Die Abtreibungsdebatte als rhetorischer Kriegsschauplatz

Abtreibung und Menschenwürde – Die Causa Brosius-Gersdorf zeigt, dass eine Entscheidung für “legale Abtreibung” systematisch erzwungen werden soll

Quelle

21.07.2025

Henry C. Brinker

Von vielen doch unerwartet, aber umso heftiger flammt in Deutschland eine neue Abtreibungsdebatte auf. Ging es anfangs “nur” um eine Richterstelle am Bundesverfassungsgericht, so treten jetzt alte Frontlinien in neuer Klarheit hervor.

Als linke Politiker etwas zu unbeschwert feierten

Unterschiedlichste Akteure melden sich auf dem Schlachtfeld der Rhetorik zu Wort. Juristen und Theologen, Politiker und Journalisten produzieren ein wahres Kakophonie-Getümmel. Fast wie im Krieg gibt es Offensiven und Scharmützel, strategische Rückzüge und Frontbegradigungen, Finten, Fluchtbewegungen und – erste Friedenszeichen. Dabei ist es gar nicht lang her, da hätte eine besondere gesetzgeberische Zäsur Anlass zu bösen Ahnungen geben müssen.

Am 24. Juni 2022 hat der Deutsche Bundestag die ersatzlose Streichung des Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch beschlossen. Dieser Paragraf regelte ein Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche. SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und die Linken stimmten für die Abschaffung, während CDU/CSU und AfD dagegen votierten. Diese signalstarke Erweiterung des Möglichkeitsspektrums rund um das Thema Abtreibung “normalisierte” den Schwangerschaftsabbruch als gynäkologische Leistung wie andere auch, aufgeführt im Angebotskatalog entsprechender Praxen und Kliniken.

Und die Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen wurde von den Befürwortern ausgelassen auf eine unangemessen-triumphierende Art gefeiert, die selbst in den Augen neutraler Beobachter befremden musste. Jubel statt Nachdenklichkeit und eine Rhetorik, die Andersdenkende das Fürchten lehren sollte. Die Frauen der SPD-Bundestagsfraktion posieren für ein Siegerfoto winkend vor dem Reichstag. Ein Video der FDP-Bundestagsabgeordneten Kristine Lütke zeigte die Politikerin mit vier FDP-Kolleginnen und -kollegen, wie sie zum Song “Short Dick Man” mit Masken und Sonnenbrillen tanzend durch den Gang des Bundestags tobten. Betitelt war das Video mit den Worten “Wir, auf dem Weg zur Abstimmung, um endlich § 219a aus dem StGB kicken zu können”. Die heutige CSU-Bundesministerin Dorothee Bär reagierte auf die Siegesfeier-Rhetorik und Jubelstimmung damals mit dem Satz: “Eine Party zu feiern nach so einem Gesetzentwurf finde ich skandalös!”

Argumentieren wie Foucault und Bourdieu

Hat man im Lager der Unionschristen wirklich geglaubt, nach diesem Etappensieg würde die Abtreibungslobby Halt machen auf dem Weg zum Ziel der Abschaffung des Paragrafen 218? Diese Frage, wo der nächste Schritt erfolgen würde, ist beantwortet. Mit der 54 Jahre alten, kinderlosen Richterin und Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf nominierte die SPD eine Juristin, die sich ohne Wenn und Aber für die Einführung der Fristenlösung in Ablösung der bisher gültigen Kompromissformel “rechtswidrig, aber straffrei” ausspricht. Für sie darf das werdende Leben lediglich in abgestufter Form die grundgesetzlich garantierte Menschenwürde und das Lebensrecht beanspruchen. Die entstandene Diskussion ist deshalb so unübersichtlich, weil sie sich nicht nur im juristischen Raum bewegt (auch das wäre schon kompliziert genug), sondern verschiedene Sphären unserer Gesellschaft zusammenführt. Das Ergebnis ist eine kommunikativ asymmetrische Kontroverse.

Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat vor über 50 Jahren dargelegt, dass zum Beispiel eine klassisch religiöse Kommunikationshaltung mit ihrer Absolutheit aus Transzendenz und Moral kaum kompatibel zu juristischer Argumentation wäre, die rein formal und normativ-selbstreferenziell ausgerichtet ist. Die im Jahr 2022 formulierte Haltung der Deutschen Bischofskonferenz, nach der die Tötung ungeborenen Lebens mit der christlichen Ethik unvereinbar sei und jeder Mensch von der Empfängnis an eine unantastbare Würde besäße – sie wäre nach Luhmann nur systemimmanent gültig und kaum allgemein diskursfähig. Dieses Dilemma der unterschiedlichen Wahrnehmungsräume geht einher mit unterschiedlichen rhetorischen Sprachformen. Sprache, so sah es der französische Philosoph Michel Foucault in seiner “Ordnung des Diskurses”, wird zum Machtinstrument wie der Diskurs selbst, wo man die “Hoheit” beansprucht. Für den Soziologen Pierre Bourdieu spiegelt sich im Sprachcode der Juristen ein Wille zur Distinktion, zur Abgrenzung – als Machtanspruch. Daher ist kaum verwunderlich, dass der Nicht-Jurist Markus Lanz unter der juristischen Rabulistik von Brosius-Gersdorf vergisst, einfach die ganz natürliche Frage zu stellen, welche Form der Abtreibung denn nach ihrer Meinung überhaupt noch strafbar wäre. Auch dass der wackere Bamberger Erzbischof Herwig Gössl unter der Semantik-Walze der gewieften Juristin den Teilrückzug antritt, muss man ihm vor diesem Hintergrund nachsehen. Der Kampf um Definitionsmacht und Legitimität – er ist zum rhetorischen Spektakel in der Arena geworden.

Ein Entscheidungs-Showdown steht bevor

Luhmanns Befund wäre, dass die aktuelle Kontroverse um den Paragrafen 218 und die Richterbesetzung eigentlich nicht konsensual lösbar ist, da die beteiligten Systeme asymmetrisch nach unterschiedlichen Logiken funktionieren. Die entstandenen Kommunikationsirritationen sind kaum aufzulösen. Es steht ein Entscheidungs-Showdown bevor. Haben die christlichen Politiker und die Kirchen vor diesem Szenario eine Chance, rhetorisch-diskursiv zu obsiegen? Foucault würde sagen, dass in dem Maße, wie es gelingt, die Abtreibung selbst zur Normabweichung zu erklären und das Lebensrecht des Embryos als maßgebliche Norm zu schützen, auch die Beibehaltung des Paragrafen 218 möglich wäre. Der Fall Brosius-Gersdorf wäre erledigt.

Haben christliche Kreise noch diese Kraft und vor allem den Willen zur Normsetzung? Es muss klar dargelegt werden, wie fatal ein zivilisatorischer Komplex aus ich-bezogenen Lebensstilen, industrieller Effizienz und priorisierten, vermeintlich sozial-ökonomischen Zwängen wirkt. Legale Abtreibung als gesellschaftlicher Standard richtet sich gegen natürliche, reproduktive Notwendigkeiten und vor allem gegen das weithin vergessene Recht der Frau auf ein gesellschaftlich unterstütztes und liebevoll begleitetes Austragen eines Kindes.

Der Autor schreibt über kulturelle und gesellschaftspolitische Phänomene.

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