“Netanjahu treibt Trump vor sich her”
Der Orient ist weiter instabil, ein Regimewechsel im Iran nicht in Sicht, meint der Politikwissenschaftler Cengiz Günay
10.07.2025
Herr Günay, ist der Orient nach den israelisch-amerikanischen Angriffen auf den Iran nun sicherer oder unsicherer geworden?
Ich glaube nicht, dass er sicherer geworden ist. Es gibt weiterhin große Instabilität. Der Waffenstillstand ist äußerst brüchig, so dass es jederzeit wieder losgehen könnte. Die Angriffe auf iranische Atomanlagen und die gezielten Tötungen machen die Region jedenfalls nicht stabiler.
Außenpolitisch ist der Iran nun weithin amputiert: Noch vor zwei Jahren reichte seine Einflusszone von der Westgrenze Afghanistans bis zum Mittelmeer. Nun sind seine Proxys verschwunden oder stark geschwächt: das Assad-Regime in Syrien, die Hisbollah, die Hamas.
“Man sollte den Iran nicht zu schnell abschreiben, aber er ist auf alle Fälle stark geschwächt”
Man sollte den Iran nicht zu schnell abschreiben, aber er ist auf alle Fälle stark geschwächt. Das iranische Regime verfolgte eine Regionalpolitik, die vor allem über Stellvertreter und Stellvertreterkriege den eigenen Einfluss zu stärken versuchte. Jetzt ist Teheran in seinen Möglichkeiten stark eingeschränkt. Allein die Tatsache, dass die Israelis die Lufthoheit über dem Iran erringen konnten, ist Zeichen einer militärischen Schwäche. Vielleicht haben wir den Iran lange Zeit für stärker gehalten, als er tatsächlich war, aber jetzt würde ich davor warnen, ihn zu schwach einzuschätzen.
Erwarten Sie vermehrt Terroranschläge seitens des Iran, in der Region und weltweit?
Es gibt immer wieder Gerüchte, dass der Iran solche Anschläge plant. Wobei es innerhalb des Iran verschiedene Fraktionen und Richtungen gibt; das ist ein komplexes System. Es gibt Strömungen in diesem Regime, die solche Möglichkeiten nutzen wollen würden, aber das wäre gewiss nicht hilfreich für den Iran, der ja versucht, wieder auf die Füße zu kommen. Die hochrangigen Vertreter des Iran wollen eher wieder eine Rolle auf dem internationalen Parkett erlangen. Dafür wären Terrorakte nicht hilfreich.
Viele Exil-Iraner hofften auf einen Regimewechsel, vielfach verbunden mit einem Blick auf den Kronprinzen, den Sohn des letzten Schahs. Wird sich das Mullah-System retten können?
Das Narrativ von einem möglichen Sturz des Regimes wurde ganz gezielt verbreitet und war Teil des Informationskrieges Israels und der Amerikaner. Mir kam es von Anfang an naiv vor, zu meinen, dass sich die Bevölkerung gegen das eigene Regime erhebt, wenn man Bomben aus der Luft abwirft. Dafür gibt es historisch keine Beispiele. Im Gegenteil: Menschen, die sich selbst in Sicherheit bringen müssen, stehen nicht gegen ihre Regierung auf. Ein Regime stürzt nur, wenn es von einer Mehrheit der Bürger als illegitim betrachtet wird. Unzufriedenheit mit Korruption, Teuerung und Repression alleine reicht nicht. Die Rede vom Regimewechsel war eine gezielte Propaganda, um das Regime zu verunsichern. Es hat sich herausgestellt, dass die Israelis über ein weitverzweigtes Informanten-Netzwerk im Iran verfügen. Die Exil-Iraner hoffen natürlich auf ein Ende des Regimes, aber man darf Hoffnungen nicht mit der realistischen Einschätzung der Lage verwechseln. Was den Kronprinzen betrifft, so muss man wissen, dass die Herrschaft seines Vaters ein brutales Regime und sehr verhasst war. Ich glaube nicht, dass er eine Chance hätte.
Das repressive Vorgehen des Mullah-Regimes reicht nicht für einen Umsturz?
“Vor allem die junge Generation im urbanen Raum wünscht sich Veränderungen, Reformen und mehr Freiheit”
Das ist ein sehr brutales Regime. Es werden auch jetzt Menschen aufgehängt, weil man sie der Kollaboration mit Israel beschuldigt. Vor allem die junge Generation im urbanen Raum wünscht sich Veränderungen, Reformen und mehr Freiheit. Ein Regimewechsel entsteht daraus noch nicht, aber vielleicht, wenn die Nachfolge von Ayatollah Ali Khamenei, der schon 87 Jahre alt ist, problematisch geregelt wird und Brüche im Regime entstehen.
Wer sind jetzt die starken Player in dieser Region? Israel, das weit über seine Grenzen hinaus agiert, die Türkei und Saudi-Arabien.
Israel hat seit 7. Oktober 2023 bewiesen, dass es bereit und in der Lage ist, die Region langfristig sicherheitspolitisch neu zu ordnen. Das hat Israel zu einem wichtigen Akteur gemacht. Der mutige, aggressive Angriff Israels auf den Iran hat die USA gezwungen, in der Region wieder mehr präsent zu sein. Das war nicht Trumps Plan, der auf eine Aussöhnung und neue Allianzen setzte, um nicht selbst involviert zu werden. Durch den Sturz des Assad-Systems in Syrien spielt die Türkei wieder eine wichtigere Rolle, aber sie ist in ihren Möglichkeiten ökonomisch und politisch sehr begrenzt. Die Türkei steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise; durch die Verhaftung des Oberbürgermeisters von Istanbul und die Massenproteste aber auch in einer politischen Krise. Saudi-Arabien ist wirtschaftlich potent und mit den USA verbündet, aber auch in einer Veränderungsphase, die mit Risiken einhergeht: Kronprinz Mohammed Bin Salman hat ein mutiges Modernisierungsprogramm, aber der Übergang ist noch nicht geschafft. Auch Ägypten ist eingeschränkt durch seine wirtschaftlichen Probleme.
Erfüllt US-Präsident Trump einfach Benjamin Netanjahus Agenda in Nahost – oder gibt es einen eigenen Trump-Plan für einen neuen Nahen Osten?
Im Moment treibt Netanjahu Trump vor sich her. Trump wollte die Abraham-Abkommen aus seiner ersten Amtszeit ausweiten, doch er und seine Bewegung sind in den USA stark von pro-israelischen Gruppen abhängig. Auch rhetorisch hat er sich so weit rausgelehnt, dass er schwer einen Konflikt mit Netanjahu beginnen kann. Wenngleich es Raum dafür gäbe.
Netanjahu will die Hamas restlos zerstören. Ist das realistisch? Oder bleibt Gaza eine Keimzelle des Terrors, des Hasses, der Rachegefühle?
“Netanjahu scheint gar kein Interesse zu haben, eine Lösung zu finden, weil es ihm um den Erhalt seiner extrem rechten Regierung geht, in der er selbst der Moderateste ist”
Mit einem Krieg dieser Art kann man das Problem nicht aus der Welt schaffen. Das sagen auch viele israelische Experten. Das ist kein konventioneller Krieg zwischen zwei Staaten: Die Hamas ist teilweise eine Terrororganisation, aber sie hat auch soziale Netzwerke aufgebaut, darum ist sie schwer zu bekämpfen. Solange das Grundproblem nicht langfristig und für beide Seiten – Israel und die Palästinenser – annehmbar gelöst ist, wird es immer Probleme geben. Aber Netanjahu scheint gar kein Interesse zu haben, eine Lösung zu finden, weil es ihm um den Erhalt seiner extrem rechten Regierung geht, in der er selbst der Moderateste ist. Es geht ihm zudem um sein eigenes politisches Überleben. Angesichts der Kollateralschäden ist die Vernichtung der Hamas als Kriegsziel heute kaum mehr glaubwürdig. Stattdessen wird auch das Image und die Reputation Israels beschädigt.
Für die These, Netanjahu wolle gar keinen Frieden, könnte man das robuste Vorgehen israelischer Siedler gegen angestammte Palästinenser im Westjordanland anführen. Verhindert das eine Befriedung und gleichzeitig die Etablierung einer seriösen Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde?
Israel hatte nie ein Interesse an einer starken Autonomiebehörde. Ja es hat lange Zeit sogar die Hamas unterstützt, um die Palästinenser zu spalten und die Palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen.
Angesichts all dessen scheint die Zweistaaten-Lösung mausetot. Haben Sie eine Vision für einen Nahen Osten ohne Krieg und Gewalt?
Die Zweistaaten-Lösung ist ein Mantra, das alle vor sich hertragen, die mit dem Konflikt nur aus der Ferne zu tun haben. Dieses Mantra legitimiert die aktuelle Okkupation von Teilen der Westbank und wirkt damit einer tatsächlichen Lösung des Konflikts entgegen. Auch aus Mangel an Alternativen: Es scheint niemand fähig, ein alternatives Konzept zu präsentieren. Eine Alternative israelischer Friedensaktivisten wäre eine Einstaaten-Lösung, also dass Israelis und Palästinenser unter einem Dach zusammenleben. Das ist eine post-zionistische Idee von Israelis, die langfristigen Frieden wünschen. Dafür gibt es vermutlich weder eine Mehrheit in Israel noch unter den Palästinensern. Die Situation ist sehr verfahren, denn die öffentlichen Debatten in Israel sehen das Land in einer permanenten Gefahrensituation und nehmen die Araber pauschal als Terroristen wahr. Auf der anderen Seite ist es ähnlich. Wo aber Empathie für die andere Seite völlig fehlt, sind Lösungen schwierig.
Wird sich Israels Nachbar Syrien mittelfristig beruhigen und das Regime in Damaskus eher moderater? Oder entsteht hier ein sunnitischer Terrorstaat?
Letzteres ist die große Sorge vieler. Mit dem Sturz von Assad ist die Lage nicht befriedet. Die Regierung hat nicht die Kontrolle über alle Regionen, zugleich schafft sie kein inklusives System. Wir haben es in Syrien mit einer traumatisierten Gesellschaft zu tun, in der viele Waffen in Umlauf sind und viele extremistische Gruppen agieren. Hier ist noch viel Potenzial für Konflikte, aber die Gesellschaft ist nach 13 Jahren Bürgerkrieg völlig erschöpft. Und auch die externen Sponsoren des Bürgerkriegs haben mit anderen Problemen zu ringen: Iran und Russland auf der einen Seite, Saudi-Arabien und konservative Sunniten auf der anderen.
Jordanien scheint – wider seine Geografie – eine Insel des Friedens und der Harmonie zu sein. Wie erklären Sie dieses Wunder?
Auch Jordanien kämpft mit großen Problemen: Es gibt eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, eine wachsende Zahl der Palästinenser, die noch immer nicht voll integriert sind. Es gibt immer wieder Kritik an der Monarchie. Jordanien ist zudem in einer gewissen sicherheitspolitischen Abhängigkeit von außen. Aber ja, Jordanien lebt relative Stabilität in einem völlig instabilen Umfeld – basierend auf der Schwäche des eigenen Staates.
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