Eltern hauptverantwortlich”
Debatte/ Gehört Sexualkunde in die Primarschule, gar in den Kindergarten?
Ein Gespräch zwischen Domherr Christoph Casetti und Rektor Johannes Flury.
Herr Domherr Casetti, haben Sie diese Woche den “Sonntagsblick” gelesen?
Casetti: Ja (lacht).
Der wettert mit drastischen Bildern des Basler “Sexkoffers” gegen eine “offensive Sexualerziehung” an Schweizer Schulen. Erstaunt Sie das, Herr Flury?
Flury: Nein. Aber es macht mich besorgt. Schulthemen werden zunehmend von Medien und Politik als Tummelfeld für Parteipolitik gebraucht. Dies ist ein Beispiel.
Geht es Ihnen um Parteipolitik, Herr Casetti?
Casetti: In dem Basler Material kommt eine emanzipatorische Sexualpädagogik zum Tragen, in der alles Sexuelle legitimiert und auch stimuliert wird. Das Lustprinzip steht im Mittelpunkt. Bei dieser Pädagogik habe ich Bedenken. Für mich sind Eltern die Hauptverantwortlichen in der Sexualerziehung. Sie müssten einbezogen werden in Konzepte für Sexualpädagogik an öffentlichen Schulen, auch bei dem geplanten Lehrplan 21 für die Kantone. Bis jetzt ist das nicht vorgesehen. Noch schlimmer ist, wenn dann dieser Unterricht für obligatorisch erklärt wird.
Flury: Ich bin einverstanden, wenn man sagt: Die Schule hat auf diesem Gebiet eine untergeordnete Funktion hinter den Eltern. Wo ich aber sehr hellhörig werde, ist, wenn man den obligatorischen Schulunterricht infrage stellt. Die Schule kann nicht damit anfangen, jedes Thema, das Eltern oder weltanschaulichen Gruppen gegen den Strich geht, für nicht obligatorisch zu erklären.
Casetti: Sexualkunde ist ein sensibler Bereich. Denken Sie nur an die verschiedenen Kulturen in unserer Gesellschaft. Erst recht, wenn dieser Unterricht fächerübergreifend sein soll. Dann können Eltern die vermittelten Werte gar nicht mehr kontrollieren. Flury: Wenn eine Schülerin berichtet – und das ist kein erfundenes Beispiel – “jetzt hat mir mein Klassenkollege gesagt: “Du bist eine geile Sau”, dann kann die Lehrperson nicht antworten: “Am Freitagnachmittag kommt der Spezialist, der wird das dann mit euch behandeln.” Sondern die Lehrperson muss aktiv werden. Sexualkunde ist ein Teil vom fächerübergreifenden Alltagsunterricht.
Casetti: Bei diesem Beispiel würde ich fächerübergreifendem Unterricht zustimmen. Aber hier geht es nicht um Sexualkunde im engeren Sinne, sondern um Menschenwürde und Respekt vor der Geschlechtlichkeit anderer. Ich bin ja nicht dagegen, dass man Sexualkunde unterrichtet. Aber ich bin dagegen, wie man es macht. Oder machen will.
Bildet die Pädagogische Hochschule Graubünden heute Lehrpersonen in Sexualkunde aus?
Flury: Ja, das ist bei uns ein wichtiges Wahlfach. Wir können uns gar nicht vorstellen, was auf Kinder heute alles zukommt, über iPhones und Kollegen. Das ist ein riesiges Geschäft, Kinder werden mit Sexualität konfrontiert durch Erwachsene, die Geld daran verdienen.
Wäre Sexualkunde nicht ein Thema für den Religionsunterricht?
Flury: Ich habe etwas dagegen, wenn Missionare in die Schule kommen, egal, mit welcher Mission. Sobald man sagt: “So muss es sein in der Sexualität”, gehe ich fünf Schritte zurück. Da wird ein einziges Menschenbild vertreten, das nichts anderes zulässt. In dem Zusammenhang frage ich vorsichtig: Sind denn Sexualkundeunterricht und Kirche ein gegebener Zusammenhang? Warum stürzt sich die Kirche auf dieses Thema?
Casetti: Kirche hat seit eh und je eine Ethik vertreten, und der Umgang mit Sexualität ist eine ethische Frage. Unsere Erfahrung ist: Wenn Kinder eine das Lustprinzip betonende Sexualerziehung durchlaufen haben, dann ist es für die Kirche schwierig, mit eigenen Themen zu kommen: Etwa die intime Beziehung der Ehe vorzubehalten, oder lebenslange Treue und Hingabe in der Ehe.
Flury: Nochmal: Für mich ist der Zusammenhang zwischen Kirche und Sexualkunde nicht so klar. Man kann Religion nicht für alles zuständig machen. Die Schule hat einen Auftrag zur Menschenbildung, und deshalb gehört Sexualkunde in die Schule. Gleich wie Mathematikunterricht, der ist auch mehr als Zahlen beigen, auch dort kann es um ethische Fragen gehen.
Ein Plädoyer für Sexualkunde in Schule und Kindergarten?
Flury: Man ist geneigt, was früher war zu idealisieren. Ich bin aufgewachsen in einem Haus mit sehr offenen und kompetenten Eltern, aber über das Thema Sexualität wurde kein Wort verloren. Wir haben dann eine Aufklärung auf der Strasse bekommen – und die war sicher schlechter, als der geplante Sexualkundeunterricht heute.
Christoph Casetti
Domherr Christoph Casetti ist in Zürich aufgewachsen. Der promovierte Theologe wurde 1982 Bischofsvikar im Bistum Chur, diente als Generalvikar unter Diözesanbischof Wolfgang Haas und wurde 2008 durch Bischof Vitus Huonder zum Bischofsvikar ernannt für das Ressort Pastoral (Ehe und Familie, Jugend, Weitergabe des Glaubens, Medien) sowie als Pressesprecher.
Johannes Flury
Der heutige Rektor der Pädagogischen Hochschule Graubünden ist promovierter Theologe. Er arbeitete als Rektor der Evangelischen Mittelschule Schiers und im Gesundheitswesen. Derzeit ist er Präsident der Cohep, der Schweizerischen Konferenz der Rektorinnen und Rektoren der Pädagogischen Hochschulen.
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