Wieviel Tugend verträgt der Mensch?
Ohne Tugenden geht es nicht – doch Tugend- und Moraltotalitarismus verkehrt gute Dinge in ihr Gegenteil, findet Ute Cohen
10.03.2024
Ohne Angel keine Tür. Keine Sorge! Weder versteigt sich dieser Essay in die Finessen des Fischfangs noch in diejenigen der Schreinerei. Vielmehr liegt mir die Tugend selbst am Herzen, wobei wir zwangsläufig bei Thomas von Aquin und seiner berühmten handwerklichen Metapher angelangen: “Eine Tugend heißt Kardinal- beziehungsweise Haupttugend, weil an ihr die anderen Tugenden befestigt sind wie die Tür in der Angel.” Wer die Tugend begreifen will, sollte daher ihren Mechanismus und ihre Funktion als Türöffner für ein gescheites Miteinander verstehen.
Platon, Cicero, Ambrosius von Mailand und natürlich Thomas von Aquin: Sie alle setzten sich mit Tugend und Tugendhaftigkeit auseinander. Trotz Differenzen und unterschiedlicher Nuancierungen haben sie in den Haupttugenden einen kleinsten gemeinsamen mitmenschlichen Nenner gefunden: Klugheit, Mut, Mäßigung und Gerechtigkeit sind die Angeln, in denen unsere Zukunft hängt.
Diese Angeln aber sind verschlissen, belastet von ideologischen Stürmen und nihilistischem Gehämmer. Tugendhausierer lauern vor den Toren und begehren Einlass im Namen von Antikolonialismus, Antirassismus und – man kann es nicht oft genug betonen – Antisemitismus. Das Haus, das Griechen und Römer bauten, droht zertrümmert zu werden im Namen einer neuen Hypermoral, die christlichen und weltlichen Tugenden den Garaus macht – und dabei geht man gern mal über Leichen und nimmt Kollateralschäden in Kauf. Dieses neue Haus der Übertugend erinnert an den Film des dänischen Regisseurs Lars von Trier: “The House that Jack built”. Ein Serienmörder, Architekt von Beruf, folgt seinem unersättlichen Mordtrieb und erbaut aus den Leichnamen seiner Opfer ein Haus. Eine brutale, wenn auch passende Metapher für das Gruselkabinett der Tugendtotalitaristen.!
Eiferer und Nihilisten nehmen die Tugend in die Zange
Das Maßvolle und Vernünftige der alten Tugenden wird durch einen Tugendfuror abgelöst. Schäumende Wut ersetzt den Verstand; Recht und Gesetz werden einer gefühlten Gerechtigkeit unterworfen. Der Trick der Tugendterroristen besteht dabei darin, das eigene Unterfangen als hehr erscheinen zu lassen. Wie Lars von Trier mit Wohlklang und bildlichen Anspielungen eine Identifikation mit Jack, dem Täter, erreicht, so üben sich die Tugendwüter in propagandistischen Spielereien und Wortverdrehungen, die – um mit Victor Klemperer zu sprechen – direkt der Lingua Tertii Imperii entsprungen sein könnten.
Am schlimmsten ergeht es dabei der virtus, der Kardinaltugend, die unter Mut erfasst wird. Bei den Römern bedeutete die virtus jedoch noch weit mehr: innere Stärke, Gefasstheit, Seelengröße und Standhaftigkeit. Dass die virtus von vir, dem Manne, herrührt, ist die größte Crux: Männlichkeit und Manneskraft gelten als Säulen des Patriarchats und damit als Inbegriff des Bösen. Wer sie stürzt, macht tabula rasa und bereitet den Boden für etwas Neues, Großes, Grausames. Im Haus der Tugendwüter werden weibliche Wut und Hysterie gefeiert, als hätte die Frauenbewegung umsonst Zeit und Energie in die Gleichberechtigung, Bildung und Emanzipation der Frau gesteckt. Auf Veranstaltungen – nicht nur an Berliner Universitäten – werden mit schriller Stimme Judenhass und historische Unkenntnis ins Mikrofon geplärrt. Die Narretei findet dabei Anklang bei jenen, die historische Kenntnisse als solche längst als “Faschodreck” auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt haben. Dass die Universitätsleitungen sich nur halbherzig für das Scheitern ihres Bildungsauftrags entschuldigen und teils klaglos das Feld räumen, macht es nicht einfacher für die Verfechter maßvoller Tugenden, von Hochsinn und Umsicht.
Denn Tugend im guten und wahren Sinne – ein bisschen Pathos muss sein! – setzt Formgebung voraus; den Willen, sich nicht nur an Regeln und Pflichten zu orientieren, sondern auch an einem inneren Kompass. Dieses charakterliche Navigationsinstrument ist vielen aber verloren gegangen. Befindlichkeiten werden ungefiltert in die Welt posaunt, persönliche Widerständigkeit und Weiterentwicklung abgewertet als Relikt gewaltsamer Gesellschaftsformen. Stattdessen begnügt man sich damit, vermeintlich “gut” zu sein, und zwar ganz schlicht, weil man es für sich behauptet. En vogue sind klitzekleine Tugendtaten, wie großmäulig Dahingesagtes, das wirkungslos bleibt – also vorgeblich Tugendhaftes, das in einen gegenteiligen Effekt umschlägt. Gewissermaßen Tugend-Fauxpas, die mit moralischem Ablasshandel wieder ausgeglichen werden.
Es verhält sich beispielsweise so, dass Energiesparlämpchen nicht zweifelsfrei zur Minderung von Stromverschwendung führen. Licht aus, Spot an? Nichts dagegen einzuwenden, wenn es sich um ein klitzekleines Spötchen handelt, das durch Energiesparlämpchen erzeugt wird. Zappenduster aber wird es, wenn der Spot bis zum Jüngsten Gericht blinkt, anstatt nur kurz das Dunkel punktgenau zu erhellen. Einsparungen – das ist das Malheur! – werden durch effizientere Technologien mittels erhöhten Konsums gern wieder ausgelöscht. Man nennt das den mentalen “Rebound-Effect”. Kurz und knackig: die Moralkeule schlägt mit doppelter Wucht zurück.
Andere beschuldigen, um ungenierter zu sündigen
Jede Zeit hat die Wörter, die sie verdient. Begründet ist diese paradoxe Verhaltensweise im “Self-Licensing”: Bezeichnet wird damit das Phänomen, dass Menschen, sobald sie “gemeinwohlverträglich” gehandelt haben, ohne Schuldgefühle miese Taten vollbringen können. Wenn man sich moralisch überlegen fühlt, biegt meist flugs die Boshaftigkeit um die Ecke.
Weil das aber nicht sein kann und nicht sein darf, hecken die Selbstlizenzierer zwei Strategien aus, welche über die Fadenscheinigkeit ihres moralischen Deckmäntelchens hinwegtäuschen sollen. Strategie Nummer eins ist “Offsetting”, im Mittelalter auch als Ablasshandel bekannt. Gegen Gebühr stellte die Kirche einen Indulgenzbrief aus, der dem Käufer einen Nachlass zeitlicher Sündenstrafen gewährte – moderne Tugendcracks haben diesen nun wieder ausgegraben. Beim Offsetting wird für jede Tonne Co2, die bei einer Flugreise entstehen, eine zusätzliche Gebühr erhoben. Diese wird an eine Organisation weitergeleitet, die Klimaschutzprojekte damit finanzieren soll. Der Nutzen ist fragwürdig. In erster Linie profitiert der Zertifikatehandel vom Geschäft mit dem schlechten Gewissen.
Tugend droht gänzlich zu verschwinden
Da dieses Kompensations-Business nicht unbefleckt ist, muss es unbedingt von Strategie Nummer zwei flankiert werden: “Virtue Signalling”. Derjenige, der sich diese Taktik zu eigen macht, ist das Gegenteil eines homo virtuosus, eines tugendhaften Menschen. Vielmehr hat er Ähnlichkeiten mit einem Prahlhans, indem er sich mit seiner moralischen Korrektheit brüstet. Da die Mehrheit seine Ansichten aber gutheißt, läuft er nicht Gefahr, als unangenehmer Tugendaufschneider wahrgenommen zu werden. Virtue Signalling, bedacht praktiziert, ist der Trumpf eines doppelbödigen Moralfreaks.
Halt! Nun muss ich jedoch mir selbst ein Stoppschild hochhalten! Warum müssen an sich positive Verhaltensweisen immer mit einem Negativ-Label versehen werden? So geschehen auch mit dem Ausdruck “politically correct”.
Der respektvolle Umgang mit anderen und der Umwelt ist doch lobenswert. Erst durch die sprachliche Brille der Gegner und Skeptiker wird er abgewertet. So ist es auch mit der Tugend: Sie steht dermaßen unter Beschuss, dass sie gänzlich zu verschwinden droht – jegliches Streben nach dem Guten wirkt mittlerweile beinahe verdorben. Bedenken sollten wir, ob wir nicht wieder den ursprünglichen Begriff ins Auge fassen sollten, anstatt den Gegner. Mit Sachargumenten und Konzentration auf die virtus in all ihren Ausprägungen, tun wir uns und unserer Gesellschaft einen größeren Gefallen als mit Tugendprotzereien und hohlen Phrasen.
Das Haus der Tugendprahler ist auf Sand gebaut, der Tugendwüter steht auf tönernen Füßen. Doch Trouvaillen zu beziehungsweise Auswege aus den Irrungen und Wirrungen eines falsch verstandenen Tugendverständnisses gibt es zuhauf bei Aristoteles, Cicero, Konfuzius und Thomas von Aquin. Sein Scherflein beigetragen hat auch Johann Wolfgang von Goethe: “Dadurch wird eben alles so halb bei euch, dass ihr euch Tugend und Laster als zwei Extrema vorstellt, zwischen denen ihr schwankt. Anstatt euren Mittelzustand als den positiven anzusehen und den besten.” Stein auf Stein, mit Sinn für Maß!
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