Krieg im Nahen Osten: Es geht um mehr als um Israel
Der Westen hat den Ernst der Lage noch nicht begriffen. Ein Gastkommentar aus dem Heiligen Land
Quelle
Krieg in Nahost: Papst Franziskus telefoniert mit Biden | Die Tagespost (die-tagespost.de)
Aktualisiert am 23.10.2023, 14:16 Uhr
Godel Rosenberg
Israels derzeit erfolgreichster Autor, Yuval Noah Harari, Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem, hat an die Regierung Netanjahu die Bitte geäußert: Sagt uns sofort, was sind die langfristigen Ziele dieses Krieges, damit wir wissen, was wir riskieren und wofür wir vielleicht unser Leben opfern. Israel leckt seine Wunden, für die es mehr als zwei Wochen nach den unvorstellbaren Ereignissen vom 7. Oktober keine Medizin hat. “Gemeinsam werden wir siegen” und “wir werden die Hamas vernichten” sind durchaus für Israel notwendige, psychologische Parolen.
Netanjahu wird Harari nicht antworten. Weil er keine Antwort hat. Niemand hat darauf eine Antwort, weil es eine Rechnung mit zu viel Unbekannten ist. Die Stichworte, hinten denen ein großes Fragezeichen steht, lauten: die Hisbollah im Libanon, zwei Millionen palästinensische Araber in Judäa und Samaria, besser bekannt als Westbank, Iran und seine verlängerten Terrorarme in der gesamten Region und nicht zu vergessen die Türkei. Eines ist aber sicher: Es geht um mehr als um Israel, es geht um viel mehr.
Der kalkulierte Blutrausch
Denken wir den worst case: Israel existiert nicht mehr, in Jerusalem regieren – Gott bewahre – die Hamas, der Islamische Jihad und die Hisbollah. Angenommen sie regieren vom Fluss (Jordan) bis zum (Mittel-)Meer, wie es von allen arabisch-palästinensischen Organisationen propagiert wird. Ist dann alles gut, herrscht dann Friede, Freude, Eierkuchen im Nahen Osten? Natürlich nicht.
2.900 Terroristen sind an 29 Stellen am 7. Oktober frühmorgens von Gaza in den Süden Israels eingefallen. Sie wussten, dass der Überfall ein Todeskommando ist. Es bestand für sie kein Zweifel, dass die allermeisten die nächsten 24 Stunden nicht überleben würden. Es ging ihnen nur um den Blutrausch, töten um des Tötens Willen. So wurde es ihnen von Kindesbeinen an eingetrichtert. Obendrauf gab es noch die enthemmende Droge Captagon, die bei vielen getöteten Terroristen gefunden wurde. Es war keine politische Aktion, es war kein Handeln nach dem altbekannten Motto Clausewitz‘, dass Krieg lediglich die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei: Es war ein Blutrausch, von dem ein Funken überspringen sollte.
Sie hofften darauf, dass ihre Brüder im Terror-Geiste im Libanon und in der Westbank aufstehen und die Grenzen zu Israel stürmen würden, so wie es ihnen selbst um 6.30 Uhr früh erfolgreich gelungen ist. Dem war aber nicht so. Zumindest nicht bis heute, dem 16. Kriegstag in Nahost. Es fliegen ein paar Raketen an der Grenze zum Libanon, und in der Westbank werfen Jugendliche Steine, stiften Unruhe. Vereinzelt gibt es Tote.
Es gibt kein “Free Palestine”
Beunruhigend sind die weltweite Medienfront und die Straßen-Demos in den europäischen Ballungsgebieten bis nach Australien. Sie wollen uns glauben machen, dass es um “Free Palestine” geht. Alles Unsinn: Schon allein deshalb, weil es nie ein “Palestine” als Staat gegeben hat, keine einzige Minute, der von irgendeiner arabischen Regierung geführt wurde. Palästina ist seit 2000 Jahren eine geographische Bezeichnung für ein Gebiet, in dem Juden, Christen und Muslime – letztere erst seit dem 7. Jahrhundert – mal friedlich miteinander, mal kriegerisch gegeneinander gelebt haben. Wenn es also nie einen Staat “Palästina” gegeben hat, kann er auch nicht befreit werden. Im November 1947 hatten Araber dieser Region Gelegenheit dem Teilungsplan der Vereinten Nationen zuzustimmen. Sie lehnten ihn ab, wählten den Weg der Gewalt gegen Israel – bis zum heutigen Tag.
Hinter “Free Palestine” steckt die “Auslöschung und Vernichtung Israels”. So steht es in der Hamas-Charta, seit 1988. Dahinter steht das UN-Mitglied, die Islamische Republik Iran, eines der größten Öl-Förderländer, viermal so groß wie Deutschland mit fast 90 Millionen Einwohnern. Deren Mullah-Führung wiederholt den Charta-Inhalt regelmäßig öffentlich. Straßen-Demos gegen die Mullahs gibt es in der westlichen Welt sehr selten. Klammheimlich hoffen immer mehr, dass endlich geschieht, was der Iran und seine Proxys seit Langem propagieren.
Multikulti ist gescheitert
Eine iranische Christin, die vor den Mullahs im Iran geflüchtet ist, geht im deutschsprachigen Internet derzeit viral: Es ist eine Einzelstimme, aber den Inhalt kennt man von vielen Aussagen der iranischen Opposition im Exil in den vergangenen Jahren. Es sind Worte, denen die westliche Welt keine oder zumindest viel zu wenig Taten folgen ließen: “Schauen Sie sich bitte den Koran und die Geschichte des Islam an. Ich habe als Iranerin Zugang zu Moscheen, und höre dort immer wieder erschreckende Dinge, die definitiv nicht grundgesetzkonform sind. Dort wird gepredigt, dass die Welt nur Allah und nur seinen Gläubigen gehört. Dieses Recht sollen alle Muslime einfordern, auch mit Gewalt. Das ist deren einziger Antrieb im Leben. Dies verfolgen sie geradezu fanatisch – wie man ja überall gut sehen kann”, so die Iranerin.
All dieses geschilderte “Gedankengut” sei mitfinanziert von einer Gutmenschen-Politik, die glaubt und hofft, dass Millionen von muslimischen Zuwanderern sich an das anpassen, was sich Europa in den letzten 250 Jahren der Aufklärung, Demokratisierung, Industrialisierung, Digitalisierung, Globalisierung aufgebaut hat. Wer die Bilder der Demonstrationen nach dem 7. Oktober in London, Paris, Berlin und Brüssel gesehen hat, dem müssen in der Tat mehr als berechtigte Zweifel kommen, dass die viel beschworene Integration gelingen kann.
Die Wut in Israel steigt täglich
Israel hat mobil gemacht, eine halbe Million Bürger sind zu den Waffen gerufen. Über 200.000 Israelis allein im Norden haben ihre Wohnungen und Häuser verlassen, die Wirtschaft steht bis auf die Produktion lebensnotwendiger Güter still, es herrscht vielerorts eine gespenstische Ruhe. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Die israelische Verteidigungsarmee (IDF) steht vor dem Einmarsch in den Gazastreifen. Die Vernichtung der Hamas ist das erklärte Ziel. Es geht nicht um Rache. Israels Oberbefehlshaber Hertzi Halevi hat ausgedrückt, was Millionen fühlen und denken: “Wir haben eine Wut im Bauch, aber wir werden mit dem Kopf entscheiden. Wir handeln nicht wie die andere Seite. Es wird Wochen, vielleicht Monate dauern, aber wir werden siegen”.
Die unbändige Wut im Bauch wird von israelischen Pathologen und Forensikern, die die ermordeten Leichen identifizieren, täglich geschürt. Für viele mag Israels “National Center of Forensic Medicine (Abu Kabir)” in Tel Aviv keine zuverlässige Quelle sein. Auszüge aus den Berichten der Mediziner, die eine seelisch-belastende Arbeit verrichten, sollen auch hier dokumentiert werden: “Der Geruch von verrotteten menschlichen Überresten, von denen viele wegen der Brutalität der Täter überhaupt nicht mehr erkennbar sind, war schwer zu ertragen”, heißt es in dem Bericht von Dr. Chen Kugel, dem Leiter des Instituts, der 31 Berufsjahre hinter sich hat. Er hat viel in seinem Leben erlebt, aber die Menge der Grausamkeiten sei schrecklich. Am stärksten verstörend seien die Massen an verkohltem Fleisch, die auf den ersten Blick nicht als Menschen zugehörend auszuweisen waren. “Wir haben zwei Wirbelsäulen gefunden, vermutlich Vater und Kind, die aneinandergebunden waren, bevor sie angezündet wurden”.
Das unvorstellbare Grauen wird aufgearbeitet
Viele Opfer haben Schusswunden an den Händen, weil sie sich die zehn Finger vors Gesicht gehalten haben, bevor sie erschossen wurden. Viele seien in ihren Häusern bei lebendigem Leib verbrannt. “Wir wissen das, weil wir Rauchspuren in den Kehlen gefunden haben. Das beweist, dass sie noch geatmet haben, bevor sie Opfer der Flammen wurden”. Kugel erklärt, dass das Alter der Ermordeten von drei- bis 80- und 90-Jährigen reiche.
200 Fachleute arbeiten derzeit in Tel Aviv an der Identifizierung der sterblichen Überreste. Das kann noch Wochen dauern. Sie lagern in Dutzenden von Kühlcontainern. Die traurige Nachricht für viele Angehörige: Sie werden nie erfahren, wo ihre Väter, Mütter, Kinder geblieben sind, weil fast 350 sterbliche Überreste nicht zu identifizieren sind, sagen Fachleute. Forensische Pathologen, Anthropologen, Radiologen aus den USA, der Schweiz, aus Neuseeland und anderen Ländern unterstützen die Israelis in ihrer grausamen Arbeit am Institut in Tel Aviv.
Medienexperten werten Terroristen-Videos aus
Nurit Bublil, eine DNA-Expertin, berichtet: “Das war kein Kampf, kein militärischer Konflikt oder ein Krieg zwischen Staaten. Hamas hat sich am Morden erfreut, sie zelebrierten das Töten, das Verbrennen der Häuser mit Zivilisten darin, die ihnen nichts getan haben. Sie haben sich 18-jährige Mädchen gegriffen, von einer Party, von einem Musik-Festival und haben sie nach Gaza verschleppt. Wer weiß, was sie ihnen alles angetan haben, diese Monster. Das sind keine Menschen. Sie hatten kein Mitleid mit Niemandem. Kein Lebewesen, das sie antrafen, blieb am Leben. Niemand.”
Inzwischen haben Israels Medienexperten aus dutzenden von Kameras, die die Terroristen am Körper trugen, rund eine Stunde Live-Videos des Grauens zusammengeschnitten und der internationalen Presse vorgeführt. Das Unbeschreibliche bestätigt die Berichte der forensischen Pathologen. Bei der Vorführung durfte niemand filmen. Das Video des Grauens kann mit Rücksicht auch auf jugendliche Zuschauer nicht öffentlich gemacht werden. Die internationale Presse kann und soll schreiben, was sie im Cinema City in Glilot, nördlich von Tel Aviv gesehen haben, heißt es in der Einladung.
Die liberal-demokratische Welt wird in Israel verteidigt
Die IDF haben am 7. Oktober geschlafen. Inzwischen sind sie aufgewacht. Der bevorstehende Einmarsch der IDF in Gaza wird viele Opfer kosten. Die Hamas muss ausradiert werden, verkünden Politik und Militär. Es wird ein schwieriger Kampf. Vielleicht der Schwierigste in der 75-jährigen Geschichte Israels. Niemand weiß, wie lange es dauern wird. Der Kampf in den Medien und auf den TV-Bildschirmen läuft parallel und wird mitentscheidend dafür sein, wer letztendlich gewinnen wird.
Jetzt muss ein klares Signal an die Mullahs im Iran und an ihre Unterstützer gesendet werden: Israel verteidigt sein Land und die liberal-demokratische Welt mit ihren Werten, die in der jüdischen Thora, dem Alten und Neuen Testament festgeschrieben sind. Sie gelten für die gesamte westliche Welt, für alle Mitglieder, die die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet haben. Nur ein geringer Teil hält sich daran.
Auch deshalb: Es geht um viel mehr als nur um Israel.
Zur Person
Der Autor ist Journalist und war von 1977 bis 1988 Pressesprecher der CSU sowie von Franz Josef Strauß.
Ab 1990 war er Repräsentant von Daimler Chrysler in Israel und danach von 2009 bis 2018 Auslandsrepräsentant Bayerns in Tel Aviv.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.
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