Die Seuche und die Frage nach Gott

„Die Pest“ von Albert Camus oder „Die Verlobten“ von Alessandro Francesco Tommaso Manzoni – Ein Blick in die Literatur zeigt, wie unterschiedlich man auf Krisen reagieren kann

Quelle
Die Pest
Die Verlobten

Die Italienische Presse-Agentur adnkronos berichtet: Der Verkauf des Romans „Die Pest“ von Albert Camus ist sprunghaft angestiegen; 73 Jahre nach seinem Erscheinen steht es auf der Liste der zehn online meistverkauften Bücher. (Anm. 4. März 2020. Zur jüngsten Verbreitung des Romans „Die Pest“ in Deutschland vgl. de.catholicnewsagency.com/article/corona-pandemie-als-glaubenstest-0846). Bereits sein Titel gibt ihm Aktualität für unsere Corona-Krise. Auch beeindruckt das heroische Engagement und die prometheische Selbstgewissheit seines Protagonisten, des Dr. Rieux. Dieser bekennt: Wenn er selbst an einen allmächtigen Gott glaubte, könnte er diesem die Pestkranken überlassen. Doch „da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es vielleicht besser für Gott, wenn man nicht an ihn glaubt und dafür mit aller Kraft gegen den Tod kämpft, ohne die Augen zu dem Himmel zu erheben, wo er schweigt“.

Ganz anders hat der italienische Dichter Alessandro Manzoni in seinem Roman „I promessi sposi – die Verlobten“ auf diese Seuche reagiert. Auch sein Werk zählt zur Weltliteratur und gilt nach Dantes Göttlicher Komödie als die prominenteste Schöpfung der klassischen Italianita. Johann Wolfgang Goethe bewunderte es. Und es wurde gleich nach seiner Veröffentlichung 1827 ins Deutsche übersetzt.

Manzonis „Verlobte“ haben eine Botschaft für uns

Interessant erscheint, dass die Pandemie auch dieser Dichtung neue Aufmerksamkeit sicherte. Der Corriere della sera, die wohl wichtigste Zeitung Italiens, holte es aus der Vergangenheit und titelt: „Diese Pest in Mailand spricht von uns“ (12. 3. 2020). Was sagt das Meisterwerk – 200 Jahre nach seiner ersten Edition? Hat es eine Botschaft für uns, die wir in die Corona-Seuche verstrickt sind?

Die Geschichte spielt am Südhang der Alpen, im Herzogtum Mailand. Zwei junge Menschen, Lucia und Renzo, haben ihre Hochzeit vorbereitet. Sie soll am nächsten Tag gefeiert werden. Doch aus einer momentanen Laune heraus brüstet sich der kriminelle, örtliche Feudalherr Don Rodrigo, es gelänge ihm, dieses Mädchen noch unverheiratet für sich auf seine Burg zu holen. Durch seine Schergen droht er dem Pfarrer Don Abbondio mit dem Tode, sollte er dieser Trauung assistieren. Die Brautleute sind niedergeschmettert, ergeben sich aber nicht. Besonders Pater Cristoforo steht ihnen zur Seite – ein alter Kapuzinermönch, den die einfachen Leute hoch verehren, weil er so gottesfürchtig ist und den Armen immer beisteht. Er kann freilich nichts ausrichten. So bliebt nur die Flucht. Zusammen mit Lucias Mutter Agnese können die Verlobten dem Zugriff des Despoten knapp entkommen. Dann müssen sie sich trennen: die beiden Frauen finden in einem Kloster Unterschlupf, Renzo flieht nach Mailand. Als politischer Aufwiegler beschuldigt, entkommt er über die Grenze nach Bergamo. Er forscht weiter nach seiner Braut und erfährt, sie sei in Mailand. Also macht er sich wieder auf in diese Stadt.

Was ihm dort begegnet, erschüttert ihn zutiefst: der „schwarze Tod“. Eine dunkle Rauchwolke von zahllosen verbrannten Leichen hängt über der Stadt. Renzo fragt sich mühsam durch das Chaos und bekommt heraus, Lucia sei von der Pest befallen in ein Lazarett eingeliefert worden. Dann mutet der Dichter dem Leser in einigen Kapiteln Schilderungen zu, die zu den grossen literarischen Pestdarstellungen seit der Antike gehören. Hier nur die ersten Zeilen: Der Leser tritt ein in ein Lazarett mit 16 000 Pestkranken. Jeder Meter Boden ist belegt. Die beiden endlosen Fluchten der rechten und linken Pforte überfüllt von Siechen und chaotischen Leichenbergen, auf Säcken oder Stroh; und über dem ganzen riesigen Raum ein wogendes Gewimmel; da und dort ein Kommen und Gehen, ein Haltmachen, ein Laufen, Hinlegen, Aufstehen von Kranken, Rasenden und Pflegern.

„Die Nachricht davon flog von Mund zu Mund;
und wie es immer ist: wenn man geängstigt ist,
dann hat das Hören die Wirkung des Sehens“

Alessandro Manzoni

Aus dieser mehr als dürftigen Inhaltsangabe geht nun kaum hervor, dass der Titel des „Corriere“ Recht hat: „Die Verlobten“ hätten 200 Jahre nach ihrer Veröffentlichung uns mitten in der Pandemie etwas zu sagen – über die bewegende Begegnung mit einem literarischen Kunstwerk hinaus. Was kann es sein? Eine kämpferische These – wie sie Albert Camus vorlegt – wird im Roman nicht erkennbar. Manzonis Vermächtnis ist nur diskret angedeutet: Das Aufbauschen von Gefahren, wenn es heisst: „Die Nachricht davon flog von Mund zu Mund; und wie es immer ist: wenn man geängstigt ist, dann hat das Hören die Wirkung des Sehens.“ Verschwörungstheorien, die rasch den Sündenbock ausmachen. Lieblosigkeiten, wenn wir jemandem mit Worten den Lebensraum nehmen (wir würde es heute „Hassrede“ nennen).

Aber nicht nur unser Alltagsverhalten ändert sich. Auch Spirituell-Geistliches ist betroffen. Dass Fromme versucht sind, mit magisch anmutenden religiösen Praktiken übernatürlichen Schutz zu suchen: Die vom Volk herbeigezwungene Prozession mit den Reliquien des Heiligen Karl Borromäus wird zu einer schrecklichen Katastrophe. Dass jemand in seiner Ohnmacht von glaubwürdigen Zeugen Weisung für sein Leben erwartet. Und nicht zuletzt richtet der Dichter den Blick nach oben: Gott wird benannt, das Kreuz, das Beten, die Gottesmutter Maria. Und inmitten all der vielfach Pest-Geschädigten: die Patres des Kapuziner-Ordens, die sich gestärkt durch Christi Hilfe der Pflege der Kranken widmen – gelassen, und ohne an die Gefahren für ihre Gesundheit zu denken.

Die Kirche hat Mittel, der Not zu trotzen

Mit diesen Akzenten hebt Manzoni ins Wort, was seine Schilderung der Pest so scharf von der Camus‘ unterscheidet. Er verweist auf den Glaubenshorizont, um die Kräfte zu benennen, die uns Menschen in der Not stark machen. Die Kirche hält Mittel bereit, die ihr trotzen, weil sie allen Zuversicht und Hoffnung ermöglichen. Etwa Lucia lebt es vor. Sie sagt: „Wir brauchen uns nichts vorzuwerfen; wir mühen uns im Glauben, und Gott wird uns beistehen – wie Pater Cristoforo gesagt hat.“ Dann wandte sie sich an den, der die Herzen der Menschen in seinen Händen hält und der – wenn er will – die härtesten erweichen kann. Sie verschränkte die Arme im Zeichen des Kreuzes über ihrer Brust und betete einen Augenblick still; dann zog sie ihren Rosenkranz heraus und sprach ihn mit grösserem Glauben und grösserer Inbrunst als je in ihrem Leben.

In ähnlicher Hinwendung zu Gott begegnet uns Lucias Beichtvater, Pater Cristoforo. Er sucht die geprüfte Braut und deren Mutter nach der Drohung des Feudalherren Rodrigo auf. Dann kommt unerwartet auch der Bräutigam Renzo dazu. Dieser fragt sofort: „Haben Sie es Ihnen erzählt … Pater?“ „Nur zu viel; ich bin darum hier.“ „Was sagen Sie zu diesem Schurken? …“ „Was soll ich zu ihm sagen? Er ist nicht hier, er kann uns nicht hören, wie können ihm meine Worte heilsam sein? Dir, mein Renzo, sage ich, dass du auf Gott vertrauen musst und dass Gott dich nicht verlassen wird.“ „Gesegnet seien Ihre Worte!“, rief der Jüngling aus. Bevor der Pater das Haus verlässt nochmals: „Hört mich, Kinder“, nahm Bruder Cristoforo wieder das Wort, „ich will heute noch mit dem Menschen (sc. der örtliche Feudalherr Don Rodrigo) reden. Wenn Gott sein Herz lenkt und meinen Worten Kraft gibt, gut; wenn nicht, so wird Er uns irgendeine andere Hülfe senden.“

Am Ende von Renzos 800-seitiger Odyssee, die Manzoni zu einem Inspirator der italienischen Sprache und zu einem Klassiker der Weltliteratur gemacht hat, versichert der Autor nochmals persönlich – gleichsam aus den „Off“ – dass die Leiden wohl oft aus der Ursache kommen, die der Mensch ihnen gibt; dass indessen auch das behutsamste und unschuldigste Betragen sie nicht fern hält; dass aber, wenn sie kommen, verschuldet oder nicht verschuldet, das Vertrauen auf Gott sie mildert und für ein besseres Leben heilsam macht. Dieser Schluss, obwohl von einfachen Leuten gefunden, hat uns so richtig geschienen, dass wir ihn als den Kern der ganzen Geschichte hierher zu setzen gedacht haben.

Die neue Ohnmacht kann uns den Blick zum Himmel lehren

Es wäre fahrlässig, nur Camus zu lesen. Jedenfalls hätte den Autoren des „Gemeinsamen Wortes der katholischen, evangelischen und orthodoxen Kirche in Deutschland zur Corona-Krise“ (20.3.2020) die Lektüre Manzonis Substanzielles lehren können. Ihr Text hat seinen Schwerpunkt in einer langen Reihe praktischer Verhaltensweisen, die man allerorts hört. Zur gegenwärtig uns alle verstörenden Not heisst es lediglich, es gäbe „keine einfachen Antworten“. Dann bleibt nur der banale Gemeinplatz: „Gott ist ein Freund des Lebens“ – ein Zuruf, der wohl zu jedem Pfarrfest passt. Die grosse Quaresima schrumpft auf rechtes Sozialverhalten: Sie soll einüben, den „Kopf nicht hängen“ zu lassen und „sich den Notleidenden zuzuwenden“. Sünde, Kreuz, Tod und ewiges Leben bleiben unerwähnt. Das Evangelium vom himmlischen Vater, der seinen Sohn aus Liebe zu uns in den Tod gab und auferweckte, wird verpasst. Gottes definitive Erlösung aber wäre zu verkünden, auch wenn wir Gott oft nicht begreifen – sagt doch schon der heilige Augustinus: „Wenn du ihn verstehst, so ist er nicht Gott“ (PL 38,360).

Manzonis „Verlobte“ sind hochaktuell. Unsere neue Ohnmacht lehrt auch uns, gen Himmel zu blicken. Gewiss gibt es zahllose Helfer im Kampf gegen die Seuche, die sich nicht als Gläubige verstehen. Auch ist Gott kein Lückenbüsser, der sich unserer menschlichen Grenzen bediente. Doch der atheistische Humanismus war immer eine Falle: als ob wir Nächstenliebe als vorrätige Gabe und autarke Kraft besässen – auf Appelle hin abrufbar, weil naturgegeben. Wie der Herr selbst mehrfach lehrt: Unser Herz ist nicht gut (Mk 7,15; Lk 11,13). Und kritische Selbstbeobachtung offenbart: Wir halten im Samariterdienst nicht durch, wenn er uns die eigene Haut kostet.

So bindet das Kriterium des Christseins uns Glaubende an den Nächsten wie an Gott. In seiner grossen Enzyklika „Gott ist die Liebe“ begründet Papst Benedikt die unumgängliche Verklammerung: „Wenn die Berührung mit Gott in meinem Leben ganz fehlt, dann kann ich im Andern immer nur den Andern sehen und kann das göttliche Bild in ihm nicht erkennen. Wenn ich aber die Zuwendung zum Nächsten in meinem Leben weglasse…dann verdorrt auch die Gottesbeziehung“ (Nr. 18).

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