Der letzte christliche Ort im Westjordanland
Naher Osten – Taybeh wird mit dem biblischen Ephraim identifiziert und steht nicht nur für eine vergessene Facette des Nahostkonflikts. Er ist auch das letzte Relikt aus einer Zeit
Quelle
Taybeh – Wikipedia
Erneute Siedlergewalt gegen christliches Dorf Taybeh | Jerusalemsverein im Berliner Missionswerk
Taybeh
28.10.2025
In der jüngeren Vergangenheit kamen christliche und politische Würdenträger aus aller Welt nach Taybeh, das Luftlinie 12 Kilometer nordöstlich von Ramallah liegt, um ihre Solidarität mit dem letzten rein christlichen Ort im Westjordanland zu bezeugen. Der letzte in einer langen Reihe von Bischöfen, Patriarchen und Diplomaten war Bundesaußenminister Johann Wadephul im August 2025. Lange war dieser Ort im Westen kaum jemandem bekannt, und fast niemand interessierte sich für die Christen im Westjordanland und ihr Schicksal. Das hat sich seit den Terrorangriffen der Hamas am 7. Oktober 2023, den darauf reagierenden Angriffen Israels in Gaza und vor allem den parallel dazu stattfindenden Nebenkriegsschauplätzen in der gesamten Region geändert. Im Grunde genommen ist diese Region jedoch bereits seit mehr als 200 Jahren im Aufruhr und in einem steten Wandel begriffen.
1799 entrissen die Truppen Napoleons die Macht über das Heilige Land dem Osmanischen Reich und begannen, das Land für Europa zu öffnen. Nach dem Abzug der Franzosen übernahmen lokale arabische Stammesführer, die sich gegenseitig bekämpften, die Kontrolle über die Heiligen Stätten und teilten sie mit den geschwächten Osmanen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kamen zunächst christliche Siedler wie die “deutschen Templer” nach Palästina, ihnen folgten jüdische Siedler, denen die britische Mandatsmacht seit 1917 eine Heimstätte in Palästina versprach.
Stärkster Rückgang der christlichen Bevölkerung
Dem Wohlstand, den diese Siedlungsbewegungen dem Land brachten, sind im 20. Jahrhundert auch viele muslimische Zuwanderer aus der ganzen Region gefolgt. In Jerusalem kann man heute noch sehen, wo einst Deutsche, Franzosen, Griechen, Marokkaner, Georgier, Russen, Armenier, Äthiopier und viele mehr gelebt haben. Viele Ortschaften im Heiligen Land wechselten jedes Jahrzehnt ihre religiöse Zusammensetzung. Dieser Prozess setzt sich bis in die Gegenwart fort. Dabei ist die christliche Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten am stärksten zurückgegangen. Viele ehemals stark christlich geprägte Orte im Westjordanland wie Bethlehem, Beit Jala, Beit Sahur oder Ramallah, die Hauptstadt des Gebiets, haben heute eine muslimische Mehrheit – Taybeh jedoch blieb rein christlich. Der Ort wird von zwei christlichen Familienclans, den Barakat und den Khourys, dominiert. Viele Bewohner sind miteinander verwandt und durch Heirat verbunden. Dieser soziale Zusammenhalt half, der Stadtflucht und religiösen Durchmischung zu widerstehen.
Taybeh liegt in dem seit 1967 von Israel besetzten Westjordanland, der Ort sieht sich seit einigen Jahren mehr und mehr Angriffen israelischer Siedler ausgesetzt, die ausgehend von der Großsiedlung Maale Adummim im Osten Jerusalems den Bau eines Siedlungsgürtels auf der nördlichen Gebirgskette, die das Jordantal überragt, vorantreiben. Bereits 1977 wurde auf konfisziertem Land von Taybeh zunächst vom israelischen Militär die Siedlung Rimmonim gegründet, später übernahmen dort Zivilisten. Dieser Siedlungsgürtel erfüllt auch sicherheitspolitische Funktionen für Israel, erschwert aber die Verwaltung durch die Palästinensische Autonomiebehörde und eine künftige zusammenhängende palästinensische Staatlichkeit, die gerade jetzt von immer mehr Ländern gefordert wird. Kritiker sehen darin eine Form schleichender Annexion. Nach Angaben des arabischsprachigen Nachrichtenpartners von CNA haben Siedler einen neuen Außenposten am östlichen Rand von Taybeh auf den Ruinen eines Bauernhauses errichtet, dessen christliche Besitzer vor einem Jahr vertrieben wurden.
Der Außenposten wurde in einer landwirtschaftlichen Zone errichtet, die etwa 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Ortes umfasst, also seine wirtschaftliche Lebensader darstellt. Das Gebiet beherbergt Tausende von Olivenbäumen, Geflügel- und Schafzuchtbetriebe. Während der letzten Olivenernte wurde den christlichen Landwirten zum zweiten Mal in Folge der Zugang zu ihrem Land in der Nähe der jüdischen Siedlung Rimmonim verwehrt, was entweder zum Diebstahl oder zum vollständigen Verderben der Olivenernte führte. Ungefähr 20 Familien wurden körperlich angegriffen, als sie versuchten, ihr Land zu erreichen und die Oliven, einst die Ernährungsgrundlage der palästinensischen Bevölkerung, zu ernten. In Taybeh werden aber nicht nur die Olivenbauern von jüdischen Siedlern drangsaliert. Im Frühjahr wurde die orthodoxe St. Georgs-Kirche samt Friedhof überfallen; es wurde Feuer gelegt, das aber rechtzeitig gelöscht werden konnte.
Pater Bashar Fawadleh, Pfarrer der katholischen Kirche in Taybeh, erklärte gegenüber CNA, dass seit Oktober letzten Jahres mehr als 10 Familien Taybeh aus Angst vor der anhaltenden Gewalt und den Schikanen verlassen haben. Die israelischen Behörden haben Eisentore an den Eingängen des Ortes installiert, wodurch der Zugang der Bewohner zu ihren Feldern und zur Arbeit stark behindert wird. Viele Bewohner ziehen jetzt eine Auswanderung in Betracht, so der Ortspfarrer. Seit einigen Jahren wurde Taybeh bekannt durch das “Taybeh Beer”, die erste und einzige palästinensische Brauerei, die sich im Besitz der Familie Khoury befindet. Die Brauerei wurde zum größten Arbeitgeber und veranstaltet zusammen mit der Gemeinde das Taybeh Oktoberfest, ein kulturelles und wirtschaftliches Festival zur Förderung der lokalen Identität und des Tourismus.
Mit dem biblischen Ephraim identifiziert
Taybeh wird mit dem biblischen Ephraim identifiziert (Johannes 11,54), wo sich Jesus nach der Auferweckung des Lazarus zurückzog. Archäologische Funde zeigen, dass Taybeh bereits in der frühbyzantinischen Zeit (viertes bis siebtes Jahrhundert nach Christus) ein christliches Dorf war. Die Einwohner gehörten zur griechisch-orthodoxen Kirche, der byzantinischen Reichskirche. Im 18. Jahrhundert spaltete sich ein Teil der orthodoxen Christen ab und trat in Gemeinschaft mit Rom, behielt aber den byzantinischen Ritus. So entstand auch in Taybeh eine melkitische Pfarrei. 1912 gründete ein Luxemburger Priester in Taybeh die römisch-katholische Pfarrei.
Den Luxemburger Dominikanerpater Zephyrin Biever (1849-1915) hatte seine Heilig-Land-Begeisterung 1876 als Missionar nach Palästina geführt. Er arbeitete zunächst in Jerusalem und ließ sich dann in das 1849 wieder begründete Lateinische Patriarchat inkardinieren, das ihn in Transjordanien in Madaba einsetzte. Seit 1891 war er Direktor des deutschen Heilig-Land-Vereins in Tabgha am See Genezareth, an der Stelle der Brotvermehrung. Von dort aus gründete Pater Biever in vielen christlichen Ortschaften Galiläas Schulen. 1898 empfing er im Namen des Heilig-Land-Vereins Kaiser Wilhelm bei seinem Besuch in Haifa. Auch Deutschland hatte damals politische Interessen im Heiligen Land. 1900 empfing Biever auch den deutschen Reisenden Karl May in Tabgha. Vom Lateinischen Patriarchen erhielt der Pater 1907 eine neue Pfarrei in Bet Sahur, dem Dorf der Hirten in der Nähe von Bethlehem, das damals auch noch ein rein christlicher Ort war. Im Jahre 1912 wurde er damit beauftragt, in dem Dorf Taybeh, das ihm seit seiner Zeit in Tabgha schon am Herzen lag, die erste katholische Missionsstation zu eröffnen.
Der Ort war im 19. Jahrhundert Schauplatz eines langjährigen Streits zwischen den beiden dominierenden christlichen Clans der Barakat und Khoury. Nachdem mehrere Versuche, diesen Streit zu lösen, fehlgeschlagen waren, entschied sich einer der Clans dazu, die griechisch-orthodoxe Kirche zu verlassen und bat das Lateinische Patriarchat in Jerusalem um Aufnahme. Deshalb sind heute drei christliche Konfessionen in der rund 3 000 Einwohner umfassenden Ortschaft vertreten.
Der Autor ist freier Journalist und arbeitet bei der Erzdiözese Luxemburg.
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