Syrien nach Assad – Bestimmt, von der Gnade anderer zu leben

Haben die Christen in Syrien eine Zukunft? Ob sich islamistische oder säkulare Kräfte durchsetzen, hängt auch an der internationalen Reaktion, analysiert Kamal Sido. Ein Gastbeitrag

Quelle
Neuordnung in Nahost | Die Tagespost
Hl. Charbel Makhlouf

14.12.2024

Kamal Sido

Syrien zeichnet sich durch seine religiöse, sprachliche und ethnische Vielfalt aus. Nach Ägypten war Syrien bis zum Ausbruch der Revolte im März 2011 das Land mit der größten christlichen Minderheit im Nahen Osten. Die damals etwa eine Million syrischen Christen waren in ihren Konfessionen sehr unterschiedlich.

Die ursprüngliche Liturgie aller Christen mit Ausnahme der Armenier war das Altsyrische oder Aramäische. In den vergangenen Jahrhunderten hat sich die arabische Sprache immer mehr durchgesetzt und die alte Sprache verdrängt. Seit einigen Jahrzehnten kommen Protestanten und eine weitere junge Kirche hinzu: die kurdischen Christen. Sie sind in den vergangenen Jahren unter kurdischer Selbstverwaltung vom Islam zum Christentum konvertiert. Die kurdische Verwaltung garantierte die volle Glaubensfreiheit, einschließlich der Konversion. Das ist einzigartig in der Region.

Nach der Revolte kam der Exodus

In Syrien hatten es die Christen nie leicht. Es gab und gibt viele Gesetze, die Christen benachteiligen, vor allem in den Bereichen Kultur und Bildung. Dennoch konnten die Christen unter Assad ihre Religion relativ frei ausüben. Das Assad-Regime gewährte ihnen zumindest das Recht auf freie Religionsausübung und tolerierte das Christentum als Religionsgemeinschaft, solange man sich nicht politisch betätigte und nicht gegen das Regime arbeitete.

Nach Beginn der Revolte im Jahr 2011 begann sich für die Christen alles zum Negativen zu verändern: Ihre Zahl dürfte zwischen 2011 und 2024 um mindestens 50 Prozent zurückgegangen sein. Kaum mehr 500.000 Christen leben noch in Syrien. Bis zu Assads Sturz war Syrien im Wesentlichen in vier Machtbereiche aufgeteilt: Es gab Assads Gebiete, die kurdisch geführten Autonomiegebiete im Nordosten, Gebiete unter türkischer Besatzung und das Gebiet der “Hay’at Tahrir al-Sham” (HTS) in Idlib. Sowohl unter Assad als auch unter der autonomen kurdischen Verwaltung hatten Christen kaum Schwierigkeiten, ihre Religion zu leben.

Islamistische Übergriffe

In den Gebieten, in denen die Islamisten das Sagen hatten, kam es immer wieder zu Übergriffen. Geistliche wurden entführt oder ermordet. So zum Beispiel die Bischöfe von Aleppo Mor Gregorius Yuhanna Ibrahim oder Mor Boulos Yazigi, die 2013 entführt wurden. Ende 2013 entführte die Al-Nusra-Front zwölf syrisch-orthodoxe Nonnen in der Stadt Ma’alula. Al-Nusra ist die Vorläuferorganisation der HTS. Besonders gefährlich war es, als der “Islamische Staat” (IS) auf dem Vormarsch war. Dieser entführte 2015 über 300 assyrische Christen in mehreren Dörfern in al-Hasakeh.

Eine Region, in der Christen Zuflucht vor islamistischen Übergriffen fanden, war das sogenannte “Wadi al-Nasara” (deutsch: Tal der Christen). Diese Region im Westen Syriens nahe der libanesischen Grenze gehört administrativ zu Homs. Mit den Binnenflüchtlingen lebten bis zum Sturz Assads rund 150.000 Menschen in den etwa 40 Dörfern im “Wadi al-Nasara“. Die Gegend gilt als historische Hochburg der Christen in Syrien. Zehntausende christliche Flüchtlinge aus Homs und anderen Städten und Provinzen sind in den vergangenen Jahren hierher geflüchtet.

Aus Idlib sind die meisten Christen verschwunden

Wenn wir aus heutiger Sicht etwas über die Zukunft der Christen in Syrien erfahren wollen, müssen wir den Blick auf ihre Situation in Idlib lenken. Denn dort herrschten auch vor Assads Sturz am 08. Dezember 2024 bereits die HTS, die heutigen Machthaber Syriens. Bis zum Beginn der syrischen Revolte 2011 lebten die Christen in Idlib in der gleichnamigen Provinzhauptstadt und in einigen Dörfern wie Yacoubiya, Ghassania, Quenya und El Jadida. Auch in der Stadt Dschisr asch-Schughur lebten bis 2011 einige Christen. Die meisten von ihnen flohen vor den vorrückenden syrischen Rebellen (FSA), der Al-Nusra-Front (heute HTS) und dem IS in von Assads Truppen kontrollierte Gebiete. Obwohl sich die FSA als moderat bezeichnete, verhielten sich ihre Kämpfer gegenüber Christen nicht besser als die Mitglieder der Al-Nusra-Front und des IS. Das Verhalten der FSA gegenüber anderen Minderheiten war in der Regel schlimmer, weil sie von Erdogan angestachelt wurden, brutal gegen diese vorzugehen. Erdogan wollte und will Syrien zu einem rein sunnitischen Land machen.

Schätzungsweise 12.000 Christen lebten bis zur Ankunft der Islamisten im Jahr 2011 in Idlib. Unter der Herrschaft der Milizen, insbesondere der HTS, haben die meisten Christen Idlib verlassen. Auch wenn die HTS zu Propagandazwecken immer wieder versuchte, einige alte Menschen zu zeigen, die noch in Idlib leben. 

Erdogan will ein islamistisches Regime

“Wir Christen sind dazu bestimmt, zwischen dem Schlimmsten und dem weniger Schlimmen zu wählen. Wir sind dazu bestimmt, von der Gnade anderer zu leben”, sagte mir ein syrischer Christ am Telefon am Tag, als der brutale Diktator Assad gestürzt wurde. Das zeigt die Notlage, in der sich Christen und andere Minderheiten in diesen Tagen befinden: Wenn Erdogan und andere Islamisten in Syrien weiter an Boden gewinnen, wird die christliche Gemeinschaft dort wie in weiten Teilen des Nahen Ostens nur noch ein Schatten ihrer selbst sein.

Deshalb kommt es jetzt auf die demokratischen, säkularen Kräfte an, auf Minderheiten wie Kurden, Armenier, Assyrer/Aramäer/Chaldäer, Christen, Yeziden, Drusen, Ismailiten und Schiiten. Sie lehnen einen Kopftuchzwang für syrische Frauen ab, genau wie viele Sunniten, die kein sunnitisch-islamistisches Regime nach der Assad-Diktatur wollen. Sie alle brauchen die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft, von Nachbarstaaten wie Israel, Jordanien und dem Irak, aber auch von den USA und Russland. Dagegen werden Erdogan und die von der Türkei und dem Emirat Katar unterstützten Muslimbrüder mit allen Mitteln versuchen, eine Atmosphäre der Angst zu schüren. Sie wollen in Syrien ein totalitäres islamistisches Regime errichten, in dem Christen und auch andere Minderheiten keine Zukunft haben.

Dr. Kamal Sido wurde in der syrisch-kurdischen Region Afrin geboren und ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).

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