Keine Kriegsmüdigkeit in der Ukraine

Ein Universitätsprofessor an der Front: Ihor Zhaloba kämpft für eine bessere Ukraine

Quelle
Schewtschuk beklagt Zermürbungstaktik in der Ukraine | Die Tagespost (die-tagespost.de)

21.12.2023

Stephan Baier

Eigentlich ist der ukrainische Historiker Ihor Zhaloba Professor für Internationale Beziehungen und Völkerrecht an der “Borys-Hryntschenko-Universität” in Kiew. Doch seit dem russischen Überfall auf sein Heimatland trägt der 59-Jährige Uniform und kämpft für die Freiheit seines Volkes. Er wusste, dass es zum Krieg kommen würde, weil er die Geschichte der Sowjetunion gründlich studiert hatte, erzählt er beim Gespräch mit der “Tagespost” in Wien. “Es war für mich nicht nur klar, dass es zu einem Krieg kommt, sondern auch, was ich in diesem Krieg tun werde.“

Am Vortag der Invasion sagte er seinen Studenten in der Vorlesung, morgen oder spätestens übermorgen werde es zum Krieg kommen. Seine beiden Töchter Iryna und Sophia wollte er in die westukrainische Metropole Czernowitz fahren, um sie bei den Großmüttern in Sicherheit zu bringen – und um selbst an die Front zu gehen. Seine Frau musste als Ärztin ohnedies in Kiew bleiben. Doch als der Krieg tatsächlich begann, waren die Straßen von Kiew Richtung Westen völlig verstopft – und die Familie sah sich gezwungen, umzukehren.

Am nächsten Tag meldete sich Ihor Zhaloba an einem Sammelpunkt des Militärs in Kiew. “Seit 25. Februar 2022 kämpfe ich nun mit meinen Kameraden.” Sich freiwillig zu melden, war für ihn auch eine moralische Frage: “So lange habe ich meinen Studenten gesagt, was in entscheidenden Momenten zu tun ist. Soll ich mich dann in einem solchen Augenblick nach Österreich absetzen?”, lacht er. Er kämpfe ja nicht für Präsident Selenskyj, sondern für sein Land, sagt Zhaloba, der auch Co-Vorsitzender der Österreichisch-Ukrainischen Historikerkommission und Präsident der Paneuropa-Union Ukraine ist.

Es geht um einen Kampf der Zivilisationen

Seine Kompanie wurde in den ersten Kriegstagen zur Verteidigung der Hauptstadt eingesetzt, weil Russland zunächst hier die beiden Flughäfen und andere Landeplätze für Helikopter erobern wollte. Dass er nie schwer verwundet wurde, kann sich Zhaloba rational nicht erklären: “Ist das Glück, Schicksal oder Gottes Schutz?”

Zunächst musste er eingeschult werden, denn seit seinem Militärdienst in der Sowjetunion im Jahr 1985 hatte er kein Maschinengewehr mehr in der Hand. Heute, nach 22 Kriegs-Monaten, ist der Professor der zweitbeste Schütze in seiner Einheit, die bei Bachmut schwere Verluste erlitt. Seit März wirkt er in einer Drohnen-Einheit, die im Kampfgebiet Aufklärung betreibt. “Dass wir ohne Flugzeuge und ausreichende Technik so viel geschafft haben, darauf bin ich stolz”, sagt er auf kritische Fragen zur ukrainischen Gegenoffensive. “Keine Armee hätte unter solchen Umständen mehr erreicht, davon bin ich überzeugt.”

Schwer war für ihn, die verlassenen, verwüsteten und zerstörten Häuser vorzufinden. “Da versteht man, wie absurd dieser Krieg ist. Ich kenne die ideologischen Überlegungen Putins und auch die Mentalität der Russen, die immer etwas zu erobern versuchen. Aber hier kann ich keinen Sinn erkennen”, sagt der Professor traurig. In russischen Videos von der Front werde Neid als ein Motiv deutlich. Da seien russische Frontsoldaten zu sehen, die sich wundern: “Warum leben die Ukrainer so gut? Wer hat ihnen das erlaubt?”

Keine Bereitschaft zur Kapitulation

Die Frage, wie lange das ukrainische Volk die andauernden Angriffe auf die Zivilbevölkerung psychisch durchhalten könne, beantwortet Zhaloba als Historiker: “Franzosen und Engländer haben 100 Jahre gekämpft”, und auch der Dreißigjährige Krieg sei auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen worden. In der Ukraine gebe es keinerlei Bereitschaft zur Kapitulation, das zeigten alle Meinungsumfragen. “Wir wissen aus unserer Geschichte, was eine Eroberung durch Russland bedeutet. 1920 haben wir unseren Unabhängigkeitskrieg verloren, darauf folgten drei Hungersnöte.”

Zhalobas Botschaft an Europa lautet: “Es geht nicht bloß um einen Krieg Russlands gegen die Ukraine, sondern um einen Krieg zwischen West und Ost, um einen Kampf der Zivilisationen. Wenn wir verlieren, was gewinnt dann der Westen?” Wladimir Putin betreibe nach außen eine Expansionspolitik, und im Inneren festige er sein autoritäres Regime. Dem Westen wirft Zhaloba “Wohlstands-Pazifismus” vor. “Die Menschen im Westen müssen begreifen, dass sie mit der Unterstützung der Ukraine sich selbst helfen. Wir haben den Willen, zu kämpfen und unser Land besser zu machen. Es ist uns bewusst, dass es unsere letzte Chance ist.”

An einen Kompromissfrieden mit dem System Putin glaubt der Wissenschaftler nicht: Putin sei 2014 nicht mit der Krim und dem Donbass zufrieden gewesen; er wäre auch jetzt mit den eroberten Gebieten nicht zufrieden. Aber Zhaloba meint: “Putin braucht jetzt auch eine Pause. Wahrscheinlich noch mehr als wir. Doch wie lange würde ein Waffenstillstand halten? Wir müssten uns sofort auf einen neuen Angriff Russlands vorbereiten.” Putins Russland habe ausreichend Zeit. “Eine Kriegsmüdigkeit gibt es nur im Westen, aber in Russland konsolidiert sich die Gesellschaft durch Gefühle der Rache an den Ukrainern.”

Historisch betrachtet ist alles denkbar

Die Ukrainer müssten nicht nur die russischen Angriffe überstehen, sondern auch alle Probleme überwinden, die sie noch aus Sowjet-Zeiten geerbt hätten. “Wenn wir das schaffen, dann gewinnen alle. Wir werden für dieses Land kämpfen und es gleichzeitig verbessern.” Die weit verbreitete These, Russland könne nicht besiegt werden, entlarvt Ihor Zhaloba mit Verweis auf den Krimkrieg 1853 und den russisch-japanischen Krieg von 1904/05 als Mythos. “Historisch betrachtet ist alles denkbar!”

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