Kann Europa Weltmacht werden?
Die milliardenschwere US-Hilfe für die Ukraine ist ein Weckruf an das vereinte Europa, denn Amerika hat uns allen nur Zeit erkauft
26.04.2024
Bis ins Detail hinein reglementieren und regulieren die Europäische Union und ihre 27 Mitgliedstaaten das Leben ihrer 448 Millionen Bürger. Eine Rechtssetzungsmaschine nannte ein Insider die EU einmal; für die nationalen Parlamente gilt ähnliches. Wer behauptet, noch einen Überblick über die geltende Rechtsmaterie zu besitzen, ist entweder ein brillanter Fachanwalt oder Hochstapler. Faulheit muss man all den Ministern, Kommissaren, Parlamentariern und Spitzenbeamten also nicht unterstellen. Alle tun viel – aber tun sie das Richtige?
Gewiss, die innere und äußere Sicherheit ist nicht die einzige Aufgabe moderner Staaten. Aber eine Kernaufgabe wäre sie schon. Und die scheint sträflich vernachlässigt zu werden. Von jeder ideologisch motivierten Bluttat, jedem Terrorakt, jedem Spionagefall, jedem Krieg werden wir Europäer aufs Neue überrascht. Warum eigentlich? Haben wir noch nicht verstanden, dass all die genannten Untaten im 21. Jahrhundert eine globale Dimension haben, dass folglich Konfliktprävention, Spionageabwehr und Terrorismusbekämpfung supranational organisiert werden müssen? Wofür all die Sicherheitsberater, Nachrichtendienste und Ämter, wenn sie nicht Zahnräder einer Maschinerie sind, die für die Sicherheit der Europäer arbeitet? Und wozu all die Armeen und Militärausgaben in Europa, wenn wir im Kriegsfall heulend am Rockzipfel der Amerikaner hängen?
Der Krieg könnte in Washington und Peking entschieden werden
In den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er Jahre hätten die EU und ihre Mitglieder kapieren müssen, dass es nicht so weitergehen kann wie im Kalten Krieg. Da nämlich sicherten die USA die Freiheit halb Europas. Das ist weder gerecht noch beruhigend. Der südosteuropäische Bruderkrieg wurde letztlich (wie der Erste Weltkrieg) in Washington entschieden. Und jetzt scheint es so, als würde auch der russische Krieg gegen die Ukraine in Washington (und Peking) entschieden werden.
Als nun das US-Repräsentantenhaus – nach langem Zank und großer Ungewissheit – das milliardenschwere Hilfspaket freigab, da jubelten die Freunde der Ukrainer und schäumten die Freunde Putins. Gewiss, es ist erfreulich und staunenswert, dass sich die USA noch einmal an jene amerikanische Tradition erinnerten, die an eine weltpolitische Verantwortung Amerikas glaubt und das Ideal der Freiheit hochhält. Doch jeder weiß, dass es auch eine isolationistische und eine imperiale, eine egoistische und eine zynische Tradition amerikanischer Außenpolitik gibt.
Europa muss den weltpolitischen Kinderschuhen entwachsen
Klar ist, dass Amerika nicht immer die europäischen Kohlen aus dem russischen Feuer holen wird, dass Washington die Blickrichtung ändern und sich stark auf den Pazifik fokussieren wird, dass das Verständnis der US-Steuerzahler für die Sorgen der Europäer nicht größer sein kann als ihre eigenen Sorgen. Es ist für Europa darum höchste Zeit, aus den weltpolitischen Kinderschuhen herauszuwachsen und die Verantwortung für die Freiheit und Sicherheit des eigenen Kontinents zu übernehmen.
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Im Zeitalter der Globalisierung sind die souveränen Staaten Europas für sich alleine Kleinstaaten und weltpolitische Fliegengewichte. Im Zeitalter neuer Hegemonialkriege und machtgieriger Despoten sind sie in ihrer Existenz bedroht. Die EU-Staaten hatten viel Zeit, sich aus Vernunft zu einer wirklich gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durchzuringen. Jetzt, in Zeiten des Krieges, werden sie diesen Schritt aus purer Angst gehen müssen. Wenn Europas Staaten souverän bleiben wollen, müssen sie gemeinsame Sache machen, denn Putin hat nicht nur der Ukraine, sondern dem gesamten Westen den Krieg erklärt.
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Stephan Baier
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