Vorbild Milei? – Die Sehnsucht nach der Kettensäge

Dass libertäre Ideen nicht mehr nur etwas für Theorie-Nerds sind, liegt an Javier Milei. Er ist auch in Deutschland zur Sehnsuchtsfigur für alle geworden, die sich vor einem übergriffigen Staat fürchten

Quelle
Pro: Sollte Deutschland mehr Milei wagen? | Die Tagespost
Contra: Sollte Deutschland mehr Milei wagen? | Die Tagespost
Argentiniens Präsident Milei kritisiert auf dem WEF die ‘mörderische Abtreibungsagenda’

25.01.2025

Sebastian Sasse

Das eine sind die Begriffe, das andere ist der konkrete Erfolg. Politische Theorie mag universitäre Oberseminare elektrisieren, wenn politische Ideen aber wirklich zu den Menschen durchdringen sollen, dann benötigen sie eine Stammtisch-Tauglichkeit. Allein die Nennung des Stichworts muss sofort im Kopf des durchschnittlichen Otto Nornalverbrauchers Assoziationen auslösen. Wenn die entsprechende politische Idee auch wirklich eine Prägekraft entwickeln soll, dann, das ist klar, müssen diese Assoziationen natürlich positiv sein.

“Libertär” – dass dieses Attribut mittlerweile auch in Deutschland über diese Stammtisch-Qualität verfügt, hängt an Javier Milei. Der argentinische Präsident ist als Person zum Bild für den Begriff geworden. Ja, mittlerweile ist Milei sogar schon eine Art Pop-Ikone. Ein Status, der sonst Revolutionären wie Che Guevara vorbehalten ist. Aber Milei strahlt ja auch revolutionäre Kraft aus, wenn freilich auch auf einer anderen ideologischen Basis als bei dem Gefolgsmann Fidel Castros.

Die Kettensäge zerschneidet staatliche Fesseln

Zum Symbol für diese Kraft ist die Kettensäge geworden. Mit ihr zerschneidet er ganz konkret die staatlichen Fesseln, von denen sich die Menschen in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt fühlen. Und genau dieses Bild ist es, was um die Welt geht und mittlerweile auch weltweit wirkt. Selbst in Deutschland löst es ein positives Kopfkino aus. Dort also, wo nicht nur in der Zeit des Wilhelminismus, sondern bis in die Gegenwart hinein die Ehrfurcht vor dem “General Dr. von Staat” schier grenzenlos schien, ist die Staatsskepsis mittlerweile mitten in der Gesellschaft angekommen.

Und darin liegt vielleicht auch die Ursache für den Erfolg der Milei-Bilder. Denn freilich ist die ökonomische Situation in Deutschland eine ganz andere als in Argentinien, und deswegen lassen sich die Rezepte, die dort wirken mögen, auch nur bedingt 1:1 übertragen. Der eigentliche erfolgreiche Export-Artikel ist aber die Grundstimmung. Oder man könnte auch so sagen: Das, was jeweils als staatliche Fessel empfunden wird, ist in Argentinien und in Deutschland anders. Entscheidend ist aber, dass überhaupt Fesseln drücken und die Menschen sich befreien wollen. Die Bilder lassen Raum, sozusagen individuell zu füllen, wo man seinen eigenen Individualismus eingeschränkt sieht.

Der zentrale Punkt: Diese Einschränkung wird nicht mehr klaglos hingenommen. In Deutschland hat der Staats-Überdruss vor allem im Zuge der Corona-Pandemie eine neue Qualität erreicht. Das harte Maßnahmen-Regiment führte dazu, dass die vorher vielleicht eher abstrakt wirkende Frage, wie der private Lebensraum vor staatlichen Eingriffen geschützt werden müsse, vom Seminarsaal in der Uni an den Esstisch der Familien wanderte, dort zum zentralen Gesprächsthema wurde und vielfach auch bis heute geblieben ist.

Bisher sind eher Mentalitätsverschiebungen festzustellen

Allerdings, und das ist nicht ganz unwichtig, bisher befinden wir uns hier noch in einer Vorstufe. Ob libertäre Positionen tatsächlich ihren Weg in Regierungsprogramme finden, das ist noch nicht endgültig entschieden. Bisher sind eher Mentalitätsverschiebungen festzustellen. Das beste Indiz dafür ist die Politik mit ihren Reaktionen auf die neue Faszination für Staatskepsis. Gemeinhin mag man ja beklagen, dass manche Politiker zum Opportunismus neigen. Aber wenn es darum geht, dem Zeitgeist nachzuspüren, haben ihre Stellungnahmen einen gewissen Offenbarungscharakter. Etwas zugespitzt gesagt: Wenn selbst schon Politiker auf einen Zug aufspringen, dann kann man davon ausgehen, dass er mit Volldampf längst durch das Land rast.

Das hervorstechendste Beispiel dafür, dass es politisch attraktiv macht, als libertär zu gelten, war die AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel. Im Gespräch mit Elon Musk, der als reichster Mann der Welt ähnlich wie Milei zur globalen Pop-Ikone für eine mentale Zeitenwende zu werden scheint, bezeichnete Weidel ihre Partei als “konservativ-libertär”. Mal abgesehen davon, dass der national-soziale Flügel in der AfD Kritik an dieser Selbstbezeichnung anbringen dürfte, beweist Weidel aber damit, dass sie einen Trend, der ihr gewiss auch von ihrer beruflichen Vita her naheliegt, erkennt und sie sich von ihm für ihre Partei Rückenwind erhofft.

Und auch FDP-Chef Christian Lindner, der bangen muss, ob seine Partei überhaupt noch in den nächsten Bundestag einziehen wird, sieht in libertären Ideen offenbar so etwas wie mentale Aufputschpillen für seine fußlahmen Mitstreiter. Ja selbst ein ehemaliger SPD-Vorsitzender, am vergangenen Dienstagabend in der ZDF-Talkshow “Markus Lanz” zu sehen, kann mittlerweile lautstark einen ausufernden Sozialstaat beklagen. Sigmar Gabriel, eigentlich ein Sozi von altem Schrot und Korn, ist offenbar der Meinung, dass ein bisschen libertärer Chic auch ihm gut steht.

Zwischen Liberalität und Liberalismus unterscheiden

Doch diese Äußerungen sind eben nur Zeitgeist, noch nicht politisches Handlungsprogramm. So wie man ja auch zwischen Liberalität und einem weltanschaulich durchdeklinierten Liberalismus unterschieden muss, so könnte man hier vielleicht von einer Libertarität sprechen, die sich von einem Libertarismus abhebt. Im Moment bewegen wir uns in Deutschland noch auf der Ebene der Libertarität. Es ist aber auch klar, dass sich automatisch daraus irgendwann die Frage nach einer ideologischen Grundlage ergibt: Oder anders: Im Moment finden immer mehr die Kettensäge cool. Wann aber wird nach einer Bedienungsanleitung für die Kettensäge gefragt?

Parteien sind wie große Schiffe. Werden im Maschinenraum schon die libertären Grundlagenwerke gewälzt, um aus ihnen einen neuen Kurs für den Tanker abzuleiten? Gewiss, ob der Anarchokapitalismus von Murray Rothbard (1926-1995) oder bestimmte Grundgedanken von Friedrich August von Hayek (1899-1992) nun von den Spin-Doctors nun wieder etwas intensiver studiert werden, das ist die eine Seite. Anderseits dienen solche Grundlagenwerke in der praktischen Politik als Steinbruch: Man bricht die Begriffe heraus, um die herum man eine praktische Agenda formulieren kann. Zumal man auch sagen muss, dass bei libertären Theoretikern oder zumindest Theoretikern, die bestimmten libertären Grundgedanken nahestehen, nicht alles aus einem Guss ist.

Der erste Versuch, den libertären Trend tatsächlich konkreter zu fassen, ist Weidels Verbindung zum Attribut “konservativ”. Wie passt eine bewahrende Grundhaltung zur Kettensäge, die aus dem Bestehenden Kleinholz macht? Oder gilt: Man muss vieles zersägen, damit nur das übrig bleibt, was sich wirklich zu erhalten lohnt? Wir stehen vor spannenden Debatten.

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