Auf den Spuren der göttlichen Barmherzigkeit
Auf den Spuren der göttlichen Barmherzigkeit (Teil 1) – Erster Teil des grossen EWTN-Interviews mit Erzbischof Marek Jedraszewski
Auf den Spuren der göttlichen Barmherzigkeit (Teil 1) – Erster Teil des grossen EWTN-Interviews mit Erzbischof Marek Jedraszewski
Von Robert Rauhut
Krakau, 5. März 2017 (CNA Deutsch)
(Hier lesen Sie den zweiten, und hier den dritten Teil.)
Seit kurzem ist er dritter Nachfolger des heiligen Johannes Paul II. als neuer Erzbischof von Krakau: Der profilierte Oberhirte, langjährige Professor für christliche Philosophie und heute stellvertretende Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, Marek Jedraszewski. Im EWTN-Interview, aufgenommen mit Robert Rauhut im Umfeld des Weltjugendtages 2016, spricht er unter anderem darüber, was den deutschen Nachbarn so katholisch macht – und welche wichtige Rolle Polen spielt für das Christentum in Europa.
Das Interview ist auch in der Reihe “Polonia semper fidelis” auf EWTN zu sehen. Weitere Infos hierzu finden Sie auf www.ewtn.de und auf der Facebookseite von EWTN. CNA Deutsch veröffentlicht das Gespräch in drei Teilen.
Robert Rauhut: Herr Erzbischof, das Gespräch würde ich gerne mit dem Thema der Taufe Polens eröffnen. In Polen wurde, ja wird immer noch in diesem Jahr das Jubiläum gross gefeiert. Welche Bedeutung hat diese Taufe für uns Christen in Europa heute?
Erzbischof Jedraszewski: Einmal ist es ein Fest für Polen, denn hier hat vor 1050 Jahren diese stattgefunden, als sich der damalige Herrscher der Polanen, Fürst Mieszko I. taufen liess. Aber auch für Europa hat die Taufe ihre Bedeutung.
Denn die Annahme der Taufe gerade durch Mieszko I. hat die Grenzen der westeuropäischen Kultur bestimmt. Die Taufe der Rus erfolgte einige Jahre später, zu den Zeiten Wladimirs I., des Grossen. Er hat allerdings das Christentum aus Byzanz angenommen. Man muss hinzufügen: die Kirche war zu dieser Zeit noch nicht in die orthodoxe und die römische Kirche geteilt. Nichtsdestotrotz waren die Kulturunterschiede deutlich. Übrigens, diese waren von Anfang an, seit Konstantin, sichtbar und wurden immer grösser.
“Europa nimmt seit 966 eine Gestalt an, und die Bestimmung dieser Gestalt kam über Polen”
Das waren zwei unterschiedliche kulturelle Welten; auch bei vielen verbindenden Merkmalen. Diese Verbindung baute zum Beispiel auf dem griechischen Gedankengut auf, aber auch auf dem römischen Recht; dem Römischen Reich, das in der Epoche von Konstantin dem Grossen noch einheitlich war. Das hat sich natürlich später geändert. Das Römische Reich wurde an Konstantinopel gebunden. Es kam zu Eroberungen durch die Barbaren. Europa erwachte neu. Und neu erwuchsen damals auch die christlichen Wurzeln des frühmittelalterlichen und mittelalterlichen Europa.
Im Jahre 966 ist Polen dazu gestossen. Und seine Grenzen stellten auch die östliche Grenze der westlichen, lateinischen Kultur dar. Jenseits der östlichen Grenze Polens lag auch ein teilweise christliches Land – ich denke hier an die Rus nach der Taufe. Das war allerdings eine andere Kultur und eine andere Art von Christentum, was sich nach der Spaltung zwischen Rom und Konstantinopel im Jahre 1054 nur noch vertieft hat. Und das hat eine Bedeutung – Europa nimmt seit 966 eine Gestalt an und die Bestimmung dieser Gestalt kam über Polen. Ich denke hier an die Politik, an die Kultur vergangener Jahrhunderte und der Gegenwart.
Das waren zwei unterschiedliche kulturelle Welten; auch bei vielen verbindenden Merkmalen. Diese Verbindung baute zum Beispiel auf dem griechischen Gedankengut auf, aber auch auf dem römischen Recht; dem Römischen Reich, das in der Epoche von Konstantin dem Großen noch einheitlich war. Das hat sich natürlich später geändert. Das Römische Reich wurde an Konstantinopel gebunden. Es kam zu Eroberungen durch die Barbaren. Europa erwachte neu. Und neu erwuchsen damals auch die christlichen Wurzeln des frühmittelalterlichen und mittelalterlichen Europa.
“Europa will seine christlichen Wurzeln vergessen”
Und die Feier des 1050-jährigen Jubiläums erinnert daran, was Europa irgendwie um jeden Preis vergessen will – im Bereich der Kultur und teilweise der Politik. Es will vergessen, dass seine Wurzeln christlich sind. Wir möchten – indem wir dieses Jubiläum feiern – unterstreichen, dass wir alle diese Wurzeln in uns tragen.
Es ist schon erstaunlich… wenn wir uns die Geschichte der europäischen Nationen anschauen – soweit ich sie kenne – kann keine von sich selbst sagen, was die Polen von sich selbst sagen können. Es liegen keine schriftlichen Belege vor, die sich auf die Geschichte Polens vor 966 beziehen würden. Es wird zwar ein Datum verzeichnet, 963, als Mieszko I. zweimal eine Niederlage im Kampf gegen Wichmann und die Wenden, also die Elbslawen erlitten hat. Bei einer Schlacht wurde sogar sein Bruder unbekannten Namens getötet. Und das war es. Mehr wissen wir über Polen nicht. Und gleich danach kommt in den Belegen das Jahr 966. Mieszko lässt sich taufen. Dem hat er zu verdanken, dass er der damaligen nicht nur kulturellen, sondern auch politischen Struktur Europas beitritt. Eines Europas, an dessen Spitze der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Otto I. steht. Er trägt den Titel “amicus imperatoris“, Freund des Kaisers, ist also in gewissem Sinne Entscheidungsträger in der Politik des damaligen Europas. Er ist einer der wenigen Grossen der damaligen Zeit, wenn ich es so formulieren darf.
Das ist ein Hinweis darauf, dass das Jahr 966 nicht nur den Anfang des Christentums, des Kreuzes, des Evangeliums im Gebiet der Polanen, was danach Polen wurde, bedeutet. Das ist auch der Ursprung des polnischen Staates und der polnischen Nation. Und von Anfang an sind diese drei Aspekte sehr eng miteinander verbunden. Und darin liegt das Spezifikum unseres Volkes, das Spezifikum der polnischen Identität – mag einer es akzeptieren oder nicht.
Es ist so. Und noch etwas.
Wenn man auf die tausend Jahre der Geschichte unserer Nation zurückblickt, so sieht man, dass es Zeiten gab, in denen Polen seine Souveränität teilweise oder vollständig verloren hat. Ich denke hier in erster Linie an die Teilungen Polens von 1795 bis 1918, das sind 123 Jahre. Ausgenommen der sieben Jahre des Herzogtums Warschau unter Napoleon, gab es in dieser Zeit kein Polen, war Polen von der Landkarte Europas verschwunden. Mehr noch, man hat den Versuch unternommen, die Polen zu entnationalisieren.
Es gab Versuche von Preussen einerseits und Russlands andererseits, die Polen – auch wenn es unvorstellbar ist – zu ethnisch reinen Deutschen oder ethnisch reinen Russen zu machen. Dabei hat man sich nicht selten auch der Religion bedient. Zum Beispiel versuchte man, vor allem während des Kulturkampfes, als man gegen den Katholizismus vorging, den Protestantismus einzuführen. Es war nicht nur ein Problem der Provinz Posen, die zum Deutschen Reich gehörte, sondern auch ein Problem mehrerer anderer deutscher Provinzen, die vom Kulturkampf betroffen waren.
Es geht aber auch um die Massnahmen zur Russifizierung und die Einschränkung der Tätigkeit der katholischen Kirche. Daran wird nicht allzu oft erinnert, aber als Symbol der Zarenmacht in Polen galt eine riesengrosse orthodoxe Kirche. Das Gebäude wurde in den 20er Jahren durch die Polen abgerissen. Das kann man mit der Situation vergleichen, als Polen unter den Einfluss der Sowjetunion 1945 gelangte und auch einen Teil seiner Souveränität verlor. Stalin hat sehr dafür gesorgt, dass sich in Warschau ein Symbol der sowjetischen Macht befindet. Er hat den Kultur- und Wissenschaftspalast bauen lassen. Vielleicht wissen Sie es, dass dieser Palast auf den Ruinen der Johanneskathedrale in Warschau, an der Weichsel errichtet werden sollte. Auf den Ruinen, weil die Kathedrale während des Warschauer Aufstandes zerstört, verbrannt wurde.
“Was aber bestand, war die katholische Kirche”
Kardinal August Hlond wusste von den Plänen. Deshalb, als er 1948 auf dem Sterbebett lag, hat er den Wunsch geäussert, in den Ruinen dieser Kathedrale begraben zu werden. Das hatte natürlich zur Folge, dass es schwierig war an diesem Ort den Kultur- und Wissenschaftspalast bauen zu lassen. Stattdessen wurde dieser in der Innenstadt Warschaus errichtet, wo er bis heute steht. Allerdings, damit er errichtet werden konnte, wurde ein ganzes Viertel mit Häusern abgerissen, die wie durch ein Wunder den Warschauer Aufstand überstanden haben. Daran wird heute wenig erinnert, es sollte aber nicht vergessen werden. Es gab solche Versuche zu zeigen, wer hier an der Macht ist. Es waren Versuche, Denkmäler der Macht über Warschau aufzustellen. Zu den Zarenzeiten war es die orthodoxe Kirche, zu den Stalin-Zeiten war es ein Gebäude, das wie aus Moskau verpflanzt aussieht. Es gab aber auch Unterschiede zwischen den einzelnen Teilen Polens in Bezug auf die Begebenheiten. So stand in Warschau die grosse orthodoxe Kirche, während in Posen ein grosses Bismarck-Denkmal aufgestellt wurde. Dieses Denkmal von Bismarck, einem der Hauptträger des Kulturkampfes, wurde ebenfalls in den 1920er Jahren durch die Polen abgerissen. Und an dieser Stelle wurde ein monumentales Herz-Jesu-Denkmal aufgestellt, ein Votivdenkmal für die Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Ein Denkmal, das im September 1939 im Auftrag von Hitler sofort zerstört wurde.
So ist die Geschichte. Die Geschichte unserer Teilung. Aber auch die Geschichte unseres Ringens um die polnische Identität. Letzten Endes ein erfolgreiches Ringen des Volkes. Die polnischen Staatsstrukturen waren nicht vorhanden, es gab kein polnisches Schulwesen, geführt wurde ein Kampf gegen die polnische Kultur. Was aber bestand, war die katholische Kirche.
Sie haben uns einführend eine Tour d’Horizon gegeben – von den Ursprüngen des Christentums in Polen bis hin zu den Strömungen, die den Katholizismus, aber nicht nur den Katholizismus, im Rahmen unterschiedlicher totalitärer Systeme angegriffen haben. Der Katholizismus blieb trotz all dem erhalten, vermochte sich sogar wieder zu stärken, wieder aufzubauen – wenn wir auf Ihr Beispiel mit der Kathedrale in Warschau schauen. Vor dem Hintergrund dieses Überblicks würde ich Sie gerne fragen, was das Spezifikum des polnischen Katholizismus ist, im Unterschied zu den anderen europäischen Ländern.
Sicher steht fest, dass er von Anfang an mit Rom verbunden war. Ich würde hier vielleicht noch einmal an den historischen Überblick aus einer anderen Perspektive anknüpfen. Sehr oft, vor allem in den letzten Jahrzehnten, wurde das Problem der europäischen Politik aber auch der europäischen Kultur als eines dargestellt, das sich aus der Spannung zwischen Ost und West ergibt. Damit ist auch der Eiserne Vorhang gemeint, der bis 1989 bestanden hat. Polen lässt sich nicht verstehen, wenn es auf dieser Spannungsachse von Ost und West verankert wird.
“Freundschaft mit dem deutschen Kaiser”
Natürlich waren wir durch diese Spannungsverhältnisse betroffen, ja diese haben unseren Status in gewissem Sinne bestimmt. Wesentlich für Polen war allerdings nicht diese horizontale Spannung Ost-West, sondern die vertikale Achse: Polen-Rom. Ihrem Ursprung nach geht sie sogar auf die Zeiten von Mieszko I. zurück. Er war “amicus imperatoris“, er hat seine Politik sehr geschickt geführt, in Freundschaft mit dem Kaiser. Seine zweite Frau, Oda, stammte übrigens aus einer bedeutenden deutschen Familie.
Allerdings spürte er den Druck des Kaiserreiches – er war immerhin ein Neuling, homo novus, ein Schwächerer. Deshalb suchte er in Rom nach Unterstützung. Und dies auf eine etwas symbolische Art und Weise. Als sein Sohn, der spätere König Boleslaus der Tapfere, sieben war, fand seine Kopfschur statt. Er nimmt ein paar Haarlocken seines Sohnes und lässt sie dem Papst zukommen, damit sich dieser in gewisser Weise für das Leben von Boleslaus verantwortlich fühlt.
Dann ist uns ein sehr wichtiges Dokument erhalten geblieben, aus dem Jahre 992. Dieses Dokument stammt aus der Zeit der letzten Lebensjahre von Mieszko. Er wusste, dass er bald sterben würde. Er wusste, dass es zu verschiedenen politischen Verwirrungen kommen könnte. Auch zu den Verwirrungen um die Nachfolge zwischen Boleslaus und seinen Stiefgeschwistern. Deshalb stellte er den ganzen Staat unter die Obhut des Papstes. Übrigens, ich habe neulich erfahren, dass ähnliche Gesten auch die Ungarn gemacht haben, die etwas später die Taufe angenommen haben, auch ihre Politik war Richtung Süden gerichtet.
“Wir stehen den Italienern sehr nahe”
Es handelt sich nicht um ein grosses politisches Spiel – wenn wir auf das grosse europäische Schachbrett der Staaten schauen, von denen ein jeder um Einflüsse, manche ums Überleben, noch andere um die Macht gekämpft haben, wie es so in der Politik üblich war und ist. Es handelte sich um eine Öffnung auf die Kultur, die aus dem Süden kam. Wenn Sie in Polen sind, so werden Sie sehen, dass die meisten Kirchen, auch andere Bauten, aber vor allem geht es um die Kirchen, die sich erhalten haben, das sind meistens Werke italienischer Meister. Sie wurden hierher eingeladen, sie haben sich hier wohl gefühlt. Aber es ist auch so, dass sich die Polen meistens in Italien wohl fühlten – die berühmtesten Vertreter der polnischen Renaissance haben in Italien studiert. Auch wir stehen den Italienern sehr nahe. Auch was eine gewisse Lebenshaltung, Herangehensweise an die Probleme angeht.
Mir ist ein Spruch in Deutschland begegnet, der den Charakter der Polen und der Italiener auf den Punkt bringt – freilich bei allen bestehenden Unterschieden, diese muss man auch sehen. Der geht folgendermassen: die Deutschen leben um zu arbeiten, die Italiener arbeiten um zu leben. Einer muss nicht reich sein, Vermögen ist kein Ziel an sich. Einer muss nur so viel haben, damit er das Leben geniessen kann. Da ist was dran. Eine seelische Verwandtschaft. Viele Aspekte unserer Kultur haben wir – heute tun wir es nicht mehr so intensiv, denn wir leben jetzt im globalen Dorf – aus dem Süden entnommen. So war unsere Einstellung. Dadurch sind auch die konstanten Beziehungen zwischen Krakau, dann Warschau als Hauptstädten – vorher noch Posen, Gnesen – und Rom, dem päpstlichen Rom erklärbar. Polen war – wegen seiner geographischen Lage – ein Staat, der vor allem das südliche Europa vor der Expansion, der Verbreitung des Islams, insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert verteidigte. Praktisch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Unter anderem handelte es sich natürlich um eine Verteidigung Polens, aber auch um die Verteidigung Europas.
“Polen als Bollwerk der Christenheit”
Machiavelli war es, der Polen als Antemurale Christianitatis, als Bollwerk der Christenheit bezeichnet hat. Ein Staat, der der Invasion der osmanischen Truppen eine erste Abwehr leistet und in diesem Abwehrkampf grundsätzlich erfolgreich ist. Vielleicht lohnt es sich hinzuzufügen, dass Polen eine ähnliche Rolle im Jahre 1920 zuteil wurde. Diesmal handelte es sich um die Invasion der Bolschewiken.
Wir wissen ja, dass es das Ziel der Bolschewiken war, durch Polen wie durch einen Korridor durchzumarschieren, um sich mit den kommunistischen Revolutionären in Deutschland zu vereinigen und bis an die Atlantikküste zu kommen. Damit wurde damals der Impetus einer anderen Kultur, einer totalitären, atheistischen Kultur, für neunzehn Jahre, vielleicht nicht viel, aber immerhin neunzehn Jahre, durch Polen abgewehrt.
Insofern ist im katholischen, religiösen Selbstverständnis der Polen der Gedanke verankert, dass um die katholische, religiöse Identität gekämpft werden muss. Und dieser Kampf bedeutet nicht immer nur einen Kampf zur Verteidigung Polens. Das ist ein Kampf im Bewusstsein, dass unser Land an einem von Gott gegebenen Ort gelegen ist, von dem aus wir Europa dienlich sein sollen.
Es geht also nicht um die Interessen einer bestimmten Nation, aufgefasst als partikulare politische Interessen, sondern um das Bewusstsein der kulturellen Einheit mit den anderen Nationen West- und Südeuropas. Das ist ein fester Bestandteil unseres Ethos. Sprechen wir wiederum vom Kampf, so gehört auch das Leiden dazu. Ein Leiden, das lange Zeit andauert. Ich denke hier an dieses Ringen um die polnische Seele, um die Aufrechterhaltung der Verbindung zur katholischen Kirche in den Zeiten der Teilung. Ich denke aber auch an den Kampf in den Jahren von 1939 bis 1945, im Zweiten Weltkrieg. Und schliesslich denke ich auch an die Nachkriegszeit bis 1989. Wir haben in der Tat um die Bewahrung der eigenen Identität gekämpft; und deshalb auch oft leiden müssen.
Symbolisch drückt sich dies in den zwei Schnitten auf dem Antlitz der Gottesmutter von Tschenstochau aus. Das ist aber nur ein Symbol. Die Eigenart des Katholizismus in Polen; die polnische Identität drückt sich aber – wie Sie es gesagt haben – durch die Hinwendung nach/zu Rom aus. Andererseits durch die Hinwendung zur lateinischen Kultur und Zivilisation. Darauf baut das Selbstverständnis der Polen auf. Hinzu kommt noch das Leiden. Nicht als Leiden an sich, sondern als Leiden mit Bezug auf Gott, auf das Kreuz – so unser katholisches Verständnis des Leidens.
Und ein Leiden zugunsten eines anderen Menschen. Ich würde gerne einen Aspekt aufgreifen, den Sie angesprochen haben. Ein Aspekt, auf den Karol Wojtyla, der spätere Papst Johannes Paul II., damals noch als Erzbischof hingewiesen hat. Das hat er in zwei Texten gemacht – der eine ist 1965, also gleich im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil erschienen, der zweite 1966, bereits nach Abschluss der Hauptfeierlichkeiten zu 1000 Jahren Taufe Polens in Gnesen und Posen. Er hat auf einen weiteren wichtigen Aspekt der polnischen Identität hingewiesen, auf die Marienverehrung. Eine Marienverehrung, die in der Theologie sehr tief verankert ist.
“Berücksichtigt man diesen marianischen Zug von uns Polen nicht, so kann man uns auch nicht verstehen.”
In dem ersten Text bezieht sich Karol Wojtyła auf das Konzilsdokument über die Kirche, Lumen Gentium, dessen 8. Kapitel vollständig der Gottesmutter gewidmet ist. Er schreibt: SO ist der Katholizismus. Und so, das heisst sehr marianisch, war und ist auch der Katholizismus von Anfang an in Polen. Er hat es noch deutlicher 1966 hervorgehoben, umso mehr als die Jubiläumsfeier der Taufe Polens 1966 das Kloster auf dem Jasna Góra fokussierte – natürlich waren die Orte wichtig, an denen die Taufe angenommen wurde, das heisst Grosspolen mit der bedeutenden Rolle von Gnesen und Posen. Aber Jasna Góra stand in der Mitte. Da wurde das Gelübde der polnischen Nation 1956 abgelegt, dort wurde es zehn Jahre später, während der Millenniumsfeier erneuert. Tschenstochau war und ist die geistige Hauptstadt Polens. Berücksichtigt man diesen marianischen Zug von uns Polen nicht, so kann man uns auch nicht verstehen.
Lässt sich dadurch auch die Lebendigkeit des Katholizismus in Polen im Vergleich zum Westen erklären? Etwa, dass hier mehr Menschen in die Kirche gehen, das Sakrament der Beichte empfangen, dass die Anzahl der Berufungen hier grösser ist?
Sicherlich lassen sich auch dadurch Unterschiede erklären. Aber ein deterministischer Ansatz wäre hier fehl am Platze. Wir dürfen nicht denken, dass alles so geschehen musste. Es musste nicht geschehen.
Ohne Zweifel wichtig ist hier einerseits dieser Aspekt des tiefen Glaubens, der eines Zeugnisses bedurfte, eines Zeugnisses der Treue und des Leidens. Andererseits der Aspekt der gleichzeitigen Hinwendung zur Gottesmutter im Leiden – das erinnert an die Reaktion eines Kindes, das bei seiner Mutter Hilfe sucht. Mehrere Beispiele dafür finden wir in unserer Geschichte, in unserer Literatur. Oftmals hiess es: bei der Gottesmutter Obhut suchen. Sie wird uns in Schutz nehmen. Auch in hoffnungslosen Situationen, wie es zum Beispiel bei der Schwedischen Sintflut im Jahre 1655 der Fall war. Wie es auch 1920 der Fall war, als Polen kurz vor dem Überfall der atheistischen Bolschewiken-Truppen stand.
Vielleicht wissen Sie, dass es Hans Frank, Generalgouverneur des besetzten Polens im Zweiten Weltkrieg war, der in seinen Tagebüchern geschrieben hat: wenn alle Lichter für Polen erloschen, da war immer noch die Heilige von Tschenstochau da.
Wissen Sie, wenn ein solcher Mensch mit tragischer Geschichte, hinter dem eine ganz persönliche Tragödie und die Tragödie vieler anderer Menschen stehen, so ein Zeugnis gibt, so ist es etwas Aussergewöhnliches. Das Zeugnis einer Person von aussen, völlig von aussen. Einer Person, die allerdings die Realität der polnischen Seele, der polnischen Geschichte kritisch, im Sinne von “zutreffend”, beurteilen konnte.
Hier lesen Sie den zweiten, und hier den dritten Teil.
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