Zynisches Wegschauen

Jetzt schnellen die Opferzahlen in die Höhe

Guido Horst War Italien am Sonntag entsetzt über 29 erfrorene Mittelmeer-Flüchtlinge, so muss man seit gestern davon ausgehen, dass mehr als 300 Menschen gestorben sind.

Die Tagespost, 11. Februar 2015

Von Guido Horst

Jetzt schnellen die Opferzahlen in die Höhe. War Italien am Sonntag entsetzt über 29 erfrorene Mittelmeer-Flüchtlinge, so muss man seit gestern davon ausgehen, dass mehr als 300 Menschen gestorben sind. Zwei angeschwemmte Schlauchboote, in denen man nur noch neun Überlebende fand. Die übrigen wurden bei Windstärke acht und neun und Meter hohen Wellen ins Meer gespült.

Europa muss sich jetzt ernsthaft fragen, ob man mit der seit Anfang dieses Jahres geltenden Abschottungspolitik fortfahren kann. Bis Ende Dezember 2014 hat Italien mit der von Marine, Küstenwache, Polizei und anderen Organisationen getragenen Operation “Mare Nostrum” Tausenden auf offener See das Leben gerettet. Seit Anfang des Jahres läuft die von Brüssel angestossene Operation “Triton”, die aber nur innerhalb der ersten dreissig Meilen vor der italienischen Küste greift.

Jetzt ertrinken und erfrieren die Menschen auf offener See – und Europa leistet sich den zynischen Luxus, gar nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, was sich draussen, auf dem “Weg der Hoffnung” durch den Kanal von Sizilien, an Dramen abspielt. Es sei denn, leere Schlauchboote werden angespült. Dann weiss man, dass es wieder Opfer gab.

“Triton” versagt völlig, aber auch “Mare Nostrum” war ein Notbehelf. Angesichts der Krisenherde im Orient und in Afrika muss Europa das Mittelmeer durch humanitäre Korridore so sicher machen, dass alle Flüchtlinge eine Aussicht haben, Europa lebend zu erreichen. Angesichts der Lage in den Krisengebieten des Mittleren Ostens und einiger afrikanischer Regionen muss man davon ausgehen, dass die Flüchtlingsströme anhalten. Das sind keine kleinen und zeitlich begrenzen Konflikte, die viele Menschen zur Flucht zwingen. Es ist fast eine Völkerwanderung – und die wird bleiben. Und zu humanitären Korridoren gehören nun einmal ein geregelter Betrieb von Schiffen, die sicher sind, und Strukturen – möglichst auf nordafrikanischer und auf südeuropäischer Seite –, die Aus- und Einreise kontrollieren. Nur so kann man den Schlepperbanden das Handwerk legen.

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