Russlands politische Mythen

Diskurse im national-patriotischen Spektrum der russischen Öffentlichkeit werden durch Mythen geprägt, die den Blick auf die Realität verzerren. Das betrifft das Ende der Zaren wie die Sowjetunion – und die Gegenwart

Quelle
Alexander Solschenizyn: Zweihundert Jahre gemeinsam. Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916 – Perlentaucher
Alexander Solschenizyn: Zweihundert Jahre zusammen – Die russisch-jüdische Geschichte
Alexander Solschenizyn
Boris Jefimowitsch Nemzow – Wikipedia

20.10.2024

Leonid Luks

Was die russischen Phantomdiskurse betrifft, und zwar seit dem Sieg der Bolschewiken im Oktober 1917, so spielt die Frage, ob die russische Revolution von 1917 wirklich “russisch” war, eine wichtige Rolle. Dabei gehört die Identifizierung der russischen Revolution und des Bolschewismus mit dem Judentum zu den Lieblingsthesen der russischen Rechten. Auf diese Weise versuchen sie die Revolution von 1917 zu “entrussifizieren”.

Die Zerstörung der Zarenmonarchie wird als Werk der “Russlandhasser”, in erster Linie der Juden, gedeutet. Sie hätten das zarentreue, gottesfürchtige russische Volk durch revolutionäre Propaganda vergiftet und gegen die Obrigkeit aufgewiegelt. Gut und Böse werden auf diese Weise säuberlich voneinander getrennt.

Welche Rolle spielten Juden wirklich in der russischen Revolution? Wie stark trugen sie zur Auflösung des Zarenregimes bei? Wie eng war die Beziehung zwischen dem Judentum und dem Bolschewismus? Mit diesen Fragen befasste sich auch Alexander Solschenizyn in seiner 2001/02 erschienenen zweibändigen Monographie über das russisch-jüdische Verhältnis in den vergangenen 200 Jahren. Das Buch stellt eine Synthese aus Apologie und Anklage dar. Im ersten Band verteidigt der Autor leidenschaftlich das “beleidigte und erniedrigte” Zarenreich gegen seine “voreingenommenen” Kritiker, wobei mit besonderer Vehemenz die Kritik von jüdischer Seite angeprangert wird. Im zweiten Band befasst sich der Verfasser mit der jüdischen Schuld an der russischen Katastrophe und klagt leidenschaftlich an. Im apologetischen Teil des Buchs neigt Solschenizyn zur Relativierung und Verharmlosung der restriktiven Politik der zaristischen Regierungen in Bezug auf die jüdische Bevölkerung des Reichs.

Judenpogrome als Ausdruck spontanen Volkszorns

Diese relativierende Tendenz erstreckt sich auch auf die Darstellung der Judenpogrome. So wendet sich Solschenizyn vehement gegen die in der Literatur oft vertretene These, die Judenpogrome seien von manchen zaristischen Behörden mitinitiiert worden, um die Unzufriedenheit der sozial benachteiligten Unterschichten auf den altbewährten “Sündenbock” abzulenken. Diese These habe mit der Realität nichts zu tun, so der Autor. Sie sei von “Russlandhassern” unterschiedlicher Couleur erfunden worden. In Wirklichkeit seien die Judenpogrome Ausdruck eines spontanen Volkszorns gewesen.

Die erste große Pogromwelle, die nach der Ermordung des liberalen Zaren Alexander II. stattfand (der Zar wurde 1881 von der Terrororganisation “Narodnaja Wolja” ermordet, in der Juden keine nennenswerte Rolle spielten), sei durch die Wut der Bauern in den westlichen russischen Gouvernements ausgelöst worden, die seit langem durch jüdische Pächter ausgebeutet worden seien. Kommentarlos zitiert Solschenizyn die Aussage des Schriftstellers Gleb Uspenski: “Die Juden wurden gerade deshalb geschlagen, weil sie aus der Not und aus der Arbeit der anderen Kapital schlugen, weil sie nicht mit der eigenen Hände Arbeit für das tägliche Brot sorgten.”

Was die Pogrome von Kiew und Odessa während der Revolution von 1905 betrifft, so sei die Volksseele aus der Sicht Solschenizyns deshalb zum Kochen gebracht worden, weil revolutionär gesinnte Juden die für die Massen heiligen religiösen und politischen Symbole geschmäht hätten. Die zaristischen Ordnungskräfte werden vom Autor recht milde bewertet. Er wirft ihnen gelegentlich Unfähigkeit aber keineswegs bösen Willen vor. Alle, die dies tun, werden von ihm in die Kategorie der “Russlandhasser” eingeordnet.

Legenden, Nostalgien und verklärte Erinnerung

Allmählich wechselt Solschenizyn aber den Ton. In den Kapiteln, in denen er die Vorgeschichte der russischen Revolution schildert, verwandelt sich die Apologie in flammende Anklage. Den Opfer-Status der Juden im Zarenreich stellt Solschenizyn wiederholt in Frage. Umso deutlicher hebt er ihre Rolle als Zerstörer der Grundlagen, auf denen das alte Russland basierte, hervor. Schon bei seiner Analyse der Pogrome in Kiew und in Odessa entwarf der Autor das Bild von zarentreuen, gottesfürchtigen russischen Volksschichten, die mit Empörung auf die Verspottung ihrer sakrosankten politisch-religiösen Vorstellungen durch jüdische Revolutionäre reagierten.

Stimmt dieses Bild mit der Wirklichkeit überein? Wohl kaum. Die Revolution von 1905 zeigte, dass die Romanow-Dynastie ihre Verwurzelung bei den Unterschichten weitgehend verloren hatte. Sie gingen den Weg, den radikale Teile der russischen Bildungsschicht – die revolutionäre Intelligenzija – einige Generationen zuvor beschritten hatten. Auch bei den Volksschichten fand eine Erosion des Glaubens an den Zaren statt. Das entstandene Vakuum wurde durch den Glauben an die heilende Kraft der Revolution gefüllt. Von der Revolution und nicht vom Zaren erwarteten die russischen Bauern die Beseitigung aller sozialen Ungerechtigkeiten, vor allem die Lösung der Agrarfrage. Bei den Wahlen zur ersten und zweiten Staatsduma 1906 und 1907 wählten die Bauern fast geschlossen revolutionäre, oppositionelle und nicht-monarchistische Parteien. So befand sich beinahe die gesamte russische Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem revolutionären Taumel. Die bewahrenden Kräfte verfügten nur über wenige Stützen und standen auf verlorenem Posten.

Die Tatsache, dass sich das Drama der russischen Revolution nach Ansicht russischer Denker wie Nikolaj Berdjajew, Georgi Fedotow oder Fjodor Stepun innerhalb des russischen Staatsvolkes abspielte, kümmert Solschenizyn kaum. Durch eine partielle “Entrussifizierung” der russischen Tragödie, durch die Verladung der Hauptschuld auf die “Fremden” will der Autor wohl das erschütterte Selbstbewusstsein der Nation stärken. Ob die von ihm unternommene Geschichtsklitterung dazu beitragen kann, ist fraglich.

Russische Demokraten als Trojanisches Pferd des Westens

Aber nicht nur die Entstehung des bolschewistischen Regimes 1917, sondern auch seine Auflösung 74 Jahre später ist im heutigen Russland mit Mythen und Legenden verknüpft. Dazu zählt auch die Frage nach den Gründen für die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991. Die Erinnerung an das angeblich harmonische Zusammenleben von mehr als 100 Völkern auf dem Gebiet des sowjetischen Reichs erfüllt die russischen “National-Patrioten” mit Rührung. Dieses einzigartige Gebilde hätte schon immer den Neid der Westmächte hervorgerufen, sie hätten schon immer die Zerschlagung des Sowjet-Imperiums angestrebt. Dennoch habe der eurasische Koloss alle gegnerischen Angriffe überstanden, von außen sei er nicht zu bezwingen gewesen, heben sie hervor. Deshalb habe der Westen seine Strategie geändert und versucht, das sowjetische Imperium von innen auszuhöhlen. Die russischen Demokraten, die dem Imperium nach der Entmachtung der KPdSU im August 1991 den Todesstoß versetzten, werden von den imperialen Nostalgikern als Trojanisches Pferd des Westens und als Landesverräter angesehen.

Dabei lassen diese russischen Verfechter der “Dolchstoßlegende” Folgendes außer Acht: Das russische Vielvölkerreich, das die Bolschewiken nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs restaurierten, wurde nicht nur durch Gewalt zusammengehalten. Es basierte auch auf der Ideologie des “proletarischen Internationalismus”, die die wichtigste weltanschauliche Klammer des sowjetischen Imperiums darstellte. Dieser Glaube begann bereits in der Breschnew-Zeit immer stärker zu erodieren.

Als Michail Gorbatschow versuchte, mehr Demokratie zu wagen und das Unfehlbarkeitsdogma der Partei aufgab, stellte es sich heraus, dass die kommunistische Idee in den Augen der Bevölkerungsmehrheit ähnlich diskreditiert war, wie die Zaren-Idee zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt deshalb waren die kommunistischen Dogmatiker nicht im Stande, das Rad der Geschichte gewaltsam zurückzudrehen und scheiterten bei ihrem Putschversuch im August 1991 kläglich. Nach der Entmachtung der KPdSU wurde dem Sowjet-Reich die wohl wichtigste organisatorische und weltanschauliche Klammer entzogen. Ohne diese Klammer war die Aufrechterhaltung der bestehenden Staatsstrukturen schwer möglich.

Die Narrative der Kreml-Propaganda

Kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 erklärte der amerikanische Politologe John J. Mearsheimer diesen zerstörerischen und selbstzerstörerischen Akt des Kreml-Diktators durch eine angebliche Angst Putins vor der “so gefährlichen” und “andauernd expandierenden NATO”. Damit übernimmt Mearsheimer das seit Jahren verbreitete Narrativ der Kreml-Propagandisten, die die wahren Gründe der seit 2005 immer radikaler werdenden Ukraine-Politik Moskaus zu verschleiern suchen.

Denn das, wovor sie panische Angst haben, sind nicht die Panzer der NATO, deren Zahl an der östlichen Flanke des Bündnisses sich seit der Beendigung des Kalten Krieges unentwegt reduzierte, sondern die “europäischen Ideen”, die sich in der Ukraine infolge der Revolutionen von 2004 und 2013/14 immer stärker verbreiteten.

Mit den europäischen Ideen sind untrennbar die gesellschaftlichen Kontrollmechanismen verbunden, die der Willkür der Machthaber Grenzen setzten. Die Übertragung derartiger politischer Modelle stellt für die Verfechter von Putins “gelenkter Demokratie” einen Alptraum dar. Anders als viele westliche und östliche Putin-Versteher bewertete Putins abenteuerliche Ukraine-Politik der am 27. Februar 2015 ermordete russische Regimekritiker Boris Nemzow. Kurz nach der russischen Annexion der Krim im März 2014 sagte Nemzow im Interview mit der regimekritischen “Nowaja gaseta”, es gehe Putin keineswegs um die Verteidigung der Interessen der Russen auf der Krim. Diesbezügliche Erklärungen des Präsidenten stellten ein reines Pharisäertum dar. Was Putin in erster Linie interessiere, sei die Sicherung seiner Macht.

Obamas Rückzug hinterlässt Machtvakuum

Es gibt indes noch eine Erklärung für die Krim-Annexion. Sie ereignete sich in der Zeit der Rückzugsstrategie der Obama-Administration, die in einigen Regionen der Welt ein gefährliches Machtvakuum hinterließ. Diese Führungsschwäche der Vereinigten Staaten versuchte Putin im März 2014 auszunutzen. Aber auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 wurde nicht, wie John J. Mearsheimer annimmt, durch Putins Angst vor der übermächtigen NATO, sondern eher durch die von ihm vermutete Schwäche des Westens und der westlichen Allianz ausgelöst. So hielt Putin die NATO am Vorabend der “Zeitenwende” wohl nicht mehr für handlungsfähig. Die Wirklichkeit sah bekanntlich ganz anders aus. So wurde der Kreml-Diktator selbst zum Opfer eines Mythos – des Mythos von der westlichen Dekadenz.

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