René Girard: Der Denker des Unausweichlichen

Der französische Religionsphilosoph René Girard wäre am 25. Dezember 100 Jahre alt geworden. Angesichts der menschlichen Neigung zu Neid, Hass und Gewalt setzte der bekennende Katholik auf Jesus Christus

Quelle
René Girard und der digitale Jahrmarkt der Eitelkeiten | Die Tagespost (die-tagespost.de)
René Girard – Wikipedia
Amazon.de : Rene Girard
Amazon.de : Peter Thiel

24.12.2023

Urs Buhlmann

René Girard ist also schuld. Denn ausgerechnet der französische Denker, Anthropologe und Philosoph – am Christtag des Jahres 1923 in der südfranzösischen Papst-Stadt Avignon geboren und 2015 im US-amerikanischen Stanford, wo er lehrte, gestorben – gilt als eine der Inspirationsquellen der Mächtigen des Silicon Valley. 

Dort, wo IT und Big Tech zu Hause sind, wo die größten Elektronik- und Computer-Unternehmen zu finden sind, gedeihen auch Theorien von der Weltherrschaft durch Informations-Technik. Die Manipulationsmöglichkeiten, die durch Apple, Intel, Ebay, WhatsApp, Yahoo und Konsorten über Produkte und Dienstleistungen gegeben sind, weil man de facto ohne Handy und Computer nicht mehr leben und arbeiten kann, lassen sich nicht leugnen.

Menschen begehren, sind manipulierbar und gewalttätig

Der Franko-Amerikaner Girard, der seit 1947 in Kalifornien lebte und forschte, hat unbestritten eine große Jüngerschaft unter den Computer-Nerds gefunden – nicht wenige von ihnen studierten schließlich unter ihm an der direkt in Silicon-Valley-Nähe liegenden Stanford University. Eine große Anhängerschaft unter ihnen zu gewinnen gelang ihm mit seiner Theorie vom “mimetischen Begehren”, die ausgerechnet auf gut biblischer Grundlage fußt. Denn mit großer Nüchternheit hält Girard – auch vor dem Hintergrund von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen – fest, dass menschliche Gesellschaften nur dann überleben können, wenn sie dazu in der Lage sind, den seit Urzeiten nachzuweisenden Drang, Konflikte gewaltsam zu lösen, einzudämmen.

Laut Girard sieht sich die Menschheit nämlich mit einem der Spezies anscheinend innewohnenden Grundübel konfrontiert: Wir begehren, was Andere begehren, nicht weil wir es tatsächlich haben wollen – sondern weil wir den Drang verspüren, die Wünsche Anderer nachzuahmen. Das beginnt ganz harmlos beim neuen Auto des Nachbarn, das sogleich Gefühle des Neides und des “Haben-Wollens” auslöst. Denn nicht nur will man haben, was der Andere hat: Man will ihn eigentlich darin noch übertreffen.

In seinem Hauptwerk “Das Heilige und die Gewalt” von 1972, sowie in weiteren Werken, wendet Girard seine These der Mimesis, die er sich von Sophokles, Euripides, Shakespeare und vielen anderen Schriftstellern abgeschaut hat, für die er aber auch etliche ethnologische Forschungen heranzog, universalistisch auf alle Bereiche von Kultur, Literatur und Religion an. Und beinahe überall kann er in der Tat das mimetische Nachahmen als die wahre Triebfeder zwischenmenschlicher Konflikte ausfindig machen.

Missbrauch der Mimesis-Theorie

Doch während Girard eben dieses mimetische Nachahmen helfen wollte zu überwinden, taten seine selbst ernannten Silicon-Valley-Jünger das genaue Gegenteil: Sie nutzen dessen Erkenntnisse über die Verführbarkeit des Menschen, um diese im Sinne eines neidgesteuerten Konsumismus kommerziell einzusetzen. Denn klar ist, dass beispielsweise der explosionsartige Erfolg von “Facebook” in den Gründerjahren schlicht darauf beruhte, dass alle Menschen eines gewissen Alters ein Konto bei dem sozialen Netzwerk hatten, so dass sich ausgeschlossen fühlen musste, wer dies nicht tat: Die Mimesis in Reinkultur – weswegen der Investor und Girard-Jünger Peter Thiel im Vorfeld nicht lange zögerte, dem Zuckerberg-Unternehmen finanzielle Starthilfe zu geben.

Doch angesichts des Ge- beziehungsweise Missbrauchs der Mimesis-Theorie Girards für Social-Media-Zwecke erhebt sich die Frage, wer letztlich die Handlungshoheit über die notwendige Eindämmung des Nachahmungstriebes hat und wie das geschehen soll. Für den Deutsch-Amerikaner Thiel – neben seiner Facebook-Investition Gründer von PayPal und Palantir sowie mehrfacher Milliardär -, der in Stanford als junger Philosophiestudent zu den Füßen René Girards gesessen hat, wird das wohl der freie Markt sein, der sich durchsetzen muss. Einer von Thiels Business-Ratschlägen lautet, bei einem neuen Produkt möglichst eine Monopol-Stellung anzustreben – staatliche Regulierung wird als störend angesehen. Denn Politik ist aus Thiels Perspektive “der Eingriff in das Leben eines Menschen ohne dessen Zustimmung”.

Thiel ist ein besonders prominenter Girard-Jünger, der dessen Ansatz weiterentwickeln will, entsprechende Forschungsarbeit unterstützt und von seinem Lehrer sagt: “Girard hat die Vernunft des Christentums neu gedacht.” Doch hat der französische Denker immer auch um den subversiven Charakter des Christentums gewusst – ihm war klar, dass die Hinwendung zu den Armen und Ausgestoßenen zentraler Bestandteil der christlichen Botschaft ist. Ob Peter Thiel, der evangelische Wurzeln hat und sich zu einem vagen Christentum bekennt, das auch so sehen kann, bleibt abzuwarten.

René Girard jedenfalls war ein hochgebildeter Mann, ursprünglich Literaturwissenschaftler, fest in katholischer Geistigkeit verankert und liebte die lateinische Messe – von seinen Adepten kann das so nicht gesagt werden. Wenn man Girard missverstehen will, ist das leicht möglich – vor allem, wenn man auf anderem weltanschaulichen Fundament steht.

Jesus, der finale Sündenbock

Die Rede vom allgegenwärtigen mimetischen Begehren, die zudem durch das Verhalten von Autokraten wie Putin und Trump gestützt wird, wird durch ein zweites Element wesentlich erweitert: der Zyklus von Gewalt und Gegengewalt. Dieser, den wir aktuell an so vielen Orten in der Welt am Werke sehen, kann laut Girard nur durchbrochen werden durch einen “Sündenbock-Mechanismus” (auch hier spürt man die biblische Grundierung). Die einander Nachahmenden, die sich in Spiralen von Gewaltsteigerung verlieren, werden nämlich zumeist nur voneinander ablassen, so Girard in seinem Werk “Der Sündenbock” (1982), wenn ein Sündenbock gefunden und gleichsam rituell geopfert wird.

Girard meint das ganz wörtlich, denn er hat Jesus vor Augen: Die Tötung oder jedenfalls Ausstoßung des zum Schuldigen Erklärten, der so zum gemeinsamen Objekt der Begierde erklärt wird, vereint die gegeneinander Wütenden wieder und lenkt deren Aufmerksamkeit auf einen letzten gemeinschaftlich erbrachten Gewaltausbruch gegen das Opfer, der das mimetische Begehren dann für eine bestimmte Zeit zur Ruhe kommen lässt. Sogleich nach der Tat wird das Opfer zum Heiligen erklärt.

Aus der Anthropologie hat Girard die Erkenntnis, dass der Ausgestoßene zugleich monströse (weil er Teil der Krise ist) wie auch wohltätige Züge hat (weil seine Opferung die Krise überwindet): Das Zwiespältige des archaisch Heiligen scheint auf. Dieses Sühneopfer macht Girard zum Gründungs- und Ausgangspunkt aller menschlichen Institutionen und Konventionen, es ist sein archimedischer Punkt. Aber – und darin liegt eine zutiefst pessimistische Pointe – es geht schon bald wieder los mit der Gewalt, weil letztlich die Einzigartigkeit des Kreuzesopfers Jesu nicht gesehen wird.

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Denn erst das Christentum, so Girard in seinem Spätwerk “Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums” (1999), habe diesen zugrunde liegenden Gewalt-Mechanismus aufgedeckt und überwunden. Der Total-Verzicht des Gottes-Sohnes auf Gewalt, kombiniert mit dem jüdisch-christlichen Doppelgebot der Gottes- und Menschenliebe, würde es eigentlich ermöglichen, dass die Gewaltspirale zu einem Ende kommt. Denn Jesus hat bereits das Opfer gebracht, das alle Opfer beendet.

Doch Girard empfand mit zunehmender Verzweiflung, dass die Menschen diese Sicht nicht annehmen, gerade diese eine notwendige Imitation wird von ihnen eben nicht geleistet. Die Geschichte scheint ihm recht zu geben: Am Ende seines Lebens war Girard pessimistischer denn je. Er hielt es für möglich, dass sich die Menschheit durch eigene Dummheit selbst auslöscht. Doch bleibt festzuhalten: Girard hat das zentrale Geheimnis des christlichen Glaubens, dass Einer sich hingibt für die Vielen, dass die Erlösung ein für allemal geschehen ist, richtig erkannt.

Girard träumte von einer vollständig christianisierten Welt

Der Innsbrucker Theologe Raymund Schwager, an dessen Festschrift zum 60. Geburtstag sich Girard mit dem Beitrag “Von Fluch und Segen der Sündenböcke” beteiligt hatte, hat Girards Fundamentalanthropologie theologisch eingesetzt und übersetzt. Für Schwager war die Heilsgeschichte ein Drama mit verschiedenen Akten und Akteuren, womit er nahe beim Denken des Franzosen war. 

Es geht darum, den Mann aus Avignon, der zum Amerikaner wurde, ernst zu nehmen, aber nicht absolut zu setzen. Peter Thiel hat recht, wenn er Girard als Denker der Vernünftigkeit des Christentums rühmt. Dieses ist aber ohne den Gedanken von der Gnade, die Gott frei austeilt, nicht zu verstehen und nicht zu leben. Thiel ist zuzustimmen, wenn er Girard einen der letzten universal gebildeten Gelehrten nannte. Aber die eine, die letzte Universaltheorie zur Erklärung der Welt hat auch er in seiner brutal-monumentalen Sicht auf den Menschen nicht zu liefern vermocht.

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