“Freiheit ist das höchste Gut – nicht Frieden!”

Als Präsident der EU-Kommission hat der Luxemburger Jean-Claude Juncker jahrelang mit den Großen der Welt verhandelt. Im Exklusiv-Interview der “Tagespost” analysiert er Wladimir Putin, Donald Trump und Xi Jinping, aber auch Naivität, Schwächen und Visionen der europäischen Politik

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phoenix – unvergessene Szenen: Wladimir Putin im Bundestag #OnThisDay 25.09.2001 | ARD Mediathek
Putin

06.03.2024

Stephan Baier

Herr Präsident Juncker, war der Westen allzu lange naiv gegenüber Wladimir Putin?

In der Nachbetrachtung sieht es so aus, als ob wir über die Maßen naiv gewesen wären. Ich kenne Putin sehr gut und habe viele Vier-Augen-Gespräche mit ihm geführt. Bis 2007 oder 2008 war er erkennbar auf einem positiven europapolitischen Weg. Erinnern Sie sich an die Standing Ovations im Deutschen Bundestag 2001, als Putin dort in seiner Rede feststellte, der Kalte Krieg sei vorbei. Wir waren alle – ohne Ausnahme – der Auffassung, dass wir nach dem Umschwung in Mittel- und Osteuropa von der Friedensdividende profitieren könnten. Es sah lange so aus, als ob Putin auch auf die Annäherung zwischen der EU und Moskau setzen würde. Das ist dann schiefgegangen, ab 2008. Insofern waren wir naiv, weil wir ihn nicht für fähig hielten, das zu tun, was er jetzt in der Ukraine tut. Es ist aber wohlfeil, im Jahr 2024 zu sagen, dass wir naiv waren.

Hätten wir 2003 oder 2004 Russland die sich anbahnende Freundschaft aufgekündigt und wären in die Rhetorik des Kalten Kriegs zurückgefallen, dann hätte es auf den deutschen Straßen massive Demonstrationen gegen eine solche Politik gegeben. Wären wir gegenüber Russland feindselig aufgetreten, hätten wir dafür im deutschsprachigen Raum kaum Verständnis gefunden.

Spätestens 2008 hat sich mit dem Überfall auf Georgien eine imperiale Agenda abgezeichnet, und in Russland diktatorische Tendenzen.

Ja, aber wir haben das nicht als einen systematischen Schritt empfunden. Das Vorgehen gegen Georgien haben wir in seiner Gesamtbedeutung nicht richtig eingeschätzt. Doch wenn ich als Kommissionspräsident nur mit lupenreinen Demokraten geredet hätte, dann hätte ich am Dienstagabend die Türe schließen, nach Luxemburg fahren und mit meiner Frau Karten spielen können. Wir können nicht nur mit demokratischen Staatsführern sprechen. Wir müssen mit allen reden! Es gibt ja auch in sich anbahnenden Demokratien immer wieder Fehltritte. Auf die achten wir nicht genug, sonst hätten wir mit der Hälfte der Welt keine Beziehungen.

“Wenn ich als Kommissionspräsident nur mit lupenreinen Demokraten geredet hätte, dann hätte ich am Dienstagabend die Türe schließen, nach Luxemburg fahren und mit meiner Frau Karten spielen können”

Heute ist Russland gewiss keine sich anbahnende Demokratie, sondern eine Despotie.

Putin ist, um Gerhard Schröder zu bemühen, kein “lupenreiner Demokrat”, gab uns aber den Eindruck als ob er auf dem Weg dahin wäre. Russland ist heute – und war es historisch immer – ein nach Hegemonie trachtender großer Staat. Unsere Beziehungen zu Russland wurden lange vor dem Ukraine-Krieg durch einen unglücklichen Satz meines Freundes Barack Obama beschädigt, der sagte, Russland sei eine Regionalmacht. Das entspricht nicht dem russischen Selbstverständnis! Russland war immer auf Ausdehnung bedacht. Als der Kommunismus auch in Russland Schiffbruch erlitten hatte, haben wir das in seiner Tragweite unterschätzt, weil die Systemauseinandersetzung zwischen kommunistischer und westlicher Welt beendet war. Russland tendiert zur Diktatur, und Putin ist der Führer ihrer Einstellung zum Rest der Welt. Aber er ist dabei nicht alleine. Er hält sich nicht an die regelbasierte Nachkriegsordnung in Europa, doch das tut er nicht im Namen des Kommunismus, sondern des russischen Selbstverständnisses. Das spielte in unserem Denken über Russland nie eine Rolle. Aber jetzt!

Putin ist nicht nur militärisch übergriffig auf Nachbarstaaten, sondern sucht darüber hinaus Einfluss durch Desinformation und Propaganda. Wie kann sich die EU dagegen wehren?

Es gibt den erkennbaren Versuch Russlands, die westliche öffentliche Meinung zu unterwandern. Die EU-Kommission bemüht sich sehr um eine Gegenoffensive gegen die russische Propaganda. Das ist nicht einfach. Man kann der russischen Propaganda nur die offene Rede entgegensetzen, aber die erreicht die Tiefe Russlands nicht, weil es dort keine Presse- und Meinungsfreiheit gibt. Man muss jedem Schritt von Putin eine Gegenbewegung entgegenstellen und jedem Satz von Putin eine Gegenrede. Wir müssen, Punkt für Punkt, die Widerrede zum normalen Umgang mit Russland machen.

Wie kann der Krieg Putins gegen die Ukraine enden?

Wir können uns schon die Frage stellen, was wir im Umgang mit Russland falsch gemacht haben. Aber klar ist: Es gibt keinen ausreichenden Grund für diesen Angriffskrieg auf die Ukraine, auf die Menschenrechte, auf die europäische Art des Zusammenlebens. Es gibt nur einen Grund, Krieg zu führen: wenn die Freiheit bedroht ist. Freiheit ist das höchste Gut – nicht Frieden! Die Ukrainer fühlen sich in ihrer Freiheit bedroht, weil Russland der Ukraine das Existenzrecht abspricht. Deshalb glaube ich nicht, dass dieser Krieg ein schnelles Ende findet. Ich will aber nicht, dass die Ukraine ein weiterer frozen conflict in Europa wird. Das wäre der Fall, wenn es zu einem Diktatfrieden käme, dessen Bedingungen Moskau einseitig festlegt. Wir müssen also die Ukraine auch militärisch in die Lage versetzen, dem russischen Angriffskrieg eine adäquate militärische Antwort entgegenzusetzen. Die Vorstellung, dass man von heute auf morgen – wie Trump es angekündigt hat – für Frieden in diesem Raum sorgen können, ist ein Wunschgedanke. Wir müssen wehrhaft bleiben und der Ukraine durch westliche Hilfe ermöglichen, sich zu wehren.

“Wir müssen die Ukraine auch militärisch in die Lage versetzen, dem russischen Angriffskrieg eine adäquate militärische Antwort entgegenzusetzen”

Hat der Westen diesen langen Atem?

Das würde ich mir wünschen. Aber es gibt eine erkennbare Kriegsmüdigkeit. Wir leiden unter dem Kriegsgeschehen, und viele verlieren nicht nur die Geduld, sondern auch die Überzeugung, dass man sich gegen solche Verletzungen des internationalen Völkerrechts wehren muss. Der Ukraine-Krieg ist keineswegs der erste Krieg seit 1945. Wir hatten die Balkankriege, haben heute 80 bis 90 bewaffnete Konflikte weltweit, die wir fast nicht zur Kenntnis nehmen. Den Ukraine-Krieg nehmen wir zur Kenntnis, weil die Ukrainer uns kulturell und religiös näherstehen als etwa die Syrer und Afghanen. Wir sind gefühlsmäßig unmittelbarer betroffen als von anderen Konflikten in der Welt. Deshalb gibt es auch kaum Widerstand, wenn es um den Zuzug ukrainischer Kriegsflüchtlinge geht. Warum sind wir eher bereit Ukrainer aufzunehmen als andere Kriegsflüchtlinge? Ich wünschte mir dieselbe Großmut für Flüchtlinge, die aus der Ferne kommen und keine Christen sind.

Ist nicht einfach diesmal die Angst größer, weil Russland auch eine Bedrohung für andere Europäer ist: Polen und Balten wissen, dass sie Frontstaaten sind, wenn die Ukraine fällt.

Ich habe großes Verständnis für die Angst der Polen und der Balten vor russischen Übergriffen. Wir haben nicht intensiv genug auf sie und andere Osteuropäer gehört, die uns seit Jahren darauf aufmerksam gemacht haben, was sich in Russland im System Putin an Gefahr zusammenbraut. Darum unterstütze ich die Bemühungen der EU, diesen Staaten das zur Verfügung zu stellen, was sie brauchen, um eventuelle russische Übergriffe abwehren zu können.

Der Krieg hat auch die EU verändert. Sie finanziert erstmals Waffenkäufe für eine Kriegspartei und gewährte der Ukraine im Schnellverfahren Beitrittsverhandlungen. War das notwendig oder übereilt?

Die Waffenhilfe für die Ukraine ist notwendig. Doch die Hilfe, die wir den Ukrainern gewähren, ist nicht stark genug, um Putin auf Dauer zu beeindrucken. Die Bereitschaft der EU, bei der Waffenbeschaffung zu helfen, ist notwendig, aber ich hoffe, dass das ein einmaliger Vorgang ist. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der sich Putin‘sche Übergriffe verallgemeinern. Der Ukraine-Krieg hat – wie zuvor der Brexit – dazu geführt, dass die EU geschlossener auftritt, weil sie erkannt hat, dass es nicht nur um die Ukraine geht, sondern dass der russische Überfall die Freiheit auch im Rest Europas bedroht. Es geht hier um die Auseinandersetzung zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Hegemonialansprüchen und Freiheit. Unsere Demokratien sind bedroht und müssen sich wehren. Dieser Krieg ist kein singuläres Ereignis, sondern möglicherweise der Beginn einer neuen Ordnung, die uns nicht ruhig lassen kann.

Muss die EU zu einer Verteidigungsunion werden oder sollten wir uns auf die NATO verlassen – ungeachtet der fragilen Lage in den USA?

Von Donald Trump stammt das Unwort, dass die NATO obsolet sei. Sogar Trump müsste erkennen, dass wir wehrlos wären, wenn es die NATO nicht gäbe. Ich halte die transatlantische Allianz, die oft totgesagt wurde, für eine lebendige Notwendigkeit. Mich macht es besorgt, dass Trump der Vorstellung anhängt, er könne den Ukraine-Krieg binnen 24 Stunden beenden. Das ist ein Hinweis darauf, dass die mögliche künftige US-Administration dem Gedanken anhängt, es könne einen russischen Diktatfrieden mit der Ukraine geben. Aber es darf keinen Diktatfrieden geben! Wir brauchen eine Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO, aber die Vorstellung, dass man die Verteidigung Europas binnen weniger Jahre den Europäern alleine überlassen könnte, ist naiv. Die Europäer verfügen, wenn man alle Verteidigungsanstrengungen zusammenzählt, über 50 Prozent des US-Verteidigungshaushalts, aber wenn es um die Effizienz militärischer Einsätze geht, stellt Europa etwa 10 bis 15 Prozent des amerikanischen Truppeneinsatzes dar. Statt theoretisch über die europäische Verteidigungsbereitschaft zu sinnieren, braucht es mehr praktische Zusammenarbeit.

Putin ist weniger isoliert als uns lieb wäre. Er könnte seinen Krieg nicht führen ohne den politischen und ökonomischen Rückhalt durch China, ohne iranische Drohnen und nordkoreanische Munition. Zeichnet sich da eine Allianz antiwestlicher Kräfte ab?

Es gibt zunehmende Ressentiments gegen die westliche Vorherrschaft, die es in diesem Sinne überhaupt nicht gibt. Viele, die Russland beistehen, indem sie auf jede Kritik verzichten und jede Entscheidung der UNO gegen Russland verhindern, haben antiwestliche Ressentiments. Grund genug, sich damit zu beschäftigen: Warum fehlt es dem Westen, der früher von vielen bewundert wurde, an Gefolgschaft? Das stimmt mich besorgt. Wir dürfen unsere Beziehungen zum Rest der Welt nicht aus den Augen verlieren. Wir müssen sicherstellen, dass der Westen genug Alliierte behält, um Übergriffen von Putin widerstehen zu können.

Unter jenen Staaten, die eine andere Auffassung von Mensch und Gesellschaft haben, ist China die größte Macht. Sind wir erneut naiv, indem wir uns von China wirtschaftlich abhängig machen?

Europa ist von China so abhängig wie China von Europa. Ich vermag einer Strategie der Loslösung von China nicht zuzustimmen, denn das hätte auch für uns verheerende Folgen. Ich bin aber für eine Risiko-Minimierung und denke fast nostalgisch daran, dass meine Versuche, dem Einfluss Chinas und chinesischer Firmen in Europa Grenzen zu setzen, fast alle gescheitert sind, weil viele in Europa dem Gedanken des freien Welthandels anhingen. So schenkte man dem Investitionsschutz Europas im Umgang mit China kaum Beachtung. Es ist nicht normal, dass staatlich subventionierte chinesische Unternehmen freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben, aber europäische Firmen kaum freien Zugang zum chinesischen Markt. Das muss sich ändern.

“Ich vermag einer Strategie der Loslösung von China nicht zuzustimmen, denn das hätte auch für uns verheerende Folgen”

China hält sich auch nicht an unsere Vorstellungen von Menschenrechten, sondern baut sein totalitäres System aus.

Die letzte Unterredung, die ich mit dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping hatte, war in Paris mit Emmanuel Macron und Angela Merkel. Dabei haben wir den Chinesen freundlich erklärt, dass sie nicht nur unser Wettbewerber sind, sondern auch unsere systemischen Rivalen, weil wir ein völlig anderes Menschenbild haben. Aber Europa und China haben sich in wechselseitige Abhängigkeit gebracht, weil sie an die Friedensdividende glauben. Die Chinesen sind ernstzunehmende Rivalen, werden es aber nicht schaffen, in den nächsten 20 Jahren die Wirtschaftsmacht Nummer Eins zu werden, weil die chinesische Bevölkerung massiv abnimmt. Am Ende dieses Jahrhunderts wird China nicht mehr 1,4 Milliarden Einwohner haben, sondern 800 Millionen. Das ist ein dramatischer demografischer Vorgang, der die Kraft der chinesischen Wirtschaft auf Dauer schwächen wird. Gleichzeitig ist die Jugendarbeitslosigkeit in der Volksrepublik sehr hoch. Das sind zersetzende Vorgänge! Ich sage nicht, dass wir unser Verhältnis zu China nicht neu bestimmen müssen, aber ich bin gegen eine Überdramatisierung des chinesischen Einflusses in der Welt. Was sich zwischen China und Taiwan abspielt, wird in absehbarer Zukunft zur Herausforderung, auch wenn ich nicht von einem chinesischen Angriff ausgehe. Schon die chinesische Rhetorik bringt aber die Amerikaner dazu, ihr Augenmerk von Europa abzulenken und sich mehr auf den pazifischen Raum zu fokussieren. Wir Europäer müssen darum unsere Anstrengungen im Verteidigungsbereich maximieren.

Obgleich die USA stärker Richtung Pazifik blicken müssen, sind sie im Krisenherd Nahost ein Schwergewicht, während die EU-Mitgliedstaaten hier keine einheitliche Linie zustande bringen.

Wenn es eine einheitliche Position der EU im Nahost-Konflikt gäbe, wäre der Einfluss in diesem Raum dennoch nicht größer. Man traut hier den Europäern nicht zu, ihrer Stimme Geltung zu verschaffen. Wir haben uns zu lange damit begnügt, gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass es eine Zwei-Staaten-Lösung braucht, aber wenig dazu beigetragen, dass es dazu kommt.

Außer finanziell.

Ja, ohne die finanzielle Hilfe der EU und ihrer Staaten wäre die Palästinensische Autonomiebehörde nicht denkbar. Ohne europäisches Geld geht nichts, aber man hört nicht auf uns, wenn es um Friedensbemühungen geht.

Wie kann die EU hier vom “Payer” zum “Player” werden?

Wir werden ohne nennenswerten Einfluss bleiben, wenn wir außenpolitisch weiterhin mit Einstimmigkeit entscheiden müssen. Nötig wären qualifizierte Mehrheitsentscheidungen der europäischen Staatenlenker, aber dafür braucht es einen Beschluss der 27, in Zukunft in außenpolitischen Fragen mit Mehrheit zu entscheiden. Das würde der Vertrag von Lissabon zulassen: Der Europäische Rat kann einstimmig beschließen, in bestimmten Bereichen in Zukunft mit Mehrheit zu beschließen. Das würde ich gerne sehen.

Die EU-Mitglieder sind hier nicht geeint: Aber welche Strategie oder Vision hätten Sie selbst für den Nahen Osten?

De Gaulle schreibt in seinen Memoiren, er sei mit einfachen Ideen in den komplizierten Orient geflogen. Ich glaube, wir haben zu einfache Ideen für einen zu komplizierten Nahen Osten. Daher wage ich keine Prognose. Aber ich spüre, dass die Art und Weise, wie Israel zurzeit auf den Hamas-Überfall vom 7. Oktober reagiert, kein zielführendes Konzept ist, weil das mit zu viel menschlichem Leid verbunden ist. Jede Granate, jeder Schuss im Gazastreifen bedeutet Hass für weitere hundert Jahre. Zukunftsorientierte Politik kann nicht darin bestehen, Hass für Jahrzehnte zu säen! Das tut Israel aber zurzeit. Ich habe Verständnis für eine kräftige Reaktion Israels auf die Vorkommnisse vom 7. Oktober, aber genug ist genug!

“Jede Granate, jeder Schuss im Gazastreifen bedeutet Hass für weitere hundert Jahre. Zukunftsorientierte Politik kann nicht darin bestehen, Hass für Jahrzehnte zu säen!”

Bei der Europawahl am 9. Juni erwarten fast alle Beobachter einen “Rechtsruck”, also eine Stärkung der EU-kritischen bis europafeindlichen Kräfte. Sie auch?

Als ich 2014 Spitzenkandidat der EVP war, habe ich vor einem Rechtsruck gewarnt. Er fand nicht statt; ebenso 2019. Ich würde wünschen, dass es bei der Europawahl im Juni auch so wäre, aber ich gehe davon aus, dass die Kräfte am rechten Rand an Bedeutung gewinnen werden. Dem muss man sich entgegenstellen. Ich beobachte mit Sorge, dass innerhalb der klassischen Parteien – Christdemokraten, Liberale, Sozialisten – die Versuchung groß ist, Themen der Rechten zu übernehmen, indem man sie nachplappert. Die Gefahr von rechts kann man nicht eindämmen, indem man so redet wie etwa Le Pen. Man muss millimetergenau zur Gegenrede bereit sein. Man darf den Wählern nicht nachlaufen, sonst sieht man sie nur von hinten! Man muss sich den von Irrtümern bedrohten Wählern auch manchmal in den Weg stellen. Ich wünsche mir eine klarere Sprache der klassischen Parteien. Keine Kompromisse!

Ihr Freund Wolfgang Schüssel hat in seiner Zeit als österreichischer Kanzler für ein Europa geworben, das “schützt und nützt”. Wurde nicht versäumt, das plausibel zu machen?

Der einzelne Wähler macht sich schuldig, wenn er extrem rechts wählt. Das ist nicht dem Fehlverhalten der klassischen Parteien geschuldet, sondern der einzelne Bürger fühlt sich nicht verantwortlich für das Gesamte. Ich lasse den Wähler nicht raus aus seiner Verantwortung! Der Wähler muss sich, wenn er im Juni zur Europawahl schreitet, vorstellen, wie die Welt und Europa sich entwickeln, wenn alle so wählen würden wie er.

Nämlich?

Dann wäre Schluss mit dem europäischen Einigungsgedanken! Ich halte Patriotismus für eine Tugend, aber ich bin gegen Nationalismus, der sich gegen andere richtet. Wenn eine Stimmung wächst, dass man sich in Europa gegen die Nachbarn wehren muss, dann nimmt die Einigung dauerhaften Schaden. Es ist und bleibt ein Wunder der Geschichte, dass Europa zu einer Gestaltungsmacht wurde, die den Frieden unter den 27 Staaten sicherstellt. Das ist das Verdienst der Kriegs- und Nachkriegsgeneration.

Die sogenannte Rechte in Europa ist weder einheitlich noch in einer Fraktion des Europäischen Parlaments vereint. Zwischen der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni und AfD oder FPÖ liegen doch Welten.

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Ich bin strikt dagegen, dass Meloni Einzug in die EVP hält. Das käme einer Verharmlosung der extremen Rechten gleich. Ich gebe zu, dass Meloni sich in Europa eher konform verhält. Nach der Wahl hat sie sich so benommen, aber vor der Wahl hat sie ihre eigentlichen Ideen nicht versteckt. Ich warne vor dem Eintritt der Melonis in die EVP, die eine christdemokratische Partei ist. Das wurde verwässert, weil man den Zugang geebnet hat für alle, die nicht Sozialisten sind. Das ist kein christdemokratischer Gedanke! Ich war auch seit Jahren und vor anderen der Meinung, dass Orbáns Fidesz aus der EVP ausgeschlossen werden sollte. Das habe ich nicht betrieben, weil Orbán gemeinsam mit den Briten im Europäischen Rat gegen mich gestimmt hat oder weil er ganz Ungarn mit Anti-Juncker-Plakaten beklebt hat, sondern weil ich sah, dass die EU nicht mehr arbeiten könnte, wenn alle sich wie Orbán benehmen würden.

Die Christdemokratie hat die Gestaltwerdung Europas maßgeblich geprägt, beginnend mit Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi, bis zu ihrem Freund Helmut Kohl. Hat die Christdemokratie heute noch die Kraft und die Vision, Europa zu prägen?

Die Christdemokratie bleibt in Europa einflussreich, wenn sie es schafft, sich immer wieder zu ihren Grundsätzen zu bekennen. Das “C” ist kein neutraler Buchstabe. Es verpflichtet! Unabhängig von religiösen Betrachtungen gehört das christliche Menschenbild zum europäischen Wachsen und Werden. Ich bin ein überzeugter Christdemokrat, weil dieses “C” vieles in sich trägt, was man heute nicht mehr bemerkt: Die christliche Soziallehre muss ein Hinweisschild bleiben, um Demokratie überhaupt in eine richtige Richtung steuern zu können.

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