Syrien: Die Skepsis des Erzbischofs von Homs

Drei Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes kommt es in Syrien weiterhin zu “Gewalt- und Racheakten”, insbesondere in den Gebieten der Alawiten. Das sagte der Erzbischof von Homs, Jacques Mourad, jetzt in einem Interview mit uns

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Anfang März war es bei einer Militäroffensive, der Anschläge von Assad-Anhängern vorausgegangen waren, zu Massakern gekommen. Dabei wurden nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (OSDH) Anfang März mehr als 1.600 Zivilisten getötet. Die meisten von ihnen waren Alawiten, also Angehörige der Gemeinschaft, aus der der abgesetzte Präsident Bashar al-Assad stammt.

Fragt man Erzbischof Mourad, ob man mit solchen Massakern rechnen musste, antwortet er: “Leider ja. Schon seit Beginn dieser großen Umwälzungen werden wir Zeugen zahlreicher Gewalt- und Racheakte. Ich habe auch den Eindruck, dass all diese Gewalt geplant und vorbereitet war. Wir haben versucht, auf Versöhnung zu setzen und nach vorn zu schauen, aber das war schon anders geplant. Es tut mir leid, aber das ist die Realität.”

“Die Massaker waren geplant”

Nun hat es der Rebellenführer Ahmed al-Sharaa, ein früherer Islamist, seit der Einnahme von Damaskus nicht an Schalmeienklängen fehlen lassen. Doch der Erzbischof von Homs, der 2015 mehrere Monate lang von Terroristen des “Islamischen Staats” in deren Hochburg Rakka als Geisel gehalten wurde, warnt vor allzu großem Optimismus. Beim Vorgehen gegen die Alawiten seien, wie er bestätigt, auch einige Christen getötet worden.

“Aber diese Menschen wurden nicht getötet, weil sie Christen waren, sondern weil sie in den Vierteln oder in den Gebieten der Alawiten lebten. Es handelte sich nicht um eine direkte Verfolgung: Es ist nicht dasselbe wie gegen die Alawiten.”

Unzufrieden mit der Übergangs-Verfassung

In diesen Tagen haben die früheren HTS-Rebellen eine Übergangs-Verfassung für Syrien vorgestellt, in der das islamische Recht weiterhin als die wichtigste Quelle für Recht und Justiz bezeichnet wird. Der Text, der fünf Jahre gelten soll, enthält auch ein Bekenntnis zu Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit sowie zu den Rechten von Frauen; zugleich legt er aber fest, dass der Staatschef immer ein Muslim sein muss.

“Ich denke, dass die Mehrheit des syrischen Volkes diese neue Verfassung nicht gutheißt! Sie entspricht nicht den Erwartungen des Volkes. Nach all den Jahren des Leidens und des Krieges – von welchen Freiheiten oder welcher Demokratie ist da die Rede? Das Land war fast fünfzig Jahre sozusagen unter Verschluss, das wünscht sich jetzt etwas anderes. Weder Muslime, noch Christen, noch Alawiten, noch Ismaeliten, noch Kurden, noch Drusen – niemand ist mit dieser Verfassung einverstanden.”

“Wir wollen die Früchte der Demokratie anfassen können”

Wenn Jacques Mourad eine Verfassung texten könnte, dann würde da anderes drinstehen als in der von al-Sharaa unterschriebenen.

“Zunächst einmal, dass in Syrien die Menschenrechte gelten! Die individuelle Freiheit ist eine heilige Regel. Beenden Sie die Massaker, und erlassen Sie ein Gesetz, das die Todesstrafe verbietet! Wir wollen die Früchte der Demokratie anfassen können. Nichts von alledem ist in der Verfassung verankert. Es ist nicht akzeptabel, dass ein Land wie Syrien unter der Macht einer einzigen Person lebt: Es gibt zwar ein Parlament, Minister, eine Regierung, aber alles unterliegt der Verantwortung des Präsidenten. Wir bräuchten Gewaltenteilung im Land, ein unabhängiges Parlament, eine unabhängige Regierung, eine unabhängige Armee, eine unabhängige Justiz. Nur so könnte ein Land wie Syrien mit all seiner Schönheit, seiner Vielfalt und seinen Gemeinschaften ein Leben in Respekt für alle führen.”

Viel versprochen, wenig geleistet

Nach Jahren des Krieges ist Syrien wirtschaftlich und sozial am Boden zerstört. In den letzten Monaten gab es verschiedene internationale Konferenzen, um dem Land zu helfen. Der Erzbischof von Homs hofft vor allem auf ein Ende der Sanktionen und auf Finanzhilfen. “Seit vielen Jahren warten wir darauf, dass die Versprechen eingehalten werden. Es gab so viele Beschlüsse, Millionen und Abermillionen von Euro und Dollar für das syrische Volk bereitzustellen. Wenn die alle eingehalten worden wären, dann gäbe es keine einzige hungernde Familie im Land…”

Mourad kennt die Vorbehalte in den Geberländern. Früher habe es geheißen, das Assad-Regime stehle die humanitäre Hilfe, die für die Menschen bestimmt war. Heute könne man noch nicht sicher sein, ob unter der neuen Regierung die für Syrien versprochenen Gelder, zum Beispiel aus Europa, wirklich bei den Menschen ankommen.

“Das ist kein normales Leben”

Kirche einzige Anlaufstelle für das Volk

“Aber die Realität ist, dass die einzige Anlaufstelle für das syrische Volk, auch für Muslime und andere Gemeinschaften, die Kirche ist. Jeden Tag helfen wir so vielen Menschen in Not, sei es mit Lebensmitteln, Medikamenten oder anderen Dingen. Wir alle haben in den Jahren des Krieges und des Elends sehr gelitten. Die Syrer waren noch nie ein Volk, das um etwas bittet, sie betteln nicht: Sie arbeiten alle und tun es gerne. Unsere Würde ist ein wichtiges Gut. Aber wir fragen uns, warum wir in einem Land, in dem es Öl gibt, nicht genug haben, um zu heizen, oder warum es kein Benzin gibt, um mit dem Auto zu fahren, oder warum wir unter den ständigen Stromausfällen leiden: An einem Tag haben wir vielleicht zwei, höchstens vier Stunden lang Strom. Das ist kein normales Leben. Die Frage der Hilfe durch die internationale Gemeinschaft muss also gut durchdacht und konkretisiert werden. Es ist notwendig, mit konkreten Bedürfnissen wie Krankenhäusern und Schulen zu beginnen und diejenigen auszubilden, die die Gesellschaft leiten und organisieren sollen.”

Absolut zentral erscheint ihm eine Lockerung der internationalen Sanktionen gegen Syrien. Die EU hat Ende Februar beschlossen, einige der Maßnahmen gegen Syrien in den Bereichen Energie, Verkehr und Bankwesen auszusetzen. Man werde die Entwicklung im Land “aufmerksam verfolgen, um zu beurteilen, ob man weitere Wirtschaftssanktionen einstellen kann”, so die Hohe Vertreterin der EU für Außenpolitik, Kaja Kallas.

Ohne ein Ende der Sanktionen ist alles nichts

“Ohne die Aufhebung der Sanktionen können wir nicht einmal einen kleinen Schritt vorankommen”, sagt Erzbischof Mourad dazu. “Es ist wichtig und notwendig, dass die internationale Gemeinschaft nachdenkt und sich die Frage stellt: Warum haben wir die Sanktionen damals verhängt, und warum halten wir sie heute noch aufrecht? Wir werden niemals zu einem legitimen, gerechten Frieden gelangen, wenn wir nicht den Mut haben, konkrete Punkte anzusprechen, um ein echtes Resultat zu erzielen.”

Das heißt übersetzt: Die EU sollte den Sanktionshebel nutzen, um al-Sharaa und seine Mannen auf konkrete Verbesserungen für die Lage der Minderheiten im Land zu verpflichten. Zugleich würde sich Erzbischof Mourad auch wünschen, dass die christliche Minderheit in der Öffentlichkeit geschlossener auftritt, um ihr Gewicht in die politische Waagschale zu werfen.

Die Zersplitterung der Christen

“Es gibt konkret eine tiefe Spaltung unter uns. Aber der Herr hat nie eine gespaltene Kirche gewollt und hat für ihre Einheit gebetet. Wir erleben das Leid der Migration, die den Nahen Osten von Christen zu leeren droht, in Palästina, im Heiligen Land, im Irak, in der Türkei und auch in Syrien. Aber alle Menschen wollen die Einheit der Kirche! Man darf sich nicht länger weigern, darauf zu hören, denn hier ist die Bevölkerung wirklich gemischt, ein Katholik ist mit einer Orthodoxen verheiratet oder umgekehrt, wir sind und leben zusammen. Im Volk ist die Einheit der Christen längst verwirklicht, aber wenn wir Kirchenführer zusammensitzen, geben wir ein Bild des Schismas und der Kirchenspaltung ab.”

Das Interview mit Erzbischof Mourad führte Olivier Bonnel von der französischen Redaktion von Radio Vatikan.

vatican news – sk, 26. März 2025

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