Hüter des Kerns
Freiwerden zum Wesentlichen: Romano Guardinis „Der Engel des Menschen“ – Guardinis (1885-1968) Predigten waren unter den katholischen Bildungsbürgern der bayerischen Landeshauptstadt “kultig
Quelle
Romano Guardini: Der neue Anfang als Grundmotiv (herder.de)
Zwei Suchende auf dem Weg zur Seligsprechung – katholisch.de
Romano Guardini
Clemens X. – Wikipedia
01.09.2023
Am 2. Oktober feiert die Kirche das Schutzengelfest. So hatte es Papst Clemens X. 1670 bestimmt. Als Romano Guardini im Jahr 1955 in der Münchener Universitätskirche St. Ludwig dem Kalender folgend über die Schutzengel predigte, ging er davon aus, dass seine überwiegend männlichen Hörer keine persönliche Beziehung zum Glauben an die Schutzengel mehr besaßen. Das späte 19. Jahrhundert hatte deutsche Schlafzimmer und Wohnstuben mit einer wahren Invasion von Schutzengelbildern heimgesucht, sodass nun nach zwei Weltkriegen ein wenig Engel-Askese vernünftig schien. Andererseits: Hatten nicht viele Menschen in den Lagern und Schützengräben die tröstende oder sogar rettende Gegenwart der Himmlischen erfahren?
Guardinis (1885-1968) Predigten waren unter den katholischen Bildungsbürgern der bayerischen Landeshauptstadt “kultig”. Der Zeitpunkt am späten Sonntagvormittag um elf Uhr kam zudem den Langschläfern entgegen. Der siebzigjährige, noch immer jugendbewegte Priester sprach vor einer sehr großen Gemeinde von Gebildeten. Sie kannten Rainer Maria Rilkes Engeldichtung der “Duineser Elegien” und Dantes Jenseitsreise zu den Engeln des Paradieses. Über beide Dichter hatte Guardini Vorlesungen gehalten und Bücher veröffentlicht. Aber die Engel der Dichter besaßen für ihn nur einen ästhetischen Charakter.
Der Mensch ist ein seltsames Wesen
Von der religiösen Volkskultur hielt Guardini nichts: Kitsch, Sentimentalität und der Unfug der Weihnachtsindustrie hätten den Blick auf die wahren Schutzengel verstellt. “An alledem tragen Verkündigung und Deutung des Glaubens selbst viel Schuld, denn welche Gestalt aus der heiligen Welt ist darin wohl tiefer verdorben worden als die Engel?”
Guardini erinnerte an die bedeutsame Rolle der Engel im Leben Jesu. Hans Urs von Balthasar ist ihm hier mit Entschiedenheit gefolgt: “Aber zur umgreifenden Welt Christi gehören auch die Engel, die Guardini nicht nur historisch-poetisch, sondern sehr ernsthaft theologisch bedacht hat, um ihnen den ursprünglichen, großen, unentbehrlichen Sinn zurückzuerstatten.” Der Schutzengelpsalm (PS 91) spricht von den himmlischen Wegbegleitern und das Jesuswort (Matthäus 18, 9f) von den Engeln der Kinder, die allezeit das Antlitz des Vaters sehen. Für Guardini gehören Engel zur Vorsehung Gottes. Der Schlüssel zur Frage nach der Bedeutung der Engel ist daher die Identitätsfrage: “Der Mensch ist ein seltsames Wesen; um so schwerer zu verstehen, je länger man sich um ihn bemüht, je länger man selbst Mensch ist. In ihm sind hohe Eigenschaften und große Kräfte, aber auch viel Armseliges, Scheinhaftes und Böses.”
Der Schutzengel oder Engel des Menschen, wie ihn Guardini nennt, ist der Hüter dieses Wesenskernes, ein Freund, der sein Eigenes und Eigentliches schützt. “Das ist sein Engel. Er weiß besser um uns, als wir selbst. Er weiß um unser Gott-Ebenbild”, und er schützt es in den “Verhüllungen, Wirrnissen, Gewaltsamkeiten des Lebens”. Romano Guardinis Engel ist wie er selbst ein begnadeter Erzieher, ohne Angst vor Berührung, Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit. Beide sprechen Klartext aus dem Geist der Freundschaft. “Liebe Freunde” lautet die Anrede in seiner Predigt zum Schutzengeltag. Schutzengel sind Freunde. Sie schützten ihre Menschen vor Gefahren. “Er tut es in der Stimme des Gewissens, in den Warnungen des Herzens, im Wort der Freunde, in den Folgen des Tuns, im Sinn der Geschehnisse – in alledem spricht seine Stimme mit.”
Zahllose Vorträge, Predigten, Vorlesungen und Seminare
Guardini war der “Schutzengel” jener katholischen Jugendbewegung, die in den Zwanziger Jahren dem Geist des Wandervogels eine liturgische Lebensform gab. “Quickborn” (“sprudelnder Quell”) nannte sich dieser Teil der Bündischen Jugend, der auf Burg Rothenfels ein spirituelles Zentrum besaß. Hier wirkte der junge Priester im Frühling einer liturgischen Erneuerung, die durchaus eine politische Dimension hatte und daher im Jahr 1939 verboten wurde. Liturgie war für Guardini Engeldienst, eine Befreiung und ein Freiwerden zum Wesentlichen als Lobpreis und Feier. Seine Vorträge “Vom Sinn der Kirche” (1921) werden von einem später berühmt gewordenen Jubelruf eröffnet: “Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen.” Er ist selten recht verstanden worden. Hier geht es nicht um religiösen Subjektivismus, um Kirchentagseuphorie oder synodale Pfade in Utopia, sondern um das Ganze der sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung, eben das Katholische: “So umspannt die Liturgie alles, was ist: Engel, Mensch und Ding.” Auch das legendäre Büchlein “Vom Geist der Liturgie” (1922), das später Joseph Ratzinger inspirieren sollte, nennt die sechsflügeligen Cherubim in der Vision des Propheten Ezechiel (1.4ff.) als lebendiges Bild der Liturgie: “Und das ist das Leben der höchsten Wesen, der Engel, dass sie ohne Zweck, wie der Geist sie treibt, in geheimnisvollem Sinn sich vor Gott bewegen, ein Spiel vor ihm sind und ein lebendiges Lied.”
Romano Guardini war ein äußerst produktiver Mensch. Als er die Münchener Schutzengelpredigt hielt, stand er am Beginn einer Zeit vielfältiger Auszeichnungen und Ehrungen. 1958 wurde er als Philosoph in den Ritterstand des Pour le Mérite berufen. Papst Paul VI. ernannte ihn zum Kardinal. Eine Ehre, die er im Gegensatz zu Hans Urs von Balthasar nicht annahm. Mit seinen zahllosen Vorträgen, Predigten, Vorlesungen und Seminaren schlug er zuweilen eine innere Leere in den Bann, ein Gefühl der Einsamkeit und Vereinzelung, wie es auch Søren Kierkegaard erfahren hatte.
Guardini hatte eine schwache Gesundheit. Neben zahlreichen psychosomatischen Leiden quälte ihn im Alter eine Trigeminusneuralgie. Immer wieder erlebte er schwere melancholische Schübe. Die Schwermut unterschied er von der Depression. In seinem Buch “Vom Sinn der Schwermut” (1928) heißt es: “Die Schwermut ist etwas zu Schmerzliches, und sie reicht zu tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab, als dass wir sie den Psychiatern überlassen dürfen.” Die Zuhörer und “lieben Freunde” in der Münchener Universitätskirche kannten zum großen Teil diese Schrift, und die wahren Freunde werden gespürt haben, dass Guardini auch von sich selbst sprach, als er in seiner Schutzengelpredigt über die Schwermut sprach:
“Und ist der Mensch, der in tausenderlei Beziehungen und Gemeinschaften lebt, immerfort redend, hörend, gebend, nehmend, ergreifend und ergriffen, gebrauchend und gebraucht – ist er nicht im Grunde allein, bis in die Einsamkeit des Sterbens?”
Der Mensch aber kann den Ruf auch überhören
In dieser letzten Einsamkeit, die keine noch so großmütige Freundschaft überwinden kann, zeigt sich der Schutzengel als Freund. Er gibt der Melancholie einen Sinn, indem er seinen Menschen aus der Einsamkeit in die Zweisamkeit führt. “Ob dadurch nicht die Stunden der Einsamkeit einen neuen Sinn gewinnen können? Das Dunkel der Schwermut? Die Wand des Nicht-Verstandenseins? Alles ganz ruhig, ohne Phantastereien und Überspanntheiten, einzig vertrauend auf Jesu Wort (von den Engeln) – und, durch dieses Wort erhellt, auf die tiefe Ahnung des Menschengeschlechts, dass wir mit unserem Selbst, dem zerbrechlichen und fragwürdigen, das aber doch eben das unsere, für jeden von uns eine und einzige ist, nicht allein im Dasein stehen, wie es mit unseren menschlichen Beziehungen auch immer bestellt sein möge.”
Wenn es so ist, dass Mensch und Engel aus einem Letzten verbunden sind, wie steht es dann um das ewige Schicksal des Schutzengels, wenn sich der Mensch seinem Zuruf beharrlich verweigert? Wird der Engel für Taten und Unterlassungen seines Menschen in Haftung genommen? Als Hüter des Wesens seines Menschen ist er betroffen, wenn sich das Leben im Mutterleib nicht entwickeln darf. In-vitro-Fertilisation und genetische Manipulation sind nicht nur Sache des Menschen. Das weite Feld der chirurgischen und hormonellen Umgestaltung des Körpers und viele Fragen der LGBT-Gemeinde gehen auch den Schutzengel etwas an. Ein wieder erwachter Glaube an die Schutzengel könnte der Frage nach dem Wesen des Menschen eine echte seelsorgerische Dimension geben. Aus ihr ergäben sich Antworten auf drängende Fragen der Gegenwart und der Mut zu klarer Entscheidung:
“Der Mensch aber kann den Ruf auch überhören, ihn missachten, ihm widerstreben, und so alle Hilfe vergeblich machen. Dann muss der Engel – wohl in einem Schmerz, der über unser Begreifen geht – im Gericht auf die Seite des Urteils treten. Denn hier geht es nicht um Märchen, sondern um Wahrheit.” Romano Guardinis Engel führt seine Gemeinde in einen letzten endzeitlichen Ernst. Dieser Zugang ist heute verschüttet und kaum ein Priester wagt noch von ihm zu predigen. Daher kommt ein großer Teil unserer Orientierungslosigkeit.
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