Auf Wahrheitssuche mit katholischem Weitblick

Unter dem Motto “Die unzerstörbare Sehnsucht nach Wahrheit” versammelt die Gustav-Siewerth-Akademie eine illustre Runde katholischer Intellektueller, die zum Teil schonungslos realistisch auf unsere Gegenwart blicken

Quelle
Inseln der Wahrheit: Wie Christen als Minderheit leben können  | Die Tagespost (die-tagespost.de)
Die Schönheit in der Kirche | Die Tagespost (die-tagespost.de)15.08.2024
Gustav-Siewerth-Akademie

Sebastian Ostritsch

Wer nicht weiß, was ihn beim Betreten des Tagungsortes in Höchenschwand erwartet, könnte beim Anblick der rustikalen Holzzeltarchitektur fälschlicherweise meinen, er sei auf eine Dorfversammlung geraten. Doch weit gefehlt. Denn in diesen drei Tagen Anfang August läuft im Schwarzwald ein “Who’s who” der deutschsprachigen katholischen Intellektuellen auf.

Das intellektuelle Leben einer Zivilisation findet üblicherweise in ihren großen Städten statt. Universitäten, Forschungsinstitute oder bürgerliche Salons sind urbane Phänomene. Paradoxerweise ist jedoch gerade die städtische Hektik und Zerstreuung allen tieferen Formen der Geistigkeit abträglich. Vor allem für die philosophische und theologische Reflexion bedarf es zuweilen der Ruhe, ja vielleicht sogar Abgeschiedenheit von all dem Oberflächlichen, Modischen und Interessanten, das das Stadtleben zu bieten hat.

So gesehen dürfte es kein Zufall sein, dass die Gustav-Siewerth-Akademie ihren Sitz in dem kleinen Dorf Oberbierbronnen im Südschwarzwald hat. Schließlich wollte die Gründerin der Akademie, die Philosophin Alma von Stockhausen, mit ihrer privaten Hochschule vor allem ein katholisches Korrektiv zur Frankfurter Schule um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sein, die das Städtische ja bereits im Namen trägt.

Schafsblöken statt Verkehrslärm

Dass von Stockhausen diesen Flecken Erde, an dem man eher von Schafsblöken als von Verkehrslärm geweckt wird, ganz bewusst ausgewählt hat, bestätigt Mechthild Löhr. Seit dem Tod von Alma von Stockhausen im Jahr 2020 organisiert Löhr die theologisch-philosophischen Sommerkurse der Gustav-Siewerth-Akademie im Auftrag des Hausherrn Albrecht Graf von Brandenstein-Zeppelin.

“Sehen Sie die Berge ringsum?”, fragt sie und erklärt: “An einem schönen Tag wie heute können Sie von hier aus die österreichischen, schweizerischen und die französischen Alpen sehen.” Um diesen Weitblick aus der Abgeschiedenheit heraus sei es von Stockhausen bei der Gründung der Gustav-Siewerth-Akademie gegangen – im wörtlichen wie im auf das Geistige übertragenen Sinne.

Theologie und Philosophie mit illustren Persönlichkeiten

Seitdem die Akademie den regulären Lehrbetrieb vor zehn Jahren eingestellt hat, beschränkt sich ihre Tätigkeit im Wesentlichen darauf, einen jährlichen Sommerkurs im Bereich der Theologie und Philosophie zu veranstalten. Rund 140 Teilnehmer haben sich dieses Jahr im “Haus des Gastes” in Höchenschwand versammelt, das nur wenige Autominuten vom Sitz der Akademie entfernt liegt.

Zu der alles andere als provinziell anmutenden Liste der Referenten zählen in diesem Jahr unter anderen der Dogmatiker Manuel Schlögl, der Kirchenhistoriker Michael Fiedrowicz, der Publizist Bernhard Meuser, die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, der Althistoriker David Engels und der Autor Martin Mosebach.

Hegel und Darwin sind keine Gegner mehr

Als einen ihrer ideologischen Hauptgegner hatte von Stockhausen einst die Evolutionstheorie identifiziert und dabei eine geistige Linie des Antikatholizismus von Luther über Hegel zu Darwin gezogen. Dieses Feindbild ist inzwischen überholt. Man mag etwa aus allerlei Gründen, auch wissenschaftstheoretischen, die Idee der Makroevolution kritisch betrachten. Allerdings hat sich aus guten Gründen auch unter christlichen Philosophen weitgehend die Überzeugung durchgesetzt, dass die Evolutionstheorie logisch gesehen sowohl mit einem Schöpfungsakt am Anfang der Zeit als auch mit dem Gedanken einer fortwährenden Schöpfung, einer “creatio continua”, kompatibel ist.

Auch was Hegel betrifft, haben Katholiken keinen Grund, auf geistige Abschottung zu setzen. Sicher, das hegelsche System im Ganzen wird sich kaum katholisch machen lassen. Dass Katholiken dennoch fruchtbar auf Gedankenfiguren Hegels zurückgreifen können, ist spätestens seit Robert Spaemann eine ausgemachte Sache. Es ist, wie Pfarrer Hans Milch in einer seiner Predigten betont hat, gerade ein Signum des katholischen Glaubens, das Ganze der Wahrheit für sich zu beanspruchen. Daraus wiederum folgt, dass er auch aus allen anderen Philosophien, Theorien und Glaubenssystemen all jenes in sich aufzunehmen weiß, was wahr, schön und gut ist.

Innere Entwicklungslogik verschiedene Kultursphären

Passend dazu sind die diesjährigen Vorträge vom Veranstalter unter die gemeinsame Überschrift “Die unzerstörbare Sehnsucht nach Wahrheit” gestellt worden. Schnell zeigt sich, dass die Referenten veraltete ideologische Grabenkämpfe erfolgreich hinter sich gelassen haben und sich der Wahrheit in einer dem Katholischen angemessenen Weite zu widmen wissen.

Gänzlich frei von falschen Berührungsängsten ist der Vortrag von David Engels. Es geht um Oswald Spenglers Kulturmorphologie, die – gelinde gesagt – nicht gerade zum Kernbestand katholischen Denkens gehört. Das hindert Engels aber nicht daran, Spengler auch noch mit hegelscher Dialektik zu kombinieren und dann mittels einer beeindruckend kenntnisreichen Tour de Force durch Zeitalter und Zivilisationen zu demonstrieren, wie sehr sich die verschiedensten Kultursphären in ihrer inneren Entwicklungslogik gleichen.

Geschichtsphilosophischer Realismus weicht Pessimismus

Die Prognose: Auch das Abendland werde seinem historischen Schicksal nicht entgehen können. Zu erwarten sei immerhin noch eine abschließende Phase der Restauration, der aber keine vitalen Erneuerungskräfte mehr innewohnten.

Engels aber will diesen Blick auf die Wirklichkeit nicht als verzagten Pessimismus, sondern als geschichtsphilosophischen Realismus verstanden wissen. Das Abendland sei zwar wesentlich christlich geprägt, Christentum und Abendland jedoch seien nicht identisch. Der zu erwartende Untergang des Abendlandes müsse demnach noch lange nicht den Untergang des Christentums bedeuten. Und ohnehin entbinde keine historische Situation – und sei sie noch so aussichtslos – davor, sich um das eigene Seelenheil zu kümmern.

Verlust des Sinns für das Schöne

Von utopischer Schwärmerei und naivem Optimismus werden die Zuhörer auch in Martin Mosebachs Vortrag über das “Problem der Schönheit in der katholischen Liturgie” verschont. Mosebach diagnostiziert unserer Zeit einen Verlust des Sinns für das Schöne. Ein Epochenschicksal, an dem nichts mehr zu ändern sei. Der Autor macht deutlich, dass diese Unfähigkeit, das Schöne als solches wahrzunehmen, von Platon “apeirokalia” genannt, ein bürgerliches Phänomen ist. An die Stelle des Schönen sei im Zeitalter des Bürgertums das Geschmackvolle getreten.

Die Liturgie in ihrer überlieferten Form, deren Förderung sich Mosebach seit vielen Jahrzehnten verschrieben hat, sei aber nicht geschmackvoll, sondern schön. Und diese Schönheit sei hierarchisch, verschwenderisch, ja pompös – und damit ganz und gar unbürgerlich. Apropos Liturgie: Zusätzlich zur Messfeier im Novus Ordo finden auch die Liebhaber des überlieferten Ritus einen Priester, der täglich für sie zelebriert.

Was bleibt, ist die unverrückbare, absolute Wahrheit

Dass gute Schriftsteller auch gute Redner sind, ist eher selten; Mosebach aber versteht es, seine Texte mit Verve und feiner Ironie vorzutragen. In der Folge nimmt das Publikum selbst jene seiner Thesen mit Begeisterung auf, die für bürgerliche Ohren eigentlich besonders provokant klingen müssten. Die gargantuesken Stücke Schwarzwälder Kirschtorte, die sich auf den Tellern der Teilnehmer auftürmen, sind derweil stumme zuckrige Zeugen der Tatsache, dass auch die Kategorie des Geschmackvollen zunehmend in Gefahr ist.

Trotz aller Geschmackverirrungen unserer Zeit und auch trotz aller Verstellung und Lüge bleibt die eine, unverrückbare, absolute Wahrheit. Sie steht im Zentrum das katholischen Glaubens und zieht sich wie ein roter Faden auch durch die anderen Vorträge der Tagung: die Ausführungen Manuel Schlögls über die “Diktatur des Relativismus”, Bernhard Meusers Referat über Kardinal NewmansTheorie des Glaubens, Michael Fiedrowiczs Vortrag über “Frühes Christentum als Gegenkultur im Raum von Irrtum und Lüge” sowie die Reflexion, die Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz über den Zusammenhang von Wahrheit und Liebe anstellt.

Wer all dem aufmerksam zuhört, geht am Ende mit der Einsicht nach Hause, dass die theologischen und philosophischen Fundamente des Christentums trotz der Urstände, die die liberale Beliebigkeitsideologie in Gesellschaft und Kirche feiert, noch lange nicht verschüttet sind. Von dieser Einsicht sowie der Erinnerung an die sonnendurchfluteten Täler des Schwarzwaldes dürften vor allem auch jene noch länger zehren, die nach drei Tagen im katholischen Hinterland in die Städte und Metropolen der Republik zurückkehren müssen.

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