Bedrängte Christen – Hirte mit Rückgrat
Der Irak versucht, Kardinal Louis Raphael I. Sako, Erzbischof von Bagdad, Patriarch von Babylon und Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Kirche, zu entmachten – er wehrt sich
Quelle
Patriarch Louis Raphael Sako
17.08.2023
Der irakische, kurdischstämmige Präsident Abdul Latif Rashid, der erst seit Oktober 2022 im Amt ist, widerrief am 3. Juli den Sondererlass 147 des verstorbenen Präsidenten Jalal Talabani aus dem Jahr 2013, der Patriarch Louis Raphael Sako die Befugnis zur Verwaltung der chaldäischen Stiftungsangelegenheiten erteilte und ihn offiziell als Oberhaupt der chaldäischen Kirche anerkannte. Rashids Entscheidung erfolgte nach einem Treffen mit Rayan al-Kildani. Kildani ist der Führer der nominell christlichen Babylon-Bewegung, einer Partei und Miliz, die mit den iranfreundlichen “Volksmobilisierungkräften” (arab. Hashd al-Shaabi) und den schiitischen “Islamischen Revolutionsgarden” (IRGC) zusammenarbeitet.
Der Widerruf des Erlasses 147 löste einen landesweiten Aufschrei von Mitgliedern und Führern der christlichen Gemeinde aus. Kardinal Sako ist in seiner Gemeinde hoch angesehen. Er ist das Oberhaupt der weltweit 600 000 Chaldäer. Kardinal Sako bezeichnete Rashids Schritt in einem Brief als “beispiellos”. Rashids Entscheidung entzieht Sako die Befugnis, das Vermögen der Kirche zu verwalten und Entscheidungen wie die Renovierung und den Bau von Kirchen im ganzen Irak durchzuführen. In fast allen vom IS befreiten christlichen Orten müssen Kirchen renoviert werden, falls dies nicht geschieht, kommen die Christen nicht mehr zurück.
Paramilitärischer Flügel der Babylon-Bewegung
Unterstützung erhielt Kardinal Sako von seiner Gemeinschaft, die auf dem Tahrir Platz in Bagdad für ihn demonstrierte, zum ersten Mal seit Jahrzehnten, und auch von elf Botschaftern der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten und anderen christlichen Religionsführern, einschließlich des syrisch-katholischen Bischofs von Mosul und einem Brief der orthodoxen Bischöfe. “Manche Leute glauben, es handele sich um einen internen Konflikt zwischen Christen, aber das ist nicht der Fall”, sagte ein verbitterter Patriarch. Kildani, der vor zehn Jahren eine Miliz aufstellte, um den IS zu bekämpfen, hat bei den vergangenen Parlaments-Wahlen mithilfe der Schiiten vier der fünf für Christen reservierten Abgeordnetenplätze und das Einwanderungs-Ministerium bekommen; allesamt habe er diese Posten mit Verwandten besetzt, warf ihm Sako vor.
Zwischen Kardinal Sako und Kildani stimmt seit 2021, als Kildani auch im Umfeld des Papstes im Irak gesehen wurde, die Chemie nicht mehr, weil der Patriarch dem Milizenführer den Vertretungsanspruch christlicher Interessen abgesprochen hatte. Patriarch Sako scheut sich seit seiner Amtsübernahme vor zehn Jahren nicht, sich zur irakischen Politik zu äußern, insbesondere zu denjenigen Fragen, die sich auf die Christen auswirken. So kritisierte er unter anderem das Quotensystem für Minderheiten und die Korruption im Staat.
Die Babylon-Brigaden, der paramilitärische Flügel der Babylon-Bewegung, “präsentieren sich als lokale christliche Truppe, sie rekrutieren sich jedoch größtenteils aus schiitischen muslimischen Gemeinschaften in Bagdads Sadr City”, sie haben sich die Beherrschung der einstmals christlich besiedelten Ninive-Ebene zum Ziel gesetzt, so ein im März vom “Washington Institute” erstelltes Profil der Brigade. Den Brigaden wird vorgeworfen, sich illegal historisches christliches Land in der Provinz Ninive zwischen Qaraqosh bis Alqosh angeeignet zu haben, nachdem die IS-Terroristen aus dem Gebiet vertrieben worden waren. Die von der Gruppe begangenen Menschenrechtsverletzungen führten 2019 dazu, dass das US-Finanzministerium Kildani wegen dieser Verstöße sowie wegen Korruption mit Sanktionen belegte.
Die Schiiten im Libanon brauchten die Christen
Der Irak wird seit dem Sturz des sunnitischen Diktators Saddam Hussein 2003 durch die Amerikaner von den Schiiten beherrscht. Die Schiiten vertraten zunächst eine sehr christenfreundliche Agenda im Nahen Osten. Vor allem im Libanon brauchten die Schiiten die Christen, um die Mehrheit gegen die Sunniten zu erlangen. Deshalb erlaubten sie 2012 sogar einen Papstbesuch im Libanon, während im Nachbarland Syrien erbitterte Kämpfe tobten. Nachdem die schiitischen Volksmobilisierungseinheiten 2018 maßgeblich an der Vertreibung des IS aus dem Irak beteiligt waren, ermöglichten sie 2021 auch den Papstbesuch im Irak. Faruq Hanna Atto, der einzige unabhängige christliche Abgeordnete im irakischen Parlament, teilte der irakischen Präsidentschaft in einem Brief mit, dass die Entscheidung, Sakos Sondererlass aufzuheben, “bei den Anhängern dieser Kirche negativ aufgenommen wurde”. Laut Atto ermutigt die Aufhebung des Dekrets “zur Diskriminierung und zur Vertiefung von Konflikten”. Auch Ano Abdoka, Minister für Verkehr und Kommunikation in der Regionalregierung Kurdistans (KRG) und Christ, kritisierte die Entscheidung von Präsident Rashid als “ungerechtfertigt”. “Warum wird eines der wichtigsten christlichen Symbole, nämlich die Institution des chaldäischen Patriarchats und die moralische Erhabenheit des chaldäischen Patriarchen, zu Unrecht angegriffen?”, so Abdoka in einem offenen Brief. Abdoka wetterte gegen Kildani und bezeichnete das Vorgehen der Babylon-Bewegung als “verzweifelte Versuche einiger Abgeordneter, die sich willkürlich, ungerecht und eindeutig gegen die Christen richten, nachdem sie die Quotensitze an sich gerissen haben.” Ferner sagte er, dass Kildani die Christen nicht vertrete und an der illegalen Inbesitznahme “eines großen Teils der Ninive-Ebene mit Gewalt“ beteiligt sei.
Beherrschte einstmals christliche Orte
Patriarch Sako hat gedroht, den Milizenführer Kildani vor einem internationalen Gericht zu verklagen, und zugleich die irakische Regierung aufgefordert, Maßnahmen gegen den Milizenführer zu ergreifen. Al-Kildani habe Eigentum von Christen in der Ninive-Ebene gestohlen und versuche, die Angelegenheiten der religiösen Minderheit zu beherrschen, so der Vorwurf des Patriarchen.
In die von Kildani und seinen zumeist schiitischen Milizen beherrschten einstigen christlichen Orte der Ninive-Ebene, sind bislang erst zwischen fünf und 20 Prozent ihrer ehemaligen christlichen Bewohner zurückgekehrt, während in die Städte Bakhdida, Karamlesh, und zum Teil auch Bartella, die von der christlich-assyrischen Miliz “Nineveh Plain Protection Units“ (NPU) kontrolliert werden, bereits 70 Prozent der ehemals christlichen Bewohner zurückgekehrt sind.
Vatikan will sich äußern
Durch die Entscheidung, Kardinal Sako die Befugnis zu entziehen, Eigentum und Finanzen der chaldäischen Kirche zu verwalten, könnte jetzt Kildani auf diese einst christlichen Vermögenswerte von nicht mehr anwesenden Christen in der Ninive-Ebene zugreifen, wo historische assyrische, chaldäische und syrisch-katholische christliche Dörfer liegen und in dem die Babylon-Brigaden aktiv sind.
Es wird erwartet, dass die scharfen Spannungen und Spaltungen zwischen der chaldäischen Kirche im Irak und der Babylon-Bewegung weitergehen werden. Die Interessen der Christen in einem Land, in dem heute weniger als 300 000 Christen leben, stehen auf dem Spiel – ein erschütternder Rückgang gegenüber den mehr als 1, 5 Millionen Christen, die vor der von den Vereinigten Staaten geführten Invasion von 2003 noch im Irak lebten. Der Vatikan hat angekündigt sich bald zu dem Konflikt zu äußern.
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