Kinder brauchen Glauben

Psychoanalytikerin Komisar: Kinder brauchen Glauben – Was verleiht Kindern psychische Gesundheit und Stabilität? Die Psychoanalytikerin Erica Komisar über Hilfen und Hürden in der Erziehung

Quelle
Heile Familien: Ein Hort der Hoffnung | Die Tagespost (die-tagespost.de)
Die bittere weltweite Ernte der Ächtung der Mutterschaft – erziehungstrends
Heilige Familie

20.01.2024

Cornelia Kaminski

Die Amerikanerin Erica Komisar ist klinische Sozialarbeiterin, Psychoanalytikerin, Elterncoach und Buchautorin. Seit über 30 Jahren hilft sie in ihrer Praxis in New York Menschen aus Depressionen, Angstzuständen, Essstörungen und anderen Zwangsstörungen. Als psychologische Beraterin leitet sie außerdem Workshops zu den Themen Elternschaft und Beruf/Leben in Kliniken, Schulen, Unternehmen und Kinderbetreuungseinrichtungen. Komisar schreibt regelmäßig für das “Wall Street Journal”, die “Washington Post”, die “New York Daily News” und andere Medien. Im November trat die Psychoanalytikerin auf der von dem weltbekannten Kanadier Jordan Peterson initiierten “Alliance for Responsible Citizenship” in London auf. Ihr Vortrag “Children need a childhood” ist auf Youtube unter @arc_conference abrufbar.

Frau Komisar, es bestand einmal Konsens darüber, dass Familien, in denen gesunde Kinder heranwachsen, der Garant für die Zukunft der Gesellschaft sind. Heute dominiert die Ansicht, dass Kinder ebenso gut in Horten und Kindertagesstätten heranwachsen können. Liegen wir damit richtig?

Frühkindliche Fremdbetreuung ist eine Forderung der Wirtschaft. Allerdings halte ich es für falsch, dass Wirtschaftsleute zu solchen Fragen Stellung nehmen, von denen sie eigentlich keine Ahnung haben. Die Wahrheit ist: Für die Wirtschaft ist es vielleicht gut, wenn beide Elternteile arbeiten, aber weder für die mentale Gesundheit der Kinder noch die ihrer primären Bezugspersonen, also in aller Regel ihre Mütter. Fremdbetreute Kinder entwickeln sich weder neurologisch noch emotional besser. Von Freud stammt die Aussage, wir brauchen Liebe und Arbeit. Wir brauchen eine Familie und eine Beschäftigung, um psychisch gesund zu bleiben. Liebe kam aber immer zuerst. Das haben wir jetzt umgekehrt: Wir brauchen Arbeit, Arbeit, Arbeit, und ein kleines bisschen Liebe, wenn wir gerade mal ein paar Stunden Zeit haben. Damit haben wir aber im Grunde genommen die Balance, die sich in tausenden Jahren menschlicher Entwicklung gebildet hat, aus dem Gleichgewicht gebracht.

Frauen sollten also nicht berufstätig sein?

Ich würde sagen, wir können im Leben alles tun – aber wir müssen nicht alles gleichzeitig tun. Im Leben einer jeden Frau gibt es eine Zeit für alles: Auch eine Zeit, berufstätig zu sein, vielleicht ist das auch ihr Lebensmittelpunkt. Aber wenn eine Frau Kinder hat, kann die Berufstätigkeit nicht ihr Lebensmittelpunkt sein, und wenn sie im Beruf alles gibt, kann sie ihren Kindern nicht mehr alles geben. Man kann ein wenig außer Haus arbeiten, um den Anschluss nicht zu verlieren und versuchen, beides miteinander zu verbinden, aber wenn die Berufstätigkeit die Priorität ist, wenn man Energie und Ehrgeiz in den Job steckt, kann man nicht gleichzeitig mit ganzem Herzen seine Kinder umsorgen und daraus Selbstwertgefühl und Lebensfreude beziehen. Dann bezieht man dies ja schon aus seinem Job. Kinder brauchen aber unsere ganze Zuwendung und Hingabe. Wenn sie älter werden, können wir unsere Energie und unseren Ehrgeiz wieder anderen Projekten zuwenden.

Bedeutet das nicht, auf eine Karriere zu verzichten?

Für mein erstes Buch, “Being there” (Da Sein) habe ich viele Frauen befragt, die ihre Karriere erst gestartet haben, als sie um die vierzig waren. Eine Kongressabgeordnete – Nita Lowey – begann ihre politische Karriere, als sie über vierzig war, hat vorher ihre drei Kinder großgezogen und gesagt, das war einfach wunderbar. Sie war über vierzig Jahre Abgeordnete im Repräsentantenhaus. Wenn wir auf einen Zug nicht aufspringen können, heißt das nicht, dass wir nie Karriere machen können. Wer das behauptet, tischt Frauen ein Märchen auf, das sie verängstigt und dazu bringt, schon früh eine lineare Karriere anzustreben. Was wir den jungen Mädchen nicht sagen, ist, dass Karrieren eben nicht unbedingt linear verlaufen. Mach Karriere, fang an, und dann mach eine Pause. Kehre zu deinen beruflichen Plänen später zurück. Mach nur einen Teilzeitjob, während du Kinder großziehst – aber wisse, dass Karrieren nicht linear verlaufen. Für Männer sind Karrieren linear, aber Frauen sind wunderbar, sie sollten nicht versuchen, wie Männer zu sein.

Von Frauen wird aber beides erwartet: sie sollen selbst beruflich erfolgreich sein, andererseits aber auch erfolgreiche Kinder erziehen….

Ja, aber was bedeutet das? Eine “erfolgreiche” Erziehung mündet in psychisch gesunden Kindern, die in der Gesellschaft zurechtkommen. Aber allzu oft versteht man heute unter Erfolg den beruflichen, akademischen Erfolg. Wenn wir den Menschen jedoch ganzheitlich betrachten und ihn von seinem Ende her betrachten, was bedeutet es dann, ein erfolgreiches Leben geführt zu haben? Was, wenn alles, was man vorzuweisen hat, eine großartige Karriere ist, man sich aber von seinen Kindern entfremdet hat, weil man sie vernachlässigt hat? Wir müssen neu darüber nachdenken, was Erfolg bedeutet. Wir haben vergessen, dass Erfolg Liebe bedeutet, geglückte Beziehung und bedeutsame Arbeit. Aber diese bedeutsame Arbeit sollte nie vor der Liebe kommen. Wenn man nicht heiratet, ist das in Ordnung. Aber man hat eine Familie, man hat Geschwister und eine erweiterte Familie. Man liebt seine Eltern. Liebe muss also immer zuerst kommen, denn Beziehungen sind der Schlüssel zum menschlichen Glück. Das wissen wir aufgrund all der Langzeitstudien über Glück. Und das ist eine wichtige Lehre, die wir weitergeben müssen.

Wenn sich der Erfolg einer Erziehung darin zeigt, dass die Kinder psychisch gesund und stabil sind – was sind die Faktoren, auf die es dabei ankommt?

Die Welt kleiner Kinder besteht aus Fantasie und Wirklichkeit. Sie brauchen beides, sie brauchen die Fantasiewelt und das magische Denken, um beispielsweise mit Verlust und Trauer umgehen zu können. Darum ist es so wichtig, ihnen diese magische Gedankenwelt auch zu erhalten. Jeder, der religiös ist, hat sich diese “magische“ Gedankenwelt in Teilen erhalten, könnte man sagen. Ich selbst bin Jüdin, und würde mich als religiös bezeichnen. Die religiöse Bindung gibt uns Unterstützung und Halt in schweren Zeiten. Wenn wir das aufgeben, dann ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass wir auf lange Sicht psychisch nicht gesund bleiben. Studien zeigen, dass Kinder, die mit einem Grundstock an Glauben aufgezogen werden, die an Gottesdiensten teilnehmen, langfristig psychisch stabiler bleiben als diejenigen, die mit Nihilismus aufwachsen.

Die religiöse Bindung gibt uns Unterstützung und Halt in schweren Zeiten. Wenn wir das aufgeben, dann ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass wir auf lange Sicht psychisch nicht gesund bleiben. Studien zeigen, dass Kinder, die mit einem Grundstock an Glauben aufgezogen werden, die an Gottesdiensten teilnehmen, langfristig psychisch stabiler bleiben als diejenigen, die mit Nihilismus aufwachsen.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Der Glaube an Gott ist für Kinder von Vorteil. Er gibt ihnen Hoffnung. Kinder können, wenn ein nahestehender Mensch stirbt, mit dem Gefühl des dauerhaften Verlusts nicht umgehen. Sie müssen glauben können, dass sie ihren geliebten Menschen einmal wiedersehen werden. Wenn man ihnen Glauben vermittelt, vermittelt man ihnen Gemeinschaft, und diese Gemeinschaft von Menschen, die ein gemeinsames Wertesystem verbindet, ist entscheidend. Wenn also der Opa stirbt, und das Kind fragt, wo Opa hingegangen ist, und man sagt ihm dann: “Wir glauben nicht an Gott, wir glauben nicht an den Himmel, er wird beerdigt, und dann wird er zu Staub”, dann bricht dieses Kind innerlich zusammen. Es ist uns heute nicht mehr klar, was der Verlust eines Glaubenssystems für ein Kind bedeutet. Religion, der Glaube an Gott, das gibt ihnen ein Gespür dafür, dass jemand aufpasst, der ihnen hilft, der sie unterstützt in harten Zeiten. Es gibt ihnen ein Gespür dafür, dass es Hoffnung über den Tod hinaus gibt. Wir werden nicht einfach Staub. Es gibt die Hoffnung, dass wir unsere geliebten Menschen wiedersehen.

Was macht man dann als atheistische Eltern?

Selbst wenn man nicht an Gott glaubt, sollte man seine Kinder manchmal belügen: Diese Lüge wird vielleicht nicht das ganze Leben lang halten, weil man sie nicht glaubhaft vermitteln konnte, aber sie gibt den Kindern kurzfristig die Antwort, die sie hören müssen. Wenn man ihnen sagt, dein Opa wird jetzt Staub, das war´s, dann produziert dies Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und möglicherweise auch Depressionen. Kinder brauchen irgendeine Erzählung, die sie trägt, und diese Erzählung kann nicht Nichts sein. Übrigens erzählen schließlich dieselben Eltern ihren Kindern auch, dass der Weihnachtsmann die Geschenke auf einem Rentierschlitten bringt. Hinzu kommt außerdem: Familien, die zusammen beten, bleiben zusammen, denn die Eltern geben ihren Kindern ein tragendes Wertefundament mit auf den Weg. Ohne den Glauben an Gott ist das vielleicht auch möglich, aber es stößt an Grenzen. In dem Moment, wo jemand stirbt, ist diese Grenze erreicht. Humanisten können auch Wertesysteme vermitteln, die goldene Regel etwa, aber wenn ein Kind nach dem Tod fragt, haben sie keine Antwort. Und das ist keine gute Antwort.

In Deutschland sind 2022 die Selbsttötungszahlen um fast 10 Prozent gestiegen. Was können Eltern und Erzieher tun, um Kinder und Jugendliche überhaupt so zu begleiten, dass sie den Herausforderungen des Lebens gewachsen sind? Welche Warnsignale gibt es?

Eines der wichtigsten Warnsignale ist die soziale Isolation. Wenn Kinder sich aus ihrem sozialen Umfeld zurückziehen, wenn Stimmungsschwankungen auftreten, sind das Anzeichen, dass etwas schiefläuft. Auch plötzlich nachlassende schulische Leistungen sind ein Warnzeichen, oder eine veränderte Persönlichkeit. Manchmal ist der Tod eines nahen Angehörigen die Ursache, oder eines Freundes. Vor allem aber stellt der Drogenkonsum einen erhöhten Risikofaktor dar, insbesondere Marihuana und andere psychedelische Drogen. Das Marihuana, das heute konsumiert wird, hat einen deutlich höheren Anteil am rauscherzeugenden Stoff THC als früher.

Cannabisprodukte wie Marihuana sind ab April 2024 in Deutschland frei zu kaufen und zu konsumieren…

Das ist absolut verrückt. In den USA kämpfen wir mit allen Mitteln dagegen. Marihuana ist für Jugendliche ein Killer. Diese Droge ist der Grund dafür, dass Jugendliche vor Züge und von Brücken springen und sich umbringen, weil sie psychotische Erlebnisse haben, die manchmal Tage, Wochen oder gar Monate oder Jahre andauern. Der Wirkstoff öffnet ein Portal im Gehirn, das den Zugang frei gibt zu traumatischen Erlebnissen und Verlusten, und dieser Zugang bleibt dann offen. Die psychotischen Erlebnisse können nicht mehr verdrängt werden, die Folgen sind Angst und Wahnzustände, Depersonalisation und Derealisation, Halluzinationen, Nachhallpsychosen, Panikattacken. Paranoide Vorstellungen können bis zu einer Woche anhalten. Der Konsum von Marihuana ist heute ein wesentlicher Faktor bei Selbsttötungen. 80 Prozent der psychischen Notfälle in den Notaufnahmen New Yorker Kliniken hängen mit Marihuana-Intoxikation zusammen. Die Selbsttötungsraten sind gestiegen, seit der THC-Anteil im Cannabis gestiegen ist. Für unsere Teenager ist das eine Katastrophe.

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