Im Existenzkampf
Gazakrieg – Die israelische Kriegsführung in Gaza wird im Westen zunehmend als irrational betrachtet. Ein Podcast gibt Einblicke in die Weltsicht der Regierung Netanjahu
24.08.2025
Handelt Israel bei seiner Kriegsführung in Gaza noch rational? Als der Bundeskanzler Friedrich Merz Anfang August das teilweise Waffenembargo für Israel rechtfertigte, war auch der Zweifel genau daran Teil der Erklärung. Was aber motiviert dann das Vorgehen der Regierung Netanjahu? Das Interview, das die Podcaster Konstantin Kisin und Francis Foster mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu führten und am 20. August veröffentlichten, ist weniger deswegen beachtenswert, weil es neue Informationen oder nie gehörte Argumente ans Licht bringen würde (tut es nicht wirklich), sondern weil es Zuhörern auf 40 Minuten Länge erlaubt, sich noch einmal in die Perspektive Netanjahus und wohl nicht weniger Israeli einzufühlen.
Welche militärischen Ziele meint der israelische Ministerpräsident noch erreichen zu können? Wieso versucht er nicht, in Zusammenarbeit mit arabischen Nachbarstaaten und der palästinensischen Autonomiebehörde Schritte in Richtung des ja auch in seinem Land ersehnten Friedens zu gehen? Was aus dem Gespräch wieder einmal deutlich wird, ist, dass die Auseinandersetzung mit der Hamas für Netanjahu nicht einfach irgendeine Militäroperation ist, sondern ein tödlicher Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei selbst, vergleichbar mit dem Kampf der Alliierten gegen Nazi-Deutschland, die darin ja auch nicht zimperlich gewesen seien, und das alles seit Langem. Das bestialische Verhalten der Hamas am 7. Oktober 2023 habe ihn darin “bestärkt”, dass es “heute, in dieser Welt des Relativismus”, keine Symmetrie zwischen Israel und der Hamas gebe. “Wir sind nicht gleich. Wir führen Kriege nicht auf diese Art. Wir beteiligen uns nicht an solchen Horrortaten. Wir verstümmeln nicht willkürlich Menschen … Sie tun das mit einer teuflischen Freude, sie kommen mit GoPro-Kameras”.
Tunnelblick in Richtung Sieg
Für Netanjahu, der daran erinnert, auch schon 2005 gegen den Abzug der israelischen Armee aus Gaza gewesen zu sein, keine Überraschung. Man habe nur vor dem 7. Oktober keinen nationalen und internationalen Konsens gehabt, nach Gaza gehen und die Hamas “auslöschen” zu können. Das habe sich geändert – jedenfalls bis westliche Führer wieder eingeknickt seien, was aber an der israelischen Überzeugung nichts ändere. Von der Möglichkeit der physischen Auslöschung (und der Gerechtigkeit dieser Forderung) gibt sich Netanjahu überzeugt. Ob ein weiterer Krieg angesichts des Leids in Gaza und obwohl fast alle militärischen Ziele bereits erreicht seien, nicht zu neuer Radikalisierung und einem unendlichen Konflikt führe? Das Gegenteil sei richtig, sagt Netanjahu: Den ewigen Krieg bekomme man, wenn man die Hamas, nach wie vor willens, Israel zu zerstören, nun in Ruhe lasse. Angeblich würden auch Bewohner von Gaza gegen die Hamas kämpfen, die unterstütze man nun, indem man die Tyrannei in Gaza beende.
Deutlich wird in dem Gespräch ein gewisser Tunnelblick: Den Propaganda-Krieg verliere man zwar, das aber auch schon seit 2500 Jahren. Nur sei jetzt der reale Sieg sozusagen ganz nah: Man gewinne am Boden. Und je schneller man gewinne, desto schneller werde sich auch die antiisraelische Propaganda in Luft auflösen. Ja, man werde halt verunglimpft, als Kriegsverbrecher, als Teufel dargestellt. Das sei für ihn “Lärm”, sozusagen Hintergrundrauschen. Einfach schnell den gerechten Krieg gewinnen. “Und ich sage ihnen, wir werden ihn gewinnen. Und wir werden damit auch den Frieden gewinnen. Denn ich glaube, in unserer Gegend – und auch in Ihrer Gegend – respektieren die Menschen den Starken, und der Starke muss gewinnen. Der Starke kann böse oder gut sein. Aber man darf nicht verlieren. Wenn man verliert, geht niemand Bündnisse mit einem ein. Niemand schließt Frieden mit einem. Frieden, Bündnisse werden nur mit den Starken geschlossen … Mein Anliegen ist das Überleben des einzigen jüdischen Staates, oft im Angesicht unglaublicher Verleumdung und Lügen, aber so läuft das nun mal.” Für Netanjahu ist all das, wie er später hinzufügt, eine auch Präventivkriege rechtfertigende Lehre aus der Geschichte: “Wenn jemand sagt, er wird (dich) vernichten, nimm es ernst. Warte nicht darauf, sondern verhindere es.” Und aus der Biologie: “Damit ein Organismus überlebt, muss er beizeiten Gefahren erkennen. Dann hat er zwei Optionen: Fliehen oder Kämpfen. Und wir können nirgendwohin fliehen. Wir sind in der Heimat unserer Vorfahren und wir gehen nirgendwo hin. Also kämpfen wir gegen sie”. Im Übrigen aber kämpfe man den Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei auch für das Wohl des Westens.
Die Zukunftsvision bleibt schwammig
Bleibt für den Außenstehenden nur die Frage, ob bei derart existenziell motivierter Kriegsführung nicht doch die Gefahr besteht, dass die eigene Zivilisiertheit Schaden nimmt. Zumindest die Existenz dieser Gefahr einzugestehen, ist freilich nicht Netanjahus Sache. Die immer wieder mal geäußerten Vertreibungsfantasien seiner radikalen Koalitionspartner, immerhin auf Ministerebene? Seien “legitime Meinungen”, aber er jedenfalls billige keine ethnischen Säuberungen. Das Sterben von Zivilisten sei eine Tragödie, aber man tue alles, was man könne, um ebenjenes zu vermeiden. “Keine Armee in der Geschichte“ habe so viel zur Vermeidung dieser Toten in derart dichtem Häuserkampf getan, die Alliierten im Zweiten Weltkrieg hätten jedenfalls keine Lebensmittel-Karawanen geschickt oder die Zivilisten zum Verlassen der Kampfgebiete aufgefordert.
Schwammig bleiben bei alldem auch Netanjahus ebenfalls am Zweiten Weltkrieg orientierte Zukunftsvisionen. Ein Sicherheitsgürtel, eine nicht-israelische zivile Verwaltung des Gazastreifens, die dem friedlichen Zusammenleben verpflichtet sei und Terror sowie die Erziehung der Kinder zu Terroristen nicht dulde – was neben der Hamas auch die Palästinensische Autonomiebehörde ausschließe – und ein “Deradikalisierungsprogramm” wie in Deutschland und Japan nach 1945, das es teils auch in Golfstaaten schon gegeben habe. Bedingungslose Kapitulation, Besatzung, Entnazifizierung – ist dieses eher an Geschichtsbücher erinnernde Programm wirklich realistisch? Ist das das, was das Heilige Land und die Welt im 21. Jahrhundert brauchen? Netanjahu jedenfalls gibt sich unbeirrbar: “Es wird schweres Gewichtheben, aber man kann es schaffen”.
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