Eskalierende Gewalt – Schreckensmeldungen aus Syrien

Die Milizen des regierenden Regimes richten ein Blutbad unter den Alawiten an. Syriens Christen haben allen Grund, sich zu fürchten

Quelle
Terror gegen die Alawiten | Die Tagespost

12.03.2025

Stefan Maier

Die Herrschaft des Assad-Clans in Syrien begann bereits vor vielen Jahrzehnten: Im November 1970 übernahm Hafis al-Assad durch einen Staatsstreich die Macht in Syrien, ließ sich 1971 zum Präsidenten “wählen” und regierte das Land bis zu seinem Tod im Jahr 2000 mit überaus harter Hand. Danach folgte ihm sein Sohn Baschar, dessen Herrschaft über das Land nach langen Jahren eines blutigen Bürgerkrieges – mit massiven ausländischen Interventionen – nach einer überraschend erfolgreichen Offensive islamistischer Rebellen der HTS (Hayat Tahrir al-Sham) aus der Provinz Idlib an der türkischen Grenze über Aleppo nach Damaskus im Dezember 2024 mit seiner Flucht nach Russland endete.

Der Assad-Clan, der das Land jahrzehntelang praktisch als sein Privateigentum betrachtete, ausplünderte und Gegner gnadenlos eliminierte – wenn nötig auch zu Zehntausenden, wie beim Aufstand der Muslimbrüder, der 1982 mit der Zerstörung der Stadt Hama seinen Höhepunkt fand oder in den Jahren des Bürgerkrieges seit 2011 –, gehörte der Religionsgruppe der Alawiten an. Die Alawiten sind eine Abspaltung der schiitischen Glaubensrichtung des Islam, der ungefähr zehn Prozent der syrischen Bevölkerung angehören und deren Hauptsiedlungsgebiet sich an der syrischen Mittelmeerküste rund um die Stadt Latakia befindet.

Die ursprünglich armen und benachteiligten Alawiten waren in den Jahren der Herrschaft des Assad-Clans zu Macht und Einfluss gekommen. Viele wichtige Posten in Staat, Regierung und Armee waren vom Präsidenten mit loyalen Gefolgsleuten seiner Konfession besetzt worden – und wurden deshalb im Land mit dem Regime assoziiert, obgleich es auch unter den Alawiten durchaus Gegner der Assads gab.

Übergriffe, Plünderungen, Schikanen

Nach der Flucht von Baschar al-Assad ins Ausland und dem so plötzlichen Zusammenbruch seines Regimes fürchteten viele Beobachter Gewalttaten, Massaker und Akte der Vergeltung an der einst dominanten Minderheit. Diese blieben zunächst aus, was Hoffnungen nährte, dass die neuen Machthaber der HTS – die im Westen wegen ihrer Vergangenheit im Dunstkreis von Al-Qaida als Terrororganisation galt – das Land nach den schrecklichen Kriegsjahren endlich stabilisieren könnten.

Doch bereits im Februar warnte mich ein lokaler Projektpartner eindringlich, dass sich die Situation in der Küstenregion wieder gefährlich zuspitzen würde. Während die neuen Machthaber sich mit Vertretern der vielen christlichen Konfessionen zusammensetzen würden, um diesen zu signalisieren, dass sie im neuen Syrien nichts zu befürchten hätten und ihren Glauben leben könnten, wäre dies im Hinblick auf die Alawiten nicht der Fall. Es gebe vielmehr Übergriffe, Plünderungen und vielfältige Schikanen durch die siegreichen Rebellen. Viele Alawiten würden sich bereits bewaffnen, denn frei zugängliche Waffen gab es nach dem Zusammenbruch des Regimes und dem Zerfall der syrischen Armee im Überfluss. Sie seien bereit, Widerstand zu leisten.

Massaker, Gräueltaten, Racheakte

Am 6. März bewahrheiteten sich diese Warnungen auf dramatische Weise. Es kam offenbar zunächst zu Angriffen bewaffneter Anhänger des alten Regimes gegen Checkpoints der neuen Machthaber in der Nähe der Stadt Jableh, und auch zur Verstärkung herangeführte Kolonnen von Milizionären der HTS wurden angegriffen und erlitten Verluste. Daraufhin wurden starke Kräfte mit Panzern und Raketenwerfern aus verschiedenen Landesteilen zusammengezogen und zum Gegenstoß in die Region verlegt.

Viele der herangeführten Milizionäre waren keine Syrer, sondern fundamentalistische Muslime aus Afghanistan und anderen Ländern, die im Bürgerkrieg in den Reihen der HTS gegen das Assad-Regime gekämpft hatten und sich nun die willkommene Gelegenheit nicht nehmen ließen, ihren Hass gegen die aus ihrer Sicht ungläubigen Alawiten und Gefolgsleute des von ihnen verhassten Assad auszuleben. In der ganzen Region wurden Häuser nach Waffen und Kämpfern durchsucht, wobei diese Durchsuchungen vielfach für Plünderungen genutzt und unzählige Gräueltaten an der Zivilbevölkerung begangen wurden.

Frau D., eine Alawitin und seit 2020 Lehrerin bei einem von der ICO unterstützten Bildungsprojekt einer lokalen NGO in Latakia, stammt aus Al-Sheer, einem kleinen Dorf fünf Kilometer östlich von Latakia. Am Donnerstag, dem 6. März, beendete sie ihren Arbeitstag gegen 17 Uhr und kehrte in ihre Wohnung in Latakia zurück. Noch am selben Abend kursierten erste Berichte über von HTS verübte Massaker in der Umgebung von Latakia. Am nächsten Tag erhielt sie um 14 Uhr einen Anruf, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass HTS-Kämpfer in Geländewagen in ihrem Dorf eingetroffen seien. Anschließend hätten diese die Männer in kleine Gruppen von fünf bis zehn Personen aufgeteilt und sie auf die Felder, weit weg von ihren Häusern, gebracht. Eine Stunde später rief ihre Schwester erneut an und teilte ihr weinend mit, dass die Kämpfer vier ihrer Cousins erschossen hätten und zwei weitere in ihren Häusern zusammen mit ihren Frauen und Kindern hingerichtet worden seien. Sämtliche Wertgegenstände in den Häusern wurden gestohlen, darunter Geld, Goldschmuck, Mobiltelefone und ein Fernseher. Die Leichen der vier Cousins wurden neben fünf weiteren Opfern auf den Feldern gefunden.

Am späten Nachmittag erhielt dann auch ihr Mann, der aus dem Dorf Al-Sanobar stammt, einem kleinen Ort 15 Kilometer östlich von Latakia, einen Anruf von seinem Vater. Dieser teilte ihm mit, dass HTS-Kämpfer mehrere Häuser im Dorf angegriffen und seine Tante und ihre gesamte Familie, zwei Erwachsene und fünf Kinder, getötet hätten. Im selben Dorf wurden 27 weitere Menschen auf die gleiche Weise hingerichtet. Alle Häuser wurden geplündert.

Szenen unvorstellbarer Brutalität und Grausamkeit

Unzählige alawitische Mitarbeiter unserer Partner-NGO mussten am vergangenen Wochenende den Verlust von Familienangehörigen beklagen: A.M. verlor ihren Onkel und dessen Frau; M.M. ihre Tante, deren Mann und ihren Cousin; R.A. ihren Cousin mit dessen Familie (zwei Erwachsene und vier Kinder). Allein im Team dieser kleinen Organisation beklagen zehn Mitarbeiter den Verlust von insgesamt 40 Angehörigen. Eine unverheiratete Projektmitarbeiterin wollte das Wochenende in ihrem Heimatort al-Shilfatiyah verbringen und musste dort miterleben, wie zwischen dem 6. und 9. März insgesamt 34 Dorfbewohner hingerichtet wurden. Sie verlor zwar keine Angehörigen, ist aber schwer traumatisiert.

In den vergangenen Tagen erhielt ich verstörende Videos, die teilweise von den Tätern selbst angefertigt und ins Netz gestellt worden waren. Sie zeigen Exekutionen, Szenen unvorstellbarer Brutalität und Grausamkeit und können natürlich aus der Ferne nicht verifiziert werden. Basierend auf den geschilderten Erfahrungen der Mitarbeiter unserer Partnerorganisation ist davon auszugehen, dass sie echt sind und nur einen Bruchteil der tatsächlich verübten Grausamkeiten wiedergeben. Zumindest ein Video zeigt, wie Leichen von der Ladefläche eines Kleinlasters in eine Schlucht geworfen werden, offenbar um Spuren der Untaten zu beseitigen.

Es kursieren Erzählungen von Familien, die in ihren Häusern verbrannt wurden und von Milizionären, die selbst Drohnen einsetzen, um in die Natur geflüchtete Dorfbewohner in ihren Verstecken aufzuspüren. Vielerorts lagen noch Tage nach den Massakern Leichen auf den Straßen, sogar in einigen Stadtteilen der Großstadt Latakia, die zu entfernen sich niemand traute. Während die in Großbritannien sitzende “Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte” zuletzt mehr als 1.300 Menschen als getötet auflistete, dürften die wahren Zahlen mit großer Wahrscheinlichkeit noch deutlich höher sein und das wahre Ausmaß wohl erst nach und nach ans Tageslicht kommen.

Kommen die Christen als Nächste an die Reihe?

In der ganzen Region gab es in den vergangenen Tagen keinen Strom, kein Wasser und keine Transportmöglichkeit. Viele Familien flüchteten deshalb zu Fuß und waren oft viele Stunden unterwegs, um sich in christliche Dörfer zu flüchten, wo sie sich sicher fühlten – obgleich die Täter vielfach angekündigt hätten, dass die Christen als nächste an die Reihe kommen würden. Belegt sind zumindest einige christliche Opfer, wie etwa der Vater eines orthodoxen Priesters, der ermordet wurde, als er sich gegen den Diebstahl seines Autos wehren wollte, oder S., eine junge Medizin-Studentin aus Kamishli, die von einer verirrten Kugel getroffen wurde.

Etwa 10.000 Menschen sollen über die grüne Grenze in den benachbarten Libanon geflohen sein, während hunderte Alawiten auf der russischen Luftwaffenbasis in Hmeimim Zuflucht gesucht haben. Aus Tartus erreichte uns ein Hilferuf eines anderen ICO-Projektpartners, der syrisch-orthodoxen Kirche, die um Hilfe für die Versorgung der zahlreichen Flüchtlinge bittet. Und unsere lokale Partnerorganisation, deren alawitische Mitarbeiter so Schreckliches erlebt haben, ersucht um Unterstützung für deren psychologischen Betreuung und Begleitung. Immerhin handelt es sich bei den meisten von ihnen um Lehrkräfte, die im Rahmen eines Bildungsprojektes bislang fast ausschließlich sunnitische Kinder von durch den Krieg vertriebenen Familien betreut und auf die Wiedereingliederung ins reguläre Schulsystem vorbereitet haben.

Der Autor ist Projektkoordinator der “Initiative Christlicher Orient” (ICO).

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