Verdrängung statt Widerstand

Wie sich die russische Gesellschaft angesichts der Ukraine-Offensive verhält: Mehr als 120 000 Menschen aus dem Gebiet Kursk sind aufgrund des Vordringens der Kiewer Truppen auf russisches Territorium bereits geflüchtet. Putin, der den Krieg begonnen hat, um angeblich Russen in der Ukraine zu “retten”, ist nicht in der Lage, völkerrechtlich anerkannte russische Gebiete zu schützen. Doch das rüttelt die russische Gesellschaft nicht auf und führt zu keinen Massenprotesten. Stattdessen scheint eine Decke der Passivität oder sogar des Desinteresses über ganz Russland gelegt zu sein

Quelle
“Jetzt ist nichts mehr unmöglich”: Wie “revolutionär” ist Putin? | BR24
“Im rosaroten Nebel”: Islamisten setzen Putin unter Druck | BR24
Ein Tag des Iwan Denissowitsch: Erzählung

22.08.2024

Daria Boll-Palievskaya

“Sehr geehrter Wladimir Wladimirowitsch, wir – Bewohner des Gebiets Kursk – wenden uns an Sie. (…) Wir haben die militärische Spezialoperation von Anfang an unterstützt, wir haben unserer Armee geholfen und helfen weiterhin.

Wir haben unser Land verloren, wir haben unsere Häuser verloren, wir sind unter Beschuss geflohen, viele ohne Papiere. Wir bitten um Hilfe, wir sind allein geblieben”, so die verzweifelte Videobotschaft der Bewohner des Gebiets Kursk, aufgenommen am 8. August, die das russische Internet in Aufruhr versetzte. Viele Nutzer sympathisieren mit den Flüchtlingen, andere wiederum fragen sich, warum die Menschen, die den Krieg unterstützt haben, dachten, er würde sie nicht betreffen.

Polarisierung der russischen Gesellschaft

Eine dritte Gruppe, die glühenden Kriegsbefürworter, fordert die russische Gesellschaft zur Mobilisierung auf. “Diese Aufrufe zeigen deutlich, dass die Russen nicht mobilisieren wollen – trotz all der zahllosen Appelle, Bitten und Drohungen der Kriegsbefürworter”, meint der Autor eines dystopischen Romans über Russland, Schriftsteller Iwan Philippow. So nahm ein “Patriot” ein Video auf, in dem er die Männer aus Kursk tadelt, weil sie nicht zu den Waffen greifen. Der Kommandeur der Spezialeinheit “Achmat”, Apti Alaudinow, erklärte, dass 18-jährige Wehrpflichtige, die ihre Heimat nicht verteidigen wollen, von ihr nicht gebraucht werden. “Im Grunde genommen lautet seine Botschaft: ‘Wenn du nicht für das Vaterland stirbst, braucht dich das Vaterland nicht’,“ sagt Philippow, der einen Telegram-Kanal betreibt, auf dem er das Gedankengut der Turbo-Patrioten analysiert.

Diese Polarisierung der russischen Gesellschaft überrascht den Politologen und ehemaligen Redenschreiber Putins, Abbas Galljamow, nicht. Die offensichtlich dominierende Reaktion der Russen ist Gleichgültigkeit. Sie sei das Ergebnis der jahrelangen Politik des Putin-Regimes. Der zur Schau gestellte russische Patriotismus war stets künstlicher Natur, so Galljamow, weshalb heute keinerlei patriotischer Eifer zu beobachten ist: „Was hätte in dieser Situation geschehen sollen? Schlangen vor den Militärkommissariaten, Tausende von Demonstrationen im ganzen Land, Einiges-Russland-Abgeordnete mit Plakaten ‘Putin, schlagen wir zu!‘ Nichts davon passiert.“

Selbst Propagandisten im staatlichen russischen Fernsehen haben die Idee aufgegeben, alles auf die patriotische Karte zu setzen, da offensichtlich ist, dass dies nicht funktionieren würde. Stattdessen bezeichnen offizielle russische Medien das Eindringen der ukrainischen Armee in die Region Kursk als “Vorstoß der ukrainischen Streitkräfte”, wobei sie sorgfältig vermeiden, das tatsächliche Geschehen beim Namen zu nennen. Die Bewohner der Region Kursk ziehen es vor, aus den von der ukrainischen Armee besetzten Gebieten zu fliehen, anstatt mit Waffen in der Hand das Vaterland zu verteidigen.

Putin erntet die Früchte

Das Putin-Regime erntet die Früchte seiner eigenen Politik, die darauf abzielte, die Gesellschaft passiv zu halten. Infolgedessen ist die Kluft zwischen den Menschen und dem Staatsapparat so groß geworden, dass viele Russen sich nicht als Teil dieses Staates verstehen, erklärt Galljamow und stellt eine wichtige Frage:  “Warum sollte man für einen Staat, zu dem man keine Zugehörigkeit empfindet, sein Leben opfern”“.

Das Fehlen von Protesten sowohl seitens der Turbo-Patrioten als auch der oppositionell eingestellten Bürger erklärt er vor allem mit Angst: Die Menschen schweigen, weil sie Repressionen fürchten. Die meisten Russen sind vom Krieg enttäuscht und kriegsmüde. Doch diese scheinbare Ruhe, die in Wirklichkeit eine Form des inneren Rückzugs ist, geht gewöhnlich einer Revolution voraus, prophezeit der Politologe, der bereits 2022 Russland verließ und in Israel lebt: “Die Mehrheit der Bevölkerung war loyal. Jetzt hat sie das Vertrauen in die Macht verloren, ist enttäuscht. Gegenwärtig sind die positive Stimmung in Russland auf null gesunken. Der nächste Schritt wird der Aufstieg des Protests sein, und eines Tages wird das Pluszeichen in ein Minuszeichen umschlagen.”

Kein letzter Tropfen

Die Offensive der ukrainischen Armee sei noch kein letzter Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Doch die Geschichte sei noch nicht zu Ende, warnt Galljamow: Je weiter die Ukrainer vorrücken, desto mehr wird sich der Unmut der Russen Bahn brechen.

“Wladimir Wladimirowitsch, man lügt Sie an!” Die Menschen in dem Videoappell an Putin scheinen noch immer an den guten Zaren und die bösen Bojaren zu glauben. Für die übrigen Russen bleibt noch ein letztes Mittel, auf das sie schon immer zurückgegriffen haben: der Galgenhumor. In den russischen sozialen Netzwerken ist folgender Witz beliebt: “Warum verlangsamen die Behörden YouTube?” – “Weil sie den Vormarsch der ukrainischen Streitkräfte bei Kursk nicht verlangsamen können”.

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