Gesucht: Neue “ars moriendi”

Viele kennen Sterben und Tod nur noch aus dem Fernsehen

Von Stefan Rehder

Die Tagespost, 13. März 2015

“Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte bloss nicht dabei sein, wenn es passiert.” Wie der Filmregisseur Woody Allen denken heute viele. Man kann das verstehen. Richtig wird es deshalb nicht. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts starben rund 80 Prozent der Deutschen zu Hause. Ging es ans Sterben, versammelte sich oft die ganze Familie im Zimmer des Todkranken. Man nahm voneinander Abschied, begleitete den Sterbenden auf seinem Weg aus dieser, betete für das Heil seiner Seele in der kommenden Welt und stand ihm – so gut man dies vermochte – im letzten Ringen bei. Schlug einem selbst die letzte Stunde, hatte man meist bereits mehrere Verwandte und Freunde in den Tod begleitet.

Heute, da die Familien kleiner, der Glauben schwächer und der gesellschaftliche Zusammenhalt brüchiger geworden sind, sterben nicht einmal mehr 20 Prozent der Menschen derart privilegiert. Viele kennen Sterben und Tod nur noch aus dem Fernsehen. Und obgleich auch heute die Allermeisten gerne zu Hause stürben, ereilt der Tod heute rund 80 Prozent der Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Dort erhalten sie zwar meist eine medizinische Versorgung, die alles in den Schatten stellt, was früheren Generationen zuteil wurde, an darüber hinausreichender Zuwendung mangelt es hingegen nicht selten. Und obwohl der medizinische Fortschritt heute nahezu jedem ein sanftes Sterben ermöglicht, haben die von Vielen unterschätzten Folgen der Entchristlichung der Gesellschaft, die Erosion der Familien und die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, die sich statt mit dem Patienten immer öfter nur mit seinem Geldbeutel solidarisiert, zu einer “Verwilderung” des gesellschaftlichen Umgang mit Sterben und Tod geführt und die Angst vor dem Tod, die Menschen zu allen Zeiten empfanden, ausser Kontrolle geraten lassen. Der unausweichlichste aller Akte – der des Sterbens – überfordert heute viele exakt in dem Masse, in dem sie ihn, auf sich allein gestellt und bar jeder Hoffnung auf ein Fortleben der Seele in einem wie auch immer gearteten Jenseits näherrücken sehen. Da wundert es nicht, dass immer mehr Menschen den Wunsch hegen, ihrem natürlichen Tod zuvorzukommen. Suizidhilfeorganisationen wie “Exit” melden jedes Jahr einen neuen Rekord an “Neuanmeldungen” sowie einen Anstieg der von ihnen begleiteten Selbsttötungen. Wie aus den jüngsten, Mitte dieser Woche vorgestellten Zahlen hervorgeht, hat sich die Zahl der Personen, die sich unter Anleitung von “Exit” in der Schweiz das Leben nahmen, binnen vier Jahren von 257 im Jahr 2010 auf 583 im Jahr 2014 mehr als verdoppelt.

Die Verantwortung, die Christen hier zukommt, darf sich nicht im Kampf für ein gesetzliches Verbot von Suizidhilfeorganisationen sowie gegen eine Legalisierung des ärztlich assistierten Suizids erschöpfen. So unverzichtbar dies ist – von Bischöfen, Priestern und Laien darf mehr erwartet werden. Sterben und Tod dürfen nicht länger verdrängt und aus dem Blickfeld der Gesellschaft verbannt werden. Und es gibt keinen besseren Ort, als damit in Familien und Pfarreien zu beginnen. Hier muss die “ars moriendi”, die “Kunst des Sterbens”, wieder gelehrt und vorgelebt werden. Dann verliert auch der Tod wieder von dem Schrecken, den er den säkularisierten Gesellschaften einjagt.

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