Zwei Kriege und die Suche nach dem Wesentlichen
Das 45. Meeting in Rimini der Gemeinschaft “Comunione e Liberazione” stellte sich – wieder einmal – der Frage, wie das Christentum eine von Leid und Streit verwundete Welt “von Herz zu Herz verwandeln” kann
Quelle
Comunione e Liberazione – Offizielle Website (clonline.org)
“Eine Revolution des Selbst” – YouTube
Comunione e Liberazione – Wikipedia
Comunio e Liberazione
Adrien Candiard – Wikipedia
Amazon.de : adrien candiard
29.08.2024
Zwei Kriege waren der Hintergrund, vor dem das Thema des diesjährigen Meetings der Gemeinschaft Comunione e Liberazione in Rimini wie ein Weckruf zum Innehalten klang: “Wenn wir nicht das Wesentliche suchen, was suchen wir dann?”
Das war das Motto des 45. “Meetings für die Freundschaft unter den Völkern”, bei dem bis vergangenen Sonntag um die 3 000 freiwillige Helfer in den Messehallen der Adriastadt mit Podien, Ausstellungen, einem attraktiven Programm für über 10 000 Kinder, viel Musik und kulturellen Darbietungen ein Forum schufen, um Intellektuelle, Politiker und Protagonisten unterschiedlichster Nationen, Religionen und Denkschulen zu einem konstruktiven Austausch zusammenzubringen.
Die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine und in Nahost vom Gazastreifen über das Westjordanland bis zum Süden des Libanon sind das Destruktivste, was man sich überhaupt vorstellen kann. Wäre da die Suche nach dem “Wesentlichen” nicht ein geeignetes Heilmittel?
“Wenn es keine Versöhnung gibt, hinterlassen wir denen, die uns folgen, mehr Giftmüll, als wir vorgefunden haben”, sagte Kardinal Matteo Zuppi, Erzbischof von Bologna und Vorsitzender der Italienischen Bischofskonferenz, bei einem Treffen in einer der Messehallen, das unter der Überschrift “Zur Versöhnung erziehen” stand. “Wenn wir nicht das Wesentliche suchen, suchen wir das Unwesentliche”, sagte der Kardinal. “Wenn es keine Versöhnung gibt, gibt es nur das Böse, ohne einen Mittelweg. Hass ist niemals träge, ihn zu beseitigen erfordert großes Engagement.”
Besonders schlimm ist Hass, der Friedensverträge überlebt
Sein Gegenüber bei dem Podium war Muhammad Bin Abdul Karim Al-Issa. Der ehemalige saudi-arabische Justizminister, derzeit Generalsekretär der Islamischen Weltliga, ist ein alter Weggefährte des Meetings, der aber diesmal nur per Video dabei sein konnte. Auch für ihn ist “Versöhnung ein hoher moralischer Wert, aber wir müssen verstehen, was sie bedeutet.
Unser Leben ist voll von Konflikten und Differenzen, und selbst wenn die Konflikte enden, bleiben die Konflikte des Herzens bestehen, und es gibt nichts Schlimmeres als diesen Hass, der die Friedensverträge überlebt”. Um ihn zu überwinden, fügte er hinzu, “müssen wir auf die Vernunft und das Gewissen hören, damit wir alle zu unserem wahren Ursprung zurückkehren können: Wir sind eine einzige Menschheitsfamilie und wenn wir uns weiterhin gegenseitig verbrennen, werden wir alle verbrennen, während unser Planet einzigartig ist und wir einander brauchen”.
Religiöse Institutionen hätten dabei einen großen Einfluss. “Versöhnung versteht nur die Sprache des Dialogs und die Sprache der Vernunft, und religiöse Institutionen dürfen nicht in den Extremismus abgleiten. Religion muss zum Frieden einladen, sonst ist sie Ideologie.”
Versöhnung ist keine Option, sondern die einzige Möglichkeit
“Vorurteile und Erziehung zum Hass existieren”, erklärte dazu Kardinal Zuppi, “und sie sind sehr stark”. Daher sei Versöhnung “keine Option, sondern die einzige Möglichkeit, diesen Giftmüll zu beseitigen.” Und zu Gerechtigkeit und Vergebung fügte er hinzu: “Natürlich wollen wir Gerechtigkeit, aber gerade weil man vergibt, kann man sie einfordern. Denn dann ist man frei von Rache. Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Vergebung.”
Der lateinische Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa, hatte das Meeting vor neun Tagen mit einem Podium zum Thema “Eine Präsenz für den Frieden” eröffnet – und unumwunden zugegeben, dass gerade seine Heimat ein Ort ist, wo sich die Religionen bewähren müssen: “Die religiösen Führer haben eine große Verantwortung, nicht nur zuzuhören – ich denke dabei auch an meine eigene Gemeinschaft –, sondern ihr auch zu helfen, sich nicht in ihrer eigenen Geschichte zu verschließen, sondern nach oben zu schauen, den anderen zu sehen, ihn anzuerkennen.
“Religion ist keine Insel”
Ein Rabbiner in den 1960er Jahren, Abraham Joshua Heschel, sagte, dass keine Religion eine Insel ist, und heute ist mehr denn je niemand eine Insel: Wir müssen mit allen in Beziehung treten, und das hat Konsequenzen. Sich selbst anzuerkennen, sich selbst willkommen zu heißen, bedeutet, den anderen so zu akzeptieren, wie er oder sie ist, und nicht, sich dem anderen aufzudrängen.
“Das ist nicht einfach, das ist nicht selbstverständlich, aber es ist notwendig. Im Moment habe ich den Eindruck, dass wir wieder ein bisschen zu einer Insel geworden sind, dass wir uns nur noch um uns selbst kümmern. Stattdessen müssen wir nach oben schauen und erkennen, dass wir keine Inseln sind.”
“Wenn du Frieden willst, bereite den Frieden vor”
Und der Krieg in der Ukraine? Auch ein religiöser Bruderkrieg, in dem sich gläubige Orthodoxe nicht minder gläubigen Orthodoxen gegenüberstehen. Bei einem Podiumsgespräch zum Thema “Wenn du Frieden willst, bereite den Frieden vor” war etwas von der Dramatik zu spüren, die auch Pizzaballa vermittelt hatte.
“Frieden bedeutet Freiheit und Perspektiven für die Zukunft. Das ist in einem Land, das von anderen kontrolliert wird, nicht möglich”, meinte die Menschenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2022, Oleksandra Matwijtschuk. “Niemand will den Frieden mehr als wir Ukrainer”, sagte sie, erklärt aber auch, was das von Russland angegriffene Land unter Frieden versteht. Nicht das Einfrieren der Invasion. Und nicht die Forderung an die Ukraine, “ihren Widerstand aufzugeben”.
“Es fehlen außergewöhnliche Anstrengungen”
Ähnlich formulierte es der Apostolische Nuntius in Kiew, Erzbischof Visvaldas Kulbokas: “Den Krieg zu beenden, aber die Besatzung zu sanktionieren, ist kein wahrer Frieden.” Angesichts von “nationalen und internationalen Institutionen, die dem Geschehen hilflos gegenüberstehen”, beklagte er das Fehlen “außergewöhnlicher Anstrengungen, die eine außergewöhnliche Situation erfordert”.
Dies sei ein Appell an die Zivilgesellschaft, die “über ein enormes Potenzial verfügt”, betonte wiederum Oleksandra, und der italienische Friedensaktivist Angelo Moretti vom “Project Mean” meinte damit nicht nur die Einwohner der Ukraine: “Ein angegriffenes Volk wird aufgefordert, Frieden zu schließen”, meinte er, “stattdessen ist es an uns Europäern, uns in diesem Sinne zu engagieren”.
“Project Mean” ist die Kürzel für “Europäische Bewegung für gewaltfreie Aktion”, welche zuletzt im Juli ein religiöses Friedenstreffen in Kiew veranstaltet hatte – mit Bischöfen der beiden katholischen Riten, Vertretern der armenisch-apostolischen Kirche, der Adventisten, der Evangelikalen sowie Juden und Mitgliedern der islamischen Gemeinschaft.
Gemeinsame europäische Verteidigung
Auch Nuntius Kulbokas hatte an dem Gebetstreffen teilgenommen. So sagte Moretti auf dem Podium: “Wir sollten massenhaft in die Ukraine gehen, um Putin zu sagen: ‘Wir sind hier. Greift uns an’.”
Von Kiew aus könne eine gemeinsame europäische Verteidigung entstehen, “die nicht nur den Armeen anvertraut ist, sondern deren operativer Arm ein ziviles Friedenskorps ist, das vor, während und nach den Zusammenstößen eingreifen muss”.
Diskussionen, Ausstellungen und die Suche nach dem Wesentlichen
Das 44 Seiten starke Programmheft des Meetings verzeichnete in diesem Jahr wieder eine Fülle von Podiumsdiskussionen mit 450 Vortragenden – davon 100 aus dem Ausland, aber niemanden aus Deutschland –, 16 Ausstellungen, darunter eine über den seliggesprochenen Kriegsdienstverweigerer Franz Jägerstätter und seine Frau Franziska sowie eine weitere über Alcide de Gasperi, schließlich Konzerte und Theateraufführungen.
In einigen wenigen, aber dafür umso besser besuchten Veranstaltungen geht es aber jedes Jahr um das jeweilige Thema des Meetings, diesmal eben um die Suche nach dem Wesentlichen. Der Dominikaner Adrien Candiard vom “Institut dominicain d’études orientales” (Ideo), einer auf Kardinal Eugène Tisserant zurückgehende Einrichtung in Kairo zum Studium des Islam, war einer von denen, die sich der Frage “Wenn wir nicht nach dem Wesentlichen suchen, wonach suchen wir dann?” widmeten – eine Frage, die auf einen Satz des im vergangenen Jahr verstorbenen amerikanischen Schriftstellers Cormac McCarthy zurückgeht.
Endlose Debatten
Für den Dominikaner hat sich die Welt in den letzten 100 Jahren nicht wesentlich gewandelt: “In unserer Welt gibt es kaum einen Konsens darüber, was als wesentlich zu betrachten ist”, aber das sei bereits der Zustand der Gesellschaft im Jahr 1919 gewesen, die, “wie Max Weber damals feststellte, von unterschiedlichen Wertesystemen durchzogen war.
Der deutsche Philosoph sprach von einem “‘Krieg der Götter’, aber das waren die Vorboten des Streits um das Wesentliche, den wir heute erleben: Wir können uns über Euthanasie streiten”, stellte Pater Candiard fest, “aber wir können nicht glauben, dass unsere Meinung zu einer so grundlegenden Frage wie Leben und Tod von allen geteilt werden kann, nicht einmal in unserem eigenen Umfeld, und deshalb befinden wir uns in endlosen Debatten.”
Pluralismus ist aus menschlicher Sicht unüberwindbar
Papst Benedikt XVI. habe versucht, so Candiard, “das Universelle wiederherzustellen und die Möglichkeit einer gemeinsamen Basis – die Vernunft – für die Diskussion unter den Menschen stark zu machen, um das Wesentliche wieder in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen.
Das ist die Anstrengung, die auch das Meeting unternimmt, aber wir müssen uns ihr ohne Illusionen stellen: Der Pluralismus der Gesellschaften ist aus menschlicher Sicht unüberwindbar, aber es ist eben diese Gesellschaft, die wir evangelisieren müssen”.
Der Glaube ist der Beginn der Suche
An diesem Punkt verstehe man, meinte der Theologe weiter, dass man, um zum Wesentlichen zu gelangen, den Stil der Suche annehmen müsse: “Wir müssen akzeptieren, dass der Glaube keine Besessenheit vom Wesentlichen ist, sondern der Beginn der Suche.” Das bedeute nicht, im Zweifel zu leben, “sondern zu glauben, dass wir nie das Ende der Suche erreicht haben, dass wir Gott nie besitzen”.
“Suchen wir ihn nicht in Definitionen”, empfahl Candiard, “sondern nehmen wir die Schöpfungsgeschichte ernst”, um “den gleichen Blick des Schöpfers” auf die Welt zu werfen. Zuallererst auf die Menschen. “Schauen Sie sie mit Dankbarkeit, Freude und Segen an.” Manchmal sei es gar nicht offensichtlich, weil das Böse existiert und nicht mit Nachsicht behandelt werden dürfe.
“Wenn jeder Mensch das Ebenbild Gottes ist”, so der Theologe, “hat die Sünde dazu geführt, dass er dieses Ebenbild verloren hat, und das christliche Leben besteht auch darin, es leidenschaftlich in den anderen zu suchen; solange wir das Gute in den Menschen nicht gesehen haben, bedeutet das, dass wir noch nicht damit fertig sind, es zu suchen.”
Der Nächste sei der Ort, an dem jedes christliche Leben Wurzeln schlagen muss, auch wenn es schwierig und trocken sei. Dafür brauche es jedoch “ein reines Herz, das fähig ist, im anderen den lebendigen Gott zu sehen, ohne sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren” – oder in den Kriegen dieser Welt – und zu versuchen, “die Welt von Herz zu Herz zu verwandeln”.
Lesen Sie in der kommenden Ausgabe einen ausführlichen Bericht über das internationale Freundschafts-Treffen von Comunione e Liberazione.
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