Auf der Suche nach Traditionen

Religiöse Traditionen in Deutschland schwinden seit Jahrzehnten. In kirchlichen Einrichtungen der Begabtenförderung galten religiöse Traditionen lange als “out”. Doch junge Menschen fragen nach Form und Frömmigkeit

Quelle
Die Tradition als Selbstläufer | Die Tagespost (die-tagespost.de)
Cusanuswerk: Startseite
Ein Tempel – Ein Ursprung – Zwei Traditionen: Warum der jüdische Tempel für das Christentum wichtig ist – Katholische Akademie in Berlin e.V. (katholische-akademie-berlin.de)
Aktuelle Veranstaltungen – Katholische Akademie in Berlin e.V. (katholische-akademie-berlin.de)
Avicenna (Beck Paperback) : Strohmaier, Gotthard: Amazon.de: Bücher

14.09.2024

Oliver Gierens

Das Zitat ist so bekannt wie abgedroschen: “Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche.” Doch wo lodert noch das Feuer, was ist längst schon zu Asche verglüht? Die Weitergabe der Tradition ist in Verruf geraten, besonders im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Zu stark war der Traditionsbruch nach den verheerenden Kriegsjahren. Besonders relevant wird die Frage, wie Traditionen von Generation zu Generation weitergegeben werden, in der Begabtenförderung.

Auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften unterhalten in Deutschland eigene Förderungswerke, um künftige Eliten heranzubilden. Wie wird die Weitergabe der Tradition dort praktiziert und rezipiert? Und welche Rolle spielt die Kenntnis der Tradition für die Lehrer und Absolventen religiöser Bildungseinrichtungen? Um die Traditionspflege in der religiösen und konfessionellen Begabtenförderung ging es Anfang September bei einem Diskussionsabend der Katholischen Akademie Berlin.

Starker Traditionsabriss

Wie stark der Traditionsabriss mittlerweile in der Gesellschaft vorgedrungen ist, zeigte Moderatorin Gesine Palmer an einem konkreten Beispiel: Beim 90. Geburtstag einer evangelischen Pfarrerswitwe wurde – wie es lange Zeit üblich war – das Lied “Lobet den Herren” nicht mehr gesungen. Das, so Palmer, habe sie bedauert, obwohl sie vor vielen Jahren als Stipendiatin des Evangelischen Studienwerks Villigst genau diesen kritischen Umgang mit der Tradition eingefordert habe.

Dem stimmte auch Pfarrer Markus Hentschel zu, der diese evangelische “Kaderschmiede”, die genau dies nie habe sein wollen, in der Diskussion vertrat. Mitte der 1970er Jahre habe der Sinn der Tradition darin bestanden, vollständig aktualisiert zu werden. “Das ist dieser Zeit der Anspruch gewesen: Die Tradition wird verbrannt”, so Hentschel. “Was schlecht an ihr ist, geht in Flammen auf, was die Praxis befeuert, bleibt eben noch da”

Traditionelle Elemente des Glaubens wieder gefragt

Damals habe es so viele Theologiestudenten gegeben wie nie zuvor, aber traditionelle Elemente des Glaubens wie die Feier von Gottesdiensten hätten die Stipendiaten seinerzeit nahezu vollständig abgelehnt. Tradition, so der evangelische Pfarrer, sei nicht reflektiert oder reproduziert, sondern nur kritisiert worden.

Dies habe sich allerdings in der heutigen Zeit geändert. Inzwischen gebe es wieder Gottesdienste und mehr Stipendiaten als früher, die ausdrücklich Frömmigkeitsformen forderten. “Das deute ich so, dass jetzt eine ganz andere Phase des Umgangs mit Tradition vorherrscht”, so der evangelische Theologe.

2000-jährige Tradition ist “mächtiger Anspruch”

Milan Wehnert vom katholischen aus Bonn verwies auf den aktuellen “Bildungssommer” des Begabtenförderungswerks, in dem es spannende Einsichten in die Traditionspflege bei jungen Menschen gebe. Man sei eine “bischöfliche Studienförderung”, und das bischöfliche Amt in der katholischen Kirche werde gemeinhin so verstanden, dass es eine ungebrochene Sukzession, also eine Nachfolge in der Tradition, seit nahezu 2000 Jahren gebe. “Das ist ein mächtiger Anspruch”, sagte Wehnert.

Es sei zudem ein autoritativer Anspruch, der aus sich heraus ableite, eine rechte Auslegung von Lehre und Praxis zu verbürgen. Tradition zeige sich auch in einem sinnlich-ästhetischen Empfinden, das ebenfalls im Katholischen zu Hause sei. Kirche sei ein Raum, in dem zeitliche und geschichtliche Grenzen überschritten würden etwa im Hinblick auf die Feier der Sakramente.

Schatz an kulturellen Praktiken entdecken

Es gebe einen scharfen kirchenpolitischen Diskurs über die kirchliche Tradition als unscharfen Begriff. Von “der einen Tradition” zu sprechen, sei bereits konstruiert. Geschichtlich gesehen habe man es mit einer Vielzahl von Traditionen zu tun. Im Reformdiskurs werde die Tradition daher als Ausschlussargument verwendet, als eine “Brandmauer gegen Reformen”. Wer sich stark auf Tradition berufe, stehe im Verdacht, autoritativ oder restaurativ zu sein. Deshalb sei der Begriff umkämpft, da er ausschließend verwendet werden könne.

Daher gehe es im geistlichen Programm des Förderungswerkes ausdrücklich um “Traditionen” im Plural. Das Cusanuswerk versuche, die Studenten diesen Schatz an kulturellen Praktiken entdecken zu lassen, um einen nuancierten und differenzierten Zugang zur Tradition zu finden. Ein ganz neues Feld sei dabei der interreligiöse Austausch, bei dem es auch um einen Traditionsaustausch gehe.

Dieser Impuls sei von den Stipendiaten selbst ausgegangen. Diese Art, mit Tradition umzugehen, gehe auch auf den Namenspatron Nikolaus von Kues (1401-1464), einen Universalgelehrten und frühen deutschen Humanisten, zurück. Der Bischof sei neugierig auf andere Traditionen gewesen, etwa der byzantinischen. Manches Feuer des Anfangs sei dort vielleicht viel klarer bewahrt worden als in der lateinischen Kirche.

Einen ähnlichen Ansatz von Tradition verfolgte der Vertreter des jüdischen Begabtenförderungswerks, Rabbiner Maximilian Feldhake. “LeDor VaDor”, sei ein bekannter jüdischer Grundsatz – zu deutsch “von Generation zu Generation”. Nach Meinung vieler gebe es eine ungebrochene Kette der Tradition, etwa die Offenbarung der Tora, die Wüstenwanderung Israels oder die Tempelzerstörungen.

Allerdings sei jüdische Tradition in Europa fast ausgelöscht worden, weil viele Multiplikatoren der Tradition ermordet worden seien. Die jüdische Gemeinschaft sei heute aufgrund ihrer Herkunft sehr heterogen. Es gebe einen Diskurs darüber, was überhaupt Tradition sei – etwa, ob es alte oder neue Tradition gebe. Hinzu komme, dass Jüdischsein eher eine Zivilisation als eine Religion sei. “Ich kenne Leute, die sind stolze Atheisten, gehen aber jede Woche in die Synagoge“, sagte Feldhake.

Gesamte jüdische Vielfalt abbilden

Tradition wiederzuentdecken, spiele eine Rolle für das 2008 gegründete Begabtenförderungswerk mit Sitz in Berlin. Die Einrichtung habe sich vorgenommen, die gesamte jüdische Vielfalt abzubilden, etwa indem sie orthodoxe wie liberale Strömungen des Judentums aufgreife – wohl wissend, wie Feldhake betont, dass dies nicht vollständig möglich sei, weil es immer wieder konkurrierende Strömungen gebe.

Es gehe darum zu fragen, was Jüdischsein im 21. Jahrhundert bedeute – insbesondere, ob man verloren gegangene Traditionen wiederentdecken wolle oder neue Traditionen für die jüdische Gemeinschaft etabliere.

Tradition im Islam

Diversität und Komplexität – darauf stellte auch Abdullah Abed vom muslimischen Studentenwerk Avicenna ab. 2012 gegründet, ist es das jüngste der Begabtenförderungswerke mit religiös-konfessioneller Ausrichtung. Der Verein mit Sitz in Osnabrück wurde 2013 von der damaligen Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) in die Reihe der anerkannten Förderungswerke aufgenommen.

Tradition im Islam sei oft negativ belastet, meinte Abed. Wenn man Muslime frage, was für sie Tradition sei, erhalte man Antworten wie bei dem unter Juristen bekannten Sprichwort “Drei Juristen, fünf Meinungen”. Traditionsvorstellungen seien vielfältig, und dies stelle auch das Studentenwerk Avicenna vor Herausforderungen. “Den Islam gibt es in Deutschland und weltweit nicht”, meinte Abed. Viele Strömungen würden sich diametral gegenüberstehen.

Unter den Millionen Muslimen in Deutschland seien die Traditionsvorstellungen durchaus heterogen. Diese Vielfalt, die Abed unterstellte, müsse auch das Förderungswerk abbilden. “Die Avicenna ist das erste erfolgreiche Institutionalisierungsprojekt der Muslime in Deutschland”, meinte der Jurist. Es gebe verschiedene muslimische Dachverbände, die aber miteinander konkurrierten. Die Avicenna sei die einzige Einrichtung, die alle Muslime repräsentieren wolle.

Muslime ermutigen, Verantwortung zu übernehmen

Ziel der Avicenna sei es, Muslime zu ermutigen, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen. Daher sei Tradition nicht der richtige Begriff, um dieses Anliegen zu befördern. “Dennoch ist es so, dass aus Sicht der Avicenna Tradition und Religion sich immer am Maßstab der Diversität messen müssen”, sagte Abed. Da bringe man etwa Studenten mit Imamen zusammen, um auch kritische Fragen zu stellen. Insgesamt wolle man die Diversität des Islams in der Arbeit des Förderungswerkes abbilden.

Auch der interreligiöse Dialog werde gefördert – und das sei auch notwendig. Aufgrund der fortschreitenden Säkularisierung würden die religiösen Stiftungen zu einer Art Schicksalsgemeinschaft werden – ob sie es wollten oder nicht. Dabei komme es weniger auf Traditionen an, sondern auf grundlegende Punkte, mit denen sich viele religiöse Menschen identifizieren könnten, um die Probleme der Gesellschaft gemeinsam zu lösen. Daraus, so Abed weiter, könnte eine neue Form von Traditionslehre entstehen, die eher überreligiös sei.

Unmöglich, von Verlustnarrativ zu sprechen

Gerade aufgrund dieses gewandelten Traditionsverständnisses fragte Moderatorin Gesine Palmer auch nach den Verlusterfahrungen, also der Erkenntnis, dass Tradition weniger wichtig werde. Laut Markus Hentschel vom Evangelischen Studienwerk Villigst gebe es diese Erfahrung unter den dortigen Stipendiaten nicht, “weil man dafür eine Erinnerung bräuchte, was man verloren hat.” Innerevangelisch sei die ausdrückliche Weitergabe von Tradition nie als wirkliche Aufgabe gesehen worden. “Die Traditionen sind da, um kritisiert und aktualisiert zu werden, nicht aber um rezipiert zu werden”, dies sei viele Jahre lang die gängige Auffassung im Studienwerk gewesen.

Sein Kollege Milan Wehnert vom katholischen Cusanuswerk verwies auf die Vielfalt der Stipendiaten. Von daher sei es fast unmöglich, von einem Verlustnarrativ zu sprechen. Die persönlichen Hintergründe seien dafür viel zu unterschiedlich. Zudem gehe es um die Frage, von welcher Tradition man überhaupt spreche. “Ich beobachte, dass ganz viele Stipendiaten interessiert und auf der Suche nach einem differenzierenden Zugang zu Traditionen sind”, meinte Wehnert.

“Unsere Verluste sind anderer Art”, betonte Rabbiner Feldhake vom Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk. Es gebe keine Spannungen zwischen jüdischer Religion und säkularer Gesellschaft. Man lebe schon lange in den meisten Ländern in einer Minderheitenposition, daher könne es gar nicht darum gehen, Macht oder Bedeutung zu verlieren. “Der einzige Grund, warum ich hier sitzen kann, ist wegen der Aufklärung, wegen der Säkularisierung.”

Abdullah Abed unterstrich die besondere Stellung des Islams in der deutschen Gesellschaft. Die christlichen Kirchen seien mit dem Staat institutionell verwachsen, dies sei bei den Muslimen nicht der Fall. “Für sie waren die vergangenen Jahrzehnte eher eine Zeit des Gewinns”, sagte Abed.

Wenn man 30 oder 40 Jahre zurückblicke, seien die Rechte der Muslime und der Umgang mit ihrer Religionsausübung deutlich negativer gewesen, als dies heute der Fall sei. Viele Stipendiaten würden die letzten Jahrzehnte mit ihrer pluralen Gesellschaft als Gewinn erachten gerade, weil sie ihnen überhaupt erst ermögliche, religiöse Traditionen auszuleben.

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