Brief von Papst Johannes Paul II. an die Künstler 1999
Brief von Papst Johannes Paul II. an die Künstler 1999 – An alle, die mit leidenschaftlicher Hingabe nach neuen »Epiphanien« der Schönheit suchen, um sie im künstlerischen Schaffen der Welt zum Geschenk zu machen
Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut (Gn 1,31).
Der Künstler, Abbild des Schöpfergottes1. Besser als ihr Künstler, geniale Baumeister der Schönheit, vermag niemand intuitiv etwas von dem Pathos zu erfassen, mit dem Gott am Anfang der Schöpfung auf das Werk seiner Hande blickte. Ein Nachschwingen jenes Gefühls hat sich unendliche Male in den Blicken niedergeschlagen, mit welchen ihr als Künstler jeden Zeitalters, vom Staunen über die geheimnisvolle Macht der Klange und Worte, der Farben und Formen gebannt, das Werk eurer Eingebung bewundert und darin gleichsam das Echo jenes Geheimnisses der Schöpfung wahrgenommen habt, an dem Gott, der alleinige Schöpfer aller Dinge, euch in gewisser Weise teilnehmen lassen wollte.Es schienen mir daher keine Worte geeigneter als jene aus dem Buch Genesis, um sie an den Anfang meines Briefes an euch zu stellen, fühle ich mich doch durch Erfahrungen verbunden, die weit in die Vergangenheit zurückreichen und mein Leben unauslöschlich geprägt haben. Mit diesem Schreiben möchte ich den Weg jenes fruchtbaren Gespräches der Kirche mit den Künstlern einschlagen, das in der zweitausendjährigen Geschichte der Kirche nie abgerissen ist und an der Schwelle zum dritten Jahrtausend eine noch größere Zukunft hat.
In Wirklichkeit handelt es sich um einen Dialog, der uns nicht nur von historischen Umständen und praktischen Erwägungen aufgenötigt wird, sondern in dem eigentümlichen Wesen sowohl der religiösen Erfahrung wie des künstlerischen Schaffens verwurzelt ist. Der Anfang der Bibel stellt uns Gott gleichsam als das beispielhafte Modell jedes Menschen vor, der ein Werk hervorbringt: Im Künstler spiegelt sich sein Bild als Schöpfer. Besonders offenkundig wird diese Beziehung im Polnischen durch die sprachliche Verwandtschaft zwischen den Worten stwórca (Schöpfer) und twórca (Künstler).
Worin liegt der Unterschied zwischen »Schöpfer« und »Künstler«? Wer (etwas) erschafft, schenkt das Sein selbst, bringt etwas aus dem Nichts hervor — ex nihilo sui et subiecti, sagt man im Lateinischen —, und das ist im strengen Sinn die Vorgehensweise, die nur dem Allmächtigen zukommt. Der Künstler hingegen verwendet etwas bereits Vorhandenes, dem er Gestalt und Bedeutung gibt. Das ist die charakteristische Handlungsweise des Menschen als Ebenbild Gottes. Nachdem es nämlich in der Bibel geheißen hatte, daß Gott Mann und Frau »als sein Abbild« schuf (vgl. Gen 1,27), wird hinzugefügt, daß er ihnen die Aufgabe übertrug, über die Erde zu herrschen (vgl. Gen 1,28). Es war der letzte Schöpfungstag (vgl. Gen 1,28-31). An den vorangegangenen Tagen hatte Jahwe das Universum geschaffen und damit gleichsam den Rhythmus der kosmischen Evolution bestimmt. Am Ende schuf er den Menschen als erhabenste Frucht seines Planes; ihm unterwarf er die sichtbare Welt als unermeßliches Feld, auf dem er seiner Erfindungsgabe Ausdruck verleihen sollte.
Gott hat also den Menschen ins Dasein gerufen und ihm die Aufgabe übertragen, Künstler zu sein. Im »künstlerischen Schaffen« erweist sich der Mensch mehr denn je als »Abbild Gottes«. Er verwirklicht diese Aufgabe vor allem dadurch, daß er die wunderbare »Materie« des eigenen Menschseins gestaltet und dann auch eine kreative Herrschaft über das ihn umgebende Universum ausübt. Der göttliche Künstler kommt dem menschlichen Künstler liebevoll entgegen und gibt ihm einen Funken seiner überirdischen Weisheit weiter, indem er ihn dazu beruft, an seiner Schöpfungskraft teilzuhaben. Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine Teilhabe, die den unendlichen Abstand zwischen Schöpfer und Geschöpf unangetastet läßt, wie Kardinal Nikolaus von Kues unterstrich: »Die schöpferische Kunst, die die glückselige Seele erlangen wird, ist der Wesenheit nach nicht jene Kunst, die Gott ist, sondern deren Mitteilung und Teilhabe«.(1)
Je mehr sich daher der Künstler seiner »Gabe« bewußt ist, um so mehr fühlt er sich dazu gedrängt, auf sich selbst und auf die ganze Schöpfung mit Augen zu blicken, die sich betrachtend zu vertiefen und zu danken vermögen, während er seinen Lobeshymnus zu Gott emporrichtet. Nur so kann er sich selbst, seine Berufung und seine Sendung in letzter Tiefe erfassen.
Die besondere Berufung des Künstlers
2. Nicht alle sind im eigentlichen Sinne des Wortes zu Künstlern berufen. Nach Aussage der Genesis wird jedoch jeder Mensch mit der Aufgabe betraut, Baumeister des eigenen Lebens zu sein: Er soll aus seinem Leben gleichsam ein Kunstwerk, ein Meisterstück machen.
Es ist wichtig, den Unterschied, aber auch den Zusammenhang zwischen diesen zwei Seiten des menschlichen Tuns zu erheben. Der Unterschied ist augenfällig. Denn das eine ist die Anlage, der es der Mensch verdankt, Urheber seiner Handlungen zu sein, für deren moralischen Wert er verantwortlich ist. Das andere ist die Anlage, auf Grund welcher er Künstler ist, d.h. gemäß den Ansprüchen der Kunst zu handeln versteht, indem er die für sie spezifischen Vorschriften getreu annimmt.(2) Deshalb ist der Künstler fähig, Objekte herzustellen, aber das sagt an und für sich noch nichts über seine moralischen Dispositionen aus. Denn hier handelt es sich nicht darum, sich selbst und seine eigene Persönlichkeit zu gestalten, sondern nur darum, operative Fähigkeiten nutzbringend anzuwenden und den mit dem Verstand konzipierten Ideen ästhetische Gestalt zu geben.
Doch wenn der Unterschied zwischen diesen beiden Dispositionen, der moralischen und der künstlerischen, wesentlich ist, so ist der Zusammenhang zwischen beiden nicht weniger wichtig. Sie bedingen sich gegenseitig zutiefst. Beim Gestalten eines Werkes bringt der Künstler in der Tat sich selber soweit zum Ausdruck, daß seine Schöpfung einen einzigartigen Widerschein seines Seins, dessen also, was er ist und wie er es ist, darstellt. Das findet zahllose Bestätigungen in der Geschichte der Menschheit. Denn wenn der Künstler ein Meisterwerk gestaltet, ruft er nicht nur sein Werk ins Leben, sondern durch das Werk enthüllt er gewissermaßen auch seine eigene Persönlichkeit. In der Kunst findet er eine neue Dimension und ein einzigartiges Ausdrucksmittel für sein geistiges Wachstum. Durch die Werke, die er geschaffen hat, spricht und kommuniziert der Künstler mit den anderen. Die Kunstgeschichte ist darum nicht nur eine Geschichte von Werken, sondern auch von Menschen. Die Kunstwerke sprechen von ihren Urhebern, machen uns mit deren Innerstem bekannt und offenbaren den echten Beitrag, den die Künstler der Kulturgeschichte geben.
Die Berufung des Künstlers im Dienst an der Schönheit
3. Ein bekannter polnischer Dichter, Cyprian Norwid, schreibt: »Die Schönheit ist dazu da, für das Werk zu begeistern, das Werk, um aufblühen zu lassen«.(3)
Das Thema Schönheit gehört zu einem Gespräch über die Kunst. Ich deutete es bereits an, als ich Gottes gefälligen Blick auf das Schöpfungswerk hervorhob. Bei der Feststellung, daß alles, was er geschaffen hatte, gut war, sah Gott auch, daß es schön war.(4) Die Beziehung zwischen gut und schön regt zum weiteren Nachdenken an. Die Schönheit ist gleichsam der sichtbare Ausdruck des Guten, so wie das Gute die metaphysische Voraussetzung der Schönheit ist. Das haben die Griechen richtig verstanden, die durch Verschmelzung der beiden Begriffe eine Wendung prägten, die beide umfaßt: »kalokagathía«, das heißt »das Schön-Gute«. Platon schreibt darüber: »Die Macht des Guten entflieht in die Natur des Schönen«.(5)
Durch sein Leben und Tun legt der Mensch sein Verhältnis zum Sein, zur Wahrheit und zum Guten fest. Der Künstler erlebt eine besondere Beziehung zur Schönheit. Es ist sehr treffend, wenn man sagt, die Schönheit ist die vom Schöpfer durch das Geschenk des »künstlerischen Talentes« an ihn gerichtete Berufung. Und mit Sicherheit ist auch das ein Talent, das nach der Logik des Gleichnisses von den Talenten, wie es die Frohe Botschaft erzählt (vgl. Mt 25,14-30), Früchte bringen soll.
Hier berühren wir einen wesentlichen Punkt. Wer in sich diesen göttlichen Funken der künstlerischen Berufung — zum Dichter, zum Schriftsteller, zum Maler, zum Bildhauer, zum Architekten, zum Musiker, zum Schauspieler… — spürt, nimmt gleichzeitig die Verpflichtung wahr, dieses Talent nicht zu vergeuden, sondern es zu entfalten, um es in den Dienst des Nächsten und der ganzen Menschheit zu stellen.
Der Künstler und das Gemeinwohl
4. Die Gesellschaft braucht tatsächlich Künstler ebenso, wie sie Wissenschaftler, Techniker, Arbeiter, Fachleute, Glaubenszeugen, Lehrer, Vater und Mütter benötigt. Durch jene sehr erhabene Kunstform, die »Erziehungskunst« heißt, sollen diese das Wachstum des einzelnen und die Entwicklung der Gemeinschaft gewährleisten. Die Künstler indes haben in dem umfassenden Kulturpanorama jeder Nation ihren eigenen Platz. Solange sie bei der Ausführung wirklich wertvoller und schöner Werke ihrer Eingebung folgen, bereichern sie ja nicht nur das Kulturgut jeder einzelnen Nation und der ganzen Menschheit, sondern leisten auch einen qualifizierten sozialen Dienst zum Nutzen des Gemeinwohls.
Während die unterschiedliche Berufung jedes Künstlers den Bereich seines Dienstes bestimmt, verweist sie auf die Aufgaben, die er zu übernehmen, die harte Arbeit, der er sich zu unterziehen, und die Verantwortung, der er sich zu stellen hat. Ein Künstler, der sich all dessen bewußt ist, weiß auch, daß er tätig sein muß, ohne sich von eitler Ruhmsucht oder von der Begierde nach oberflächlicher Popularitat, geschweige denn von einer persönlichen Gewinnrechnung beherrschen zu lassen. Es gibt also eine Ethik, ja eine »Spiritualität« des künstlerischen Dienstes, die auf ihre Weise zum Leben und zum Wiedererstehen eines Volkes beiträgt. Genau darauf scheint Cyprian Norwid anspielen zu wollen, wenn er sagt: »Die Schönheit ist dazu da, für das Werk zu begeistern, das Werk, um aufblühen zu lassen«.
Die Kunst vor dem Geheimnis des fleischgewordenen Wortes
5. Das Gesetz des Alten Testaments enthält ein ausdrückliches Verbot, den unsichtbaren und aussprechlichen Gott mit Hilfe »eines geschnitzten oder gegossenen Bildnisses« (Dtn 27,15) darzustellen, da Gott jede materielle bildliche Darstellung übersteigt: »Ich bin der ”Ich-bin-da“ (Ex 3,14). Im Geheimnis der Menschwerdung jedoch hat sich der Sohn Gottes persönlich sichtbar gemacht: »Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau« (Gal 4,4). Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden; dieser ist »der Mittelpunkt, auf den man sich beziehen muß, um das Rätsel vom menschlichen Dasein, der geschaffenen Welt und von Gott selber begreifen zu können«.(6)
Diese grundlegende Offenbarung Gottes als Geheimnis stand als Ermutigung und Herausforderung für die Christen auch auf der Ebene des künstlerischen Schaffens. Daraus erwuchs ein Erblühen von Schönheit, das eben von hier, aus dem Geheimnis der Menschwerdung, seinen Lebenssaft zog. Denn durch sein Menschwerden hat der Sohn Gottes in die Geschichte der Menschheit den ganzen evangelischen Reichtum der Wahrheit und des Guten eingeführt und damit auch eine neue Dimension der Schönheit enthüllt: Davon ist die evangelische Botschaft bis zum Rand voll.
Die Heilige Schrift ist so gleichsam zu einem »unermeßlichen Wortschatz« (P. Claudel) und »Bilderatlas« (M. Chagall) geworden, aus welchen die christliche Kultur und Kunst geschöpft haben. Selbst das im Licht des Neuen Testaments ausgelegte Alte Testament hat unerschöpfliche Inspirationsströmungen offenbar werden lassen. Von den Berichten über die Schöpfung, den Sündenfall, die Sintflut, die Reihe der Patriarchen, den Auszug aus Ägypten bis hin zu den vielen Episoden und Personen der Heilsgeschichte hat der biblische Text die Phantasie von Malern, Dichtern, Musikern, Bühnenschriftstellern und Filmemachern angeregt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine Gestalt wie die des Hiob mit ihrer brennenden und stets aktuellen Problematik des Schmerzes weckt immer wieder das philosophische wie auch das literarische und künstlerische Interesse. Und was soll ich erst vom Neuen Testament sagen? Von der Geburt bis Golgota, von der Verklärung bis zur Auferstehung, von den Wundertaten bis zu den Lehrreden Christi und weiter bis zu den Ereignissen, die in der Apostelgeschichte erzählt oder von der Offenbarung des Johannes unter eschatologischem Aspekt dargestellt werden, ist das Wort der Bibel unzählige Male Bild, Musik und Dichtung geworden, die durch die Sprache der Kunst das Geheimnis des »fleischgewordenen Wortes« wachrufen.
In der Kulturgeschichte bildet all das ein reiches Kapitel des Glaubens und der Schönheit. Nutzen davon trugen vor allem die Gläubigen für ihre Gebets- und Lebenserfahrung. In Zeiten mit geringer Alphabetisierung boten die bildlichen Bibeldarstellungen geradezu eine konkrete katechetische Glaubensvermittlung.(7) Aber für alle, ob gläubig oder nicht, bleiben die an der Heiligen Schrift inspirierten Kunstwerke ein Widerschein des unergründlichen Geheimnisses, das die Welt umgibt und in ihr wohnt.
Ein fruchtbares Bündnis zwischen Evangelium und Kunst
6. In der Tat geht jede künstlerische Intuition über das hinaus, was die Sinne wahrnehmen, und bemüht sich, indem sie die Wirklichkeit durchdringt, deren verborgenes Geheimnis zu deuten. Die Intuition entspringt aus der Tiefe der menschlichen Seele, dort, wo das Bestreben, seinem Leben einen Sinn zu geben, einhergeht mit der flüchtigen Wahrnehmung der Schönheit und der geheimnisvollen Einheit der Dinge. Eine von allen Künstlern geteilte Erfahrung ist die von dem unüberwindlichen Unterschied, der zwischen dem noch so gelungenen Werk ihrer Hände und der am Höhepunkt des schöpferischen Aktes wahrgenommenen überwältigenden Vollkommenheit der Schönheit besteht: Alles, was sie in dem, was sie malen, meißeln, schnitzen und schaffen, auszudrücken vermögen, ist nur ein Schimmer jenes Glanzes, der für einige Augenblicke vor ihrem geistigen Auge aufleuchtete.
Der Glaubende wundert sich darüber nicht: Er weiß, daß er für einen Augenblick an jenem Abgrund an Licht stehen durfte, der in Gott seine Urquelle hat. Muß man sich vielleicht wundern, wenn der Geist davon so überwältigt ist, daß er sich nur mit Gestammel ausdrücken kann? Niemand ist mehr als der wahre Künstler dazu bereit, seine Grenze zu erkennen und sich die Worte des Apostels Paulus zu eigen zu machen, wonach »Gott nicht in Tempeln wohnt, die von Menschenhand gemacht sind. Daher dürfen wir nicht meinen, das Göttliche sei wie ein goldenes oder silbernes oder steinernes Gebilde menschlicher Kunst und Erfindung« (vgl. Apg 17,24.29). Wenn schon die innerste Wirklichkeit der Dinge immer »jenseits« der Fähigkeit zu menschlicher Durchdringung liegt, wieviel mehr gilt das für Gott in den Tiefen seines unergründlichen Geheimnisses!
Von anderer Natur ist die Glaubenserkenntnis: Sie setzt eine persönliche Begegnung mit Gott in Jesus Christus voraus. Doch auch diese Erkenntnis kann aus der künstlerischen Intuition Nutzen ziehen. Ausdrucksvolles Vorbild einer sich im Glauben erhöhenden ästhetischen Betrachtung sind zum Beispiel die Werke des Beato Angelico. Nicht weniger vielsagend ist in diesem Zusammenhang der ekstatische Lobgesang, den der hl. Franz von Assisi, nachdem er auf dem Monte della Verna die Wundmale Christi empfangen hatte, auf einem Blättchen (chartula) zweimal wiederholte: »Du bist Schönheit… Du bist Schönheit!«.(8) Der heilige Bonaventura kommentiert: »Er betrachtete in den schönen Dingen über den Schönsten und, während er den in die Geschöpfe eingeprägten Spuren folgte, jagte er überall dem Geliebten nach«.(9)
Eine ähnliche Annäherung kann man in der orientalischen Spiritualität feststellen, wo Christus als »der Schönste, von größerer Schönheit als alle Sterblichen«(10) bezeichnet wird. Makarios der Große erläutert die verklärende und befreiende Schönheit des Auferstandenen so: »Die Seele, die von der unsagbaren Schönheit der strahlenden Herrlichkeit des Antlitzes Christi voll erleuchtet wurde, ist vom Heiligen Geist erfüllt…, sie ist ganz Auge, ganz Licht, ganz Angesicht«.(11)
Jede echte Form von Kunst ist, jeweils auf ihre Art, ein Zugang zur tiefsten Wirklichkeit des Menschen und der Welt. Als solcher stellt sie eine sehr wertvolle Annäherung an den Glaubenshorizont dar, wo das menschliche Dasein und seine Geschichte ihre vollendete Deutung finden. Genau deshalb mußte ja die Fülle der Wahrheit, wie sie in den Evangelien entfaltet ist, von Anfang an das Interesse der Künstler wecken, die auf Grund ihrer Natur für alles empfänglich sind, was die innere Schönheit der Wirklichkeit offenbart.
Die Anfänge
7. Die Kunst, der das Christentum in seiner Anfangszeit begegnete, war die reife Frucht der klassischen Welt, brachte deren ästhetische Gesetze zum Ausdruck und gab gleichzeitig ihre Werte weiter. Wie im Bereich des Lebens und Denkens, so verlangte der Glaube von den Christen auch auf dem Gebiet der Kunst ein Unterscheidungsvermögen, das die automatische Übernahme dieses Erbes nicht gestattete. Die Kunst christlicher Inspiration begann daher im Stillen, in engem Zusammenhang mit dem Bedürfnis der Glaubenden Zeichen zu erarbeiten, mit denen man auf der Grundlage der Schrift die Geheimnisse des Glaubens und zugleich einen »Symbolkodex« ausdrücken kann, mit dessen Hilfe die Glaubenden sich besonders in den schweren Zeiten der Verfolgung zu erkennen geben und zu identifizieren vermochten. Wer erinnert sich nicht an jene Symbole, die auch die ersten Anzeichen einer Mal- und Bildhauerkunst waren? Der Fisch, die Brote, der Hirt riefen das Geheimnis wach und wurden fast unmerklich zum Konzept einer neuen Kunst.
Als durch den Erlaß Kaiser Konstantins den Christen gewährt wurde, sich in voller Freiheit zu äußern, wurde die Kunst zu einem bevorzugten Weg der Glaubensbekundung. Eine erste Blüte begann mit dem Bau imposanter Basiliken, wobei die architektonischen Gesetze des antiken Heidentums aufgegriffen und zugleich den Erfordernissen des neuen Kultes angepaßt wurden. Muß man nicht wenigstens die alte Petersbasilika und die alte Lateranbasilika erwähnen, die Konstantin selbst errichten ließ? Oder als Beispiel für die prachtvolle byzantinische Kunst die auf Wunsch von Kaiser Justinian errichtete Hagia Sophía in Konstantinopel?
Wahrend die Architektur den heiligen Raum schuf, führte allmählich das Verlangen, sich in das Geheimnis zu vertiefen und es den einfachen Menschen auf unmittelbare Art und Weise anzubieten, zu den Anfangsäußerungen der Mal- und Bildhauerkunst. Zugleich entstanden die ersten Versuche einer Wort- und Tonkunst, und wenn Augustinus unter die vielen Themen seines Schaffens auch ein De musica aufnahm, so wurden Hilarius, Ambrosius, Prudentius, Ephram der Syrer, Gregor von Nazianz, Paulinus von Nola — um nur einige Namen zu nennen — zu Initiatoren einer christlichen Poesie, die häufig nicht nur einen hohen theologischen, sondern auch literarischen Wert erreicht. Ihr dichterisches Programm verwertete von den Klassikern überkommene Formen, schöpfte aber aus dem reinen Lebenssaft des Evangeliums, wie es der heilige Dichter aus Nola treffend aussprach: »Unsere einzige Kunst ist der Glaube, und Christus ist unser Gesang«.(12) Einige Zeit später schuf Gregor der Große mit der Sammlung Antiphonarium seinerseits die Voraussetzung für die organische Entwicklung jener Kirchenmusik, die so originell war, daß sie nach ihm benannt wurde. Der gregorianische Gesang mit seinen inspirierten Modulationen sollte in den kommenden Jahrhunderten zur typischen melodischen Ausdrucksform des Glaubens der Kirche während der liturgischen Feier der heiligen Geheimnisse werden. So verband sich das »Schöne« mit dem »Wahren«, damit die Seelen auch auf dem Wege über die Kunst vom Sinnlichen her zum Ewigen hin mitgerissen würden.
Auf diesem Weg blieben schwierige Abschnitte nicht aus. Gerade im Zusammenhang mit dem Thema, wie das christliche Geheimnis dargestellt werden könne, erlebte die Antike eine erbitterte Auseinandersetzung, die unter dem Namen »Bilderstreit« in die Geschichte einging. Der in der Frömmigkeit des Gottesvolkes bereits verbreitete Bilderkult wurde zum Gegenstand einer gewalttätigen Protestbewegung. Das 787 in Nicäa abgehaltene Konzil, das die Zulässigkeit der Bilder und ihrer Verehrung beschloß, war nicht nur für den Glauben, sondern gerade auch für die Kultur ein historisches Ereignis. Das entscheidende Argument, auf das sich die Bischöfe beriefen, um den Streit beizulegen, war das Geheimnis der Menschwerdung: Wenn der Sohn Gottes in die Welt der sichtbaren Wirklichkeiten eingetreten ist, indem er durch sein Menschsein eine Brücke zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren schlug, darf man analog annehmen, daß eine Darstellung des Geheimnisses in der Logik des Zeichens als sinnlich wahrnehmbare Evokation des Geheimnisses verwendet werden kann. Das Bild wird nicht um seiner selbst willen verehrt, sondern verweist auf den Gegenstand, den es darstellt.(13)
Das Mittelalter
8. Die nachfolgenden Jahrhunderte waren Zeugen einer großartigen Entfaltung der christlichen Kunst. Im Osten ging die Blüte der Ikonenkunst weiter, gebunden an gewichtige theologische und ästhetische Regeln und getragen von der Überzeugung, daß die Ikone in gewissem Sinn ein Sakrament sei: Denn analog zu dem, was in den Sakramenten geschieht, macht sie das Geheimnis der Menschwerdung in deren einem oder anderem Aspekt gegenwärtig. Eben darum kann man die Schönheit der Ikone vor allem im Inneren einer Kirche genießen, wo Lampen brennen und im Halbschatten unzählige Lichtreflexe hervorrufen. Dazu schreibt Pavel Florenskij: »Das Gold, das im diffusen Tageslicht fremd, schwer und nichtig anmutet, lebt durch das flackernde Licht einer Lampe oder einer Kerze wieder auf, da es von Myriaden Funken — bald hier, bald da — erstrahlt und andere, nicht irdische Lichter ahnen läßt, die den Himmelsraum erfüllen«.(14)
Im Abendland gehen die Künstler, auch in Abhängigkeit von den in der kulturellen Umwelt ihrer Zeit vorhandenen Grundüberzeugungen, von den verschiedensten Gesichtspunkten aus. Zu den Kunstschätzen, die sich im Laufe der Jahrhunderte angehäuft haben, zählt eine reiche Fülle sakraler Kunstwerke hoher Inspiration, die auch den heutigen Betrachter mit Bewunderung erfüllen. An erster Stelle stehen die großartigen Kirchenbauten, bei denen sich die Zweckmäßigkeit immer mit der Eingebung verbindet und diese letztere sich vom Sinn für das Schöne und von der Intuition des Mysteriums inspirieren läßt. Daraus entstehen die in der Kunstgeschichte wohlbekannten Baustile. Kraft und Schlichtheit des romanischen Stils, wie sie in den Kathedralen oder in den Klosteranlagen zum Ausdruck kommen, führen nach und nach zu den schlanken Linien und zur herrlichen Pracht der Gotik. In diesen Formen steckt nicht nur der geniale Geist eines Künstlers, sondern die Seele eines Volkes. An dem Spiel von Licht und Schatten, an den bald massiven, bald schlanken Formen sind sicher bautechnische Überlegungen, aber auch Spannungen der Gotteserfahrung, die »schreckliches« und »faszinierendes« Geheimnis ist, beteiligt. Wie soll man in wenigen Andeutungen und für die verschiedenen Ausdrucksformen der Kunst die schöpferische Kraft der langen Jahrhunderte des christlichen Mittelalters zusammenfassen? Wenn auch in den immer vorhandenen Grenzen des Menschlichen, hatte sich eine ganze Kultur mit dem Evangelium vollgesogen, und dort, wo das theologische Denken die Summa des hl. Thomas hervorbrachte, bearbeitete die kirchliche Kunst die Materie für die Anbetung des Geheimnisses, während ein so wunderbarer Dichter wie Dante Alighieri »das heilige Epos, nach dem sowohl Himmel wie Erde gegriffen hat«(15) verfassen konnte — die er selbst als Divina Commedia (Göttliche Komödie) bezeichnete.
Humanismus und Renaissance
9. Das fruchtbare kulturelle Klima, aus dem die außerordentliche künstlerische Blüte des Humanismus und der Renaissance erwächst, hat bedeutsame Auswirkungen auch auf die Art der Beziehung der Künstler dieser Zeit zur religiösen Thematik. Natürlich sind die Inspirationen ebenso vielfaltig, wie es ihre Stile oder wenigstens jene der größten unter ihnen sind. Aber es ist nicht meine Absicht, Dinge zu erwähnen, die euch Künstlern nur zu gut bekannt sind. Wenn ich euch aus diesem Apostolischen Palast schreibe, der auch eine auf der Welt wohl einzigartige Schatzkammer von Meisterwerken ist, möchte ich mich vielmehr zur Stimme der größten Künstler machen, die hier die Fülle ihrer oft von großer spiritueller Tiefe durchdrungenen genialen Begabung ausgegossen haben. Von hier aus spricht Michelangelo, der in der Sixtinischen Kapelle von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht das Drama und Geheimnis der Welt zusammengestellt hat, indem er Gottvater, dem Richter Christus und dem Menschen auf seinem mühseligen Weg von den Ursprüngen bis ans Ziel der Geschichte ein Gesicht gegeben hat. Von hier aus spricht der feinfühlige und tiefsinnige Genius eines Raffael, der in der Vielfalt seiner Gemälde, und das besonders in der »Disputa« der Stanza della Segnatura, auf das Geheimnis der Offenbarung des dreieinigen Gottes hinweist, der in der Eucharistie zum Weggefährten des Menschen wird; damit wirft er ein Licht auf die Fragen und Erwartungen des menschlichen Denkens. Von hier aus, von der imposanten, dem Apostelfürsten geweihten Basilika, von den Kolonnaden, die von ihr wie zwei geöffnete Arme ausgehen, als wollten sie die Menschheit umgreifen, sprechen auch — um nur die größten zu nennen — ein Bramante, ein Bernini, ein Borromini, ein Maderno, indem sie den Sinn des Geheimnisses plastisch darstellen, das die Kirche zu einer universalen, gastfreundlichen Gemeinschaft, zur Mutter und Weggefährtin für jeden Menschen macht, der auf der Suche nach Gott ist.
In diesem außergewöhnlichen Komplex, wo sie Höhen unvergänglichen Wertes sowohl in asthetischer wie auch religiöser Hinsicht erreichte, hat die sakrale Kunst einen Ausdruck einzigartiger Wirkungskraft gefunden. Was sie unter dem Impuls des Humanismus und der Renaissance und der darauffolgenden Tendenzen in Kultur und Wissenschaft immer mehr kennzeichnet, ist ein wachsendes Interesse für den Menschen, die Welt und die Wirklichkeit der Geschichte. Diese Aufmerksamkeit stellt an und für sich überhaupt keine Gefahr für den christlichen Glauben dar, dessen Mittelpunkt das Geheimnis der Menschwerdung und somit die Aufwertung des Menschen durch Gott bildet. Das zeigen uns gerade die größten Künstler, die oben erwähnt wurden. Man braucht nur daran zu denken, wie Michelangelo in seinen Gemälden und Skulpturen der Schönheit des menschlichen Körpers Ausdruck verleiht.(16)
Auch im neuen Klima der letzten Jahrhunderte, wo ein Teil der Gesellschaft dem Glauben gegenüber scheinbar gleichgültig geworden ist, riß übrigens die religiöse Kunst nicht ab. Diese Feststellung gewinnt an Gewicht, wenn wir von den bildenden Künsten zur Betrachtung der großartigen Entwicklung übergehen, die innerhalb derselben Zeitspanne die Kirchenmusik erlebt hat, die für die liturgischen Bedürfnisse komponiert wurde oder auch nur an religiöse Themen gebunden war. Neben den unzähligen Künstlern, die sich ihr umfassend gewidmet haben — es seien wenigstens Pier Luigi da Palestrina, Claudio Monteverdi und Tomás Luis de Victoria genannt —, haben uns bekanntlich auch auf diesem Gebiet viele große Komponisten — von Händel bis Bach, von Mozart bis Schubert, von Beethoven bis Berlioz, von Liszt bis Verdi — Werke höchster Inspiration geschenkt.
Auf einen neuen Dialog zu
10. Es trifft freilich zu, daß sich in der Moderne neben diesem christlichen Humanismus, der nicht aufgehört hat, sich in Kultur und Kunst auszudrücken, zunehmend auch eine Form von Humanismus durchgesetzt hat, für den die Abwesenheit Gottes und häufig der Widerstand gegen ihn charakteristisch ist. Dieses Klima hat bisweilen, zumindest im Sinn eines verminderten Interesses vieler Künstler für religiöse Themen, zu einer gewissen Distanz zwischen der Welt der Kunst und jener des Glaubens geführt.
Ihr wibt jedoch, daß die Kirche weiterhin eine hohe Achtung für den Wert der Kunst als solcher genährt hat. Diese hat nämlich, wenn sie echt ist, auch jenseits ihrer typisch religiösen Ausdrucksformen eine innere Nähe zur Welt des Glaubens, so daß sogar in den Situationen eines größeren Abrückens der Kultur von der Kirche gerade die Kunst weiter eine Art Brücke zur religiösen Erfahrung hin darstellt. Als Suche nach dem Schönen, Frucht einer das Alltägliche übersteigenden Einbildungskraft, ist sie ihrer Natur nach eine Art Anruf an das Mysterium. Selbst wenn er die dunkelsten Tiefen der Seele oder die erschütterndsten Seiten des Bösen ergründet, wird der Künstler gewissermaßen zur Stimme der universalen Erlösungserwartung.
Man begreift also, warum die Kirche am Dialog mit der Kunst in besonderer Weise festhält und den Wunsch hat, daß in unserer Zeit ein neues Bündnis mit den Künstlern zustande komme, wie es mein ehrwürdiger Vorganger Paul VI. in seiner beschwörenden Ansprache an die Künstler während der Begegnung in der Sixtinischen Kapelle am 7. Mai 1964 wünschte.(17) Von dieser Zusammenarbeit erhofft sich die Kirche eine neue »Epiphanie« der Schönheit für unsere Zeit und entsprechende Antworten auf die Anliegen der christlichen Gemeinschaft.
Im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils
11. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Grundlagen gelegt für die Erneuerung der Beziehung zwischen Kirche und Kultur mit unmittelbaren Auswirkungen auch für die Welt der Kunst. Es ist eine Beziehung, die sich im Zeichen der Freundschaft, der Öffnung und des Dialogs darstellt. In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes haben die Konzilsvater die »große Bedeutung« der Literatur und der Künste im Leben des Menschen hervorgehoben: »Denn sie bemühen sich um das Verständnis des eigentümlichen Wesens des Menschen, seiner Probleme und seiner Erfahrungen bei dem Versuch, sich selbst und die Welt zu erkennen und zu vollenden; sie gehen darauf aus, die Situation des Menschen in Geschichte und Universum zu erhellen, sein Elend und seine Freude, seine Not und seine Kraft zu schildern und ein besseres Los des Menschen vorausahnen zu lassen«.(18)
Auf diesem Fundament haben die Vater zum Abschluß des Konzils ein Grußwort und einen Appell an die Künstler gerichtet: »Diese Welt — so sagten sie —, in der wir leben, hat Schönheit nötig, um nicht in Verzweiflung zu verfallen. Die Schönheit legt, wie die Wahrheit, die Freude in das Herz des Menschen und ist eine kostbare Frucht, die dem zeitlichen Verschleiß widersteht, die Generationen verbindet und sie in der Bewunderung miteinander in Kommunikation treten läßt!«.(19) Genau in diesem Geist tiefer Achtung vor der Schönheit hatte die Konstitution über die Heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium an die historische Freundschaft der Kirche zur Kunst erinnert. Als sie im besonderen von der sakralen Kunst als der »höchsten Form« religiöser Kunst sprach, hatte die Konstitution nicht gezögert, das Wirken der Künstler als »edlen Dienst« anzusehen, wenn ihre Werke in der Lage sind, in gewisser Weise die unendliche Schönheit Gottes widerzuspiegeln sowie Geist und Sinn der Menschen auf ihn hinzulenken.(20) Auch ist es dem Beitrag der Künstler zu verdanken, daß »das Wissen um Gott besser verdeutlicht und die evangelische Botschaft dem Geist der Menschen zugänglicher« wird.(21) Im Licht des eben Gesagten kann die Äußerung von P. Marie Dominique Chenu nicht überraschen, wonach selbst der Theologiehistoriker unvollständige Arbeit leisten würde, wenn er den literarischen wie auch bildnerischen Kunstwerken nicht die gebührende Aufmerksamkeit erwiese; stellen sie doch auf ihre Weise »nicht nur ästhetische Illustrationen, sondern richtige theologische “Orte” dar«.(22)
Die Kirche braucht die Kunst
12. Um die Botschaft weiterzugeben, die ihr von Christus anvertraut wurde, braucht die Kirche die Kunst. Denn die Kirche soll die Welt des Geistes, des Unsichtbaren, die Welt Gottes wahrnehmbar, ja, so weit als möglich, faszinierend machen. Sie muß also das an sich Unaussprechliche in bedeutungsvolle Formeln übertragen. Nun besitzt die Kunst die eigentümliche Fähigkeit, den einen oder anderen Aspekt der Botschaft herauszugreifen und ihn in Farben, Formen, Töne umzusetzen, welche die Intuition des Betrachters oder Hörers begünstigen. Und das geschieht, ohne die Botschaft ihrer transzendenten Bedeutung zu berauben und ihr den Nimbus eines Geheimnisses zu nehmen.
Die Kirche braucht im besonderen Leute, die all das auf literarischer und bildnerischer Ebene dadurch zu verwirklichen vermögen, daß sie mit den unendlichen Möglichkeiten der Bilder und ihrer symbolischen Bedeutungen arbeiten. Christus selbst hat der Entscheidung entsprechend, in der Menschwerdung selbst zur Ikone des unsichtbaren Gottes zu werden, in seiner Verkündigung umfassend von Bildern Gebrauch gemacht.
Ebenso braucht die Kirche Musiker. Wie viele Kirchenkompositionen sind im Laufe der Jahrhunderte von Menschen geschaffen worden, die zutiefst vom Sinn des Geheimnisses erfüllt waren! Unzählige Gläubige haben ihren Glauben von Melodien genährt, die im Herzen anderer Glaubender entstanden und Teil der Liturgie oder zumindest eine äußerst wirksame Hilfe für ihre würdevolle Gestaltung geworden sind. Im Gesang erfährt sich der Glaube als überschwengliche Freude, Liebe und zuversichtliche Erwartung des rettenden Eingreifens Gottes.
Die Kirche braucht Architekten, weil sie Raume benötigt, wo das christliche Volk sich versammeln und die Heilsgeheimnisse feiern kann. Nach den furchtbaren Zerstörungen des letzten Weltkrieges und der Expansion der Großstädte hat sich eine neue Architektengeneration an den Erfordernissen des christlichen Gottesdienstes versucht und damit die Kraft der Inspiration bestätigt, die das religiöse Thema auch gegenüber den architektonischen Kriterien unserer Zeit besitzt. Nicht selten wurden nämlich Gotteshauser errichtet, die zugleich Orte des Gebetes und echte Kunstwerke sind.
Braucht die Kunst die Kirche?
13. Die Kirche braucht also die Kunst. Kann man auch sagen, daß die Kunst die Kirche braucht? Die Frage mag provokant erscheinen. Tatsächlich aber hat sie, wenn sie richtig verstanden wird, ihre legitime und tiefgehende Begründung. Der Künstler sucht immer nach dem verborgenen Sinn der Dinge; seine quälende Sorge ist, daß es ihm gelinge, die Welt des Unaussprechlichen auszudrücken. Sieht man da nicht, welch große Inspirationsquelle für ihn jene Art von seelischer Heimat sein kann, wie sie die Religion darstellt? Werden etwa nicht im religiösen Bereich die wichtigsten persönlichen Fragen gestellt und die endgültigen existentiellen Antworten gesucht?
In der Tat gehört die religiöse Frage zu den von den Künstlern jeder Epoche am meisten behandelten Themen. Die Kirche hat stets an deren kreative Fähigkeiten appelliert, damit sie die Botschaft des Evangeliums und ihre konkrete Anwendung im Leben der christlichen Gemeinschaft darstellen. Diese Zusammenarbeit war eine Quelle gegenseitiger geistiger Bereicherung. Nutzen gezogen hat daraus schließlich das Verständnis vom Menschen, seines authentischen Bildes und seiner Wahrheit. Zutage getreten ist auch die besondere Verbindung, die zwischen Kunst und christlicher Offenbarung besteht. Das soll nicht heißen, daß der geniale menschliche Geist nicht auch in anderen religiösen Umfeldern anregende Eindrücke gefunden hat. Man denke nur an die antike, besonders die griechische und römische Kunst und an die noch immer blühende Kunst der ältesten orientalischen Kulturen. Es ist jedoch wahr, daß das Christentum kraft des zentralen Dogmas von der Fleischwerdung des Wortes Gottes dem Künstler einen Horizont anbietet, der besonders reich an inspirierenden Motiven ist. Welche Verarmung wäre für die Kunst ein Aussetzen des unerschöpflichen Stromes des Evangeliums!
Appell an die Künstler
14. Mit diesem Brief wende ich mich an euch, ihr Künstler auf der ganzen Welt, um euch meine Wertschätzung zu versichern und beizutragen zur Wiederanknüpfung einer noch nützlicheren Zusammenarbeit zwischen Kunst und Kirche. Meinerseits lade ich dazu ein, die Tiefe der geistlichen und religiösen Dimension wiederzuentdecken, wie sie zu allen Zeiten für die Kunst in ihren edelsten Ausdrucksformen charakteristisch war. Aus dieser Perspektive appelliere ich an euch Künstler des geschriebenen und gesprochenen Wortes, des Theaters und der Musik, der bildenden Künste und der modernen Technologien der Kommunikation. Besonders wende ich mich an euch christliche Künstler: Ich möchte einen jeden daran erinnern, daß das seit jeher bestehende Bündnis zwischen Evangelium und Kunst über die funktionalen Erfordernisse hinaus die Aufforderung einschließt, mit schöpferischer Intuition in das Geheimnis des menschgewordenen Gottes und zugleich in das Geheimnis des Menschen einzudringen.
Jeder Mensch ist in einem gewissen Sinn sich selbst unbekannt. Jesus Christus offenbart nicht nur Gott, sondern »er macht dem Menschen den Menschen selbst voll kund«.(23) In Christus hat Gott die Welt mit sich versöhnt. Alle Glaubenden sind aufgerufen, davon Zeugnis zu geben; aber an euch Männern und Frauen, die ihr euer Leben der Kunst gewidmet habt, liegt es, mit dem Reichtum eurer genialen Begabung zu sagen, daß in Christus die Welt erlöst wird: erlöst wird der Mensch, erlöst wird der menschliche Leib, erlöst wird die ganze Schöpfung, die, wie der hl. Paulus geschrieben hat, »sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes wartet« (Röm 8,19). Sie erwartet die Offenbarung der Söhne Gottes auch durch die Kunst und in der Kunst. Das ist eure Aufgabe. Vom Kontakt mit den Kunstwerken erwartet sich die Menschheit aller Zeiten — auch die heutige —, über ihren Weg und ihre Bestimmung aufgeklärt zu werden.
Schöpfergeist und künstlerische Inspiration
15. In der Kirche ist häufig die Anrufung des Heiligen Geistes zu vernehmen: Veni, Creator Spiritus… — »Komm, Heilger Geist, der Leben schafft, erfülle uns mit deiner Kraft. Dein Schöpferwort rief uns zum Sein: nun hauch uns Gottes Odem ein«.(24)
Auf den Heiligen Geist, »den Hauch« (ruah), weist bereits das Buch Genesis hin: »Die Erde war wüst und leer, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser« (1,2). Welch große Ähnlichkeit besteht zwischen den Worten »Hauch — Hauchen« und »Einhauchung«, Inspiration! Der Geist ist der geheimnisvolle Künstler des Universums. Im Ausblick auf das dritte Jahrtausend möchte ich allen Künstlern wünschen, daß sie reichlich das Geschenk jener schöpferischen Inspirationen empfangen können, von denen jedes echte Kunstwerk seinen Anfang nimmt.
Liebe Künstler, ihr wißt sehr wohl: Es gibt viele innere und äußere Anregungen, die euer Talent inspirieren können. Jede echte Inspiration jedoch enthält etwas von dem Rauschen jenes »Hauches«, mit dem der Schöpfergeist von Anbeginn das Schöpfungswerk durchdrang. Während er über die geheimnisvollen Gesetze wacht, die das Universum lenken, trifft der göttliche Hauch des Schöpfergeistes mit dem Geist des Menschen zusammen und stimuliert dessen schöpferische Begabung. Er erreicht den menschlichen Geist durch eine Art innere Erleuchtung, welche die Anlage des Guten und des Schönen miteinander verbindet, und weckt in ihm die Kräfte des Verstandes und des Herzens, während er ihn dazu befahigt, eine Idee zu konzipieren und ihr im Kunstwerk Gestalt zu geben. Man spricht dann zu Recht, wenngleich in analoger Weise, von »Gnadenmomenten«, weil der Mensch die Möglichkeit hat, eine Erfahrung des ihn übersteigenden Absoluten zu machen.
Die »Schönheit«, die rettet
16. An der Schwelle des dritten Jahrtausends wünsche ich euch allen, liebe Künstler, daß ihr mit besonderer Intensitat von diesen schöpferischen Inspirationen erreicht werdet. Die Schönheit, die ihr an die Generationen von morgen weitergebt, möge so beschaffen sein, daß sie in ihnen das Staunen weckt! Angesichts der Heiligkeit des Lebens und des Menschen, angesichts der Wunder des Universums ist die einzig angemessene Haltung die des Staunens.
Aus diesem Staunen heraus wird jene Begeisterung entspringen können, von der Norwid in dem Gedicht spricht, auf das ich mich am Anfang bezogen habe. Solche Begeisterung brauchen die Menschen von heute und morgen, um sich den entscheidenden Herausforderungen, die sich am Horizont ankündigen, zu stellen und sie zu bewältigen. Ihr ist es zuzuschreiben, daß sich die Menschheit nach jeder Verwirrung wieder aufrichten und ihren Weg neu aufnehmen können. Genau in diesem Sinn hat man mit tiefer intuitiver Erkenntnis gesagt, daß »die Schönheit die Welt retten wird«.(25)
Die Schönheit ist Chiffre des Geheimnisses und Hinweis auf das Ewige. Sie ist Einladung, das Leben zu genießen und von der Zukunft zu träumen. Deshalb vermag die Schönheit der geschaffenen Dinge nicht zu befriedigen und weckt jene heimliche Sehnsucht nach Gott, die ein so leidenschaftlicher Liebhaber des Schönen wie der hl. Augustinus mit unvergleichlichen Worten einzufangen wußte: »Spät hab ich dich geliebt, du Schönheit, ewig alt und ewig neu, spät hab ich dich geliebt!«.(26)
Ich wünsche euch Künstlern der Welt, daß eure vielfaltigen Pfade alle zu jenem unendlichen Ozean der Schönheit führen mögen, wo das Staunen zu trunkener Bewunderung und unsagbarer Freude wird.
Ich wünsche euch, daß das Geheimnis des auferstandenen Christus, dessen Betrachtung sich die Kirche in diesen Tagen mit Freude hingibt, eure Arbeit inspiriere.
Es begleite euch die heilige Jungfrau Maria, die »Tota Pulchra«, die unzählige Künstler dargestellt haben und die der große Dante im Strahlenkranz des Paradieses betrachtet als »Schönheit und Freude, die allen anderen Heiligen vor Augen stand«.(27)
»Aus dem Chaos taucht die Welt des Geistes auf«. Aus den Worten, die Adam Mickiewicz in einem Augenblick großen Leidens für die polnische Heimat schrieb,(28) leite ich einen Wunsch für euch ab: Eure Kunst trage dazu bei, die wahre Schönheit herauszustellen, die als eine Art Widerschein des Geistes Gottes die Materie verwandle und dem Inneren der Menschen den Sinn für das Ewige erschließe.
Das wünsche ich euch aus ganzem Herzen!
Aus dem Vatikan, am 4. April, Ostersonntag 1999.
(1) Dialogus de ludo globi, lib. II: Philosophisch-Theologische Schriften, Wien 1967, III, S. 332.
(2) Die sittlichen Tugenden und darunter besonders die Besonnenheit lassen den Menschen nach dem Kriterium des sittlich Guten und des sittlich Bösen handeln: gemäß der recta ratio agibilium (des richtigen Kriteriums des Verhaltens). Die Kunst hingegen wird in der Philosophie als recta ratio factibilium (das richtige Kriterium der Realisierung) definiert.
(3) Promethidion: Bogumil, v. 185-186: Pisma wybrane, Warszawa 1968, vol. 2, p. 216.
(4) Diesen Aspekt drückt die griechische Übersetzung der Septuaginta eindrucksvoll aus, wenn sie das Wort t(o-)b (gut) des hebraischen Textes mit kalón (schön) wiedergibt.
(5) Philebos, 65 A.
(6) JOHANNES PAUL II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), n. 80: AAS 91 (1999), 67.
(7) Dieses pädagogische Prinzip wurde vom hl. Gregor dem Großen 599 in einem Brief an Bischof Serenus von Marseille in kompetenter Weise formuliert: «Die Malerei wird in den Kirchen verwendet, damit die Analphabeten wenigstens, wenn sie auf die Wände schauen, das lesen, was sie in den Codices nicht zu entziffern in der Lage sind» (Epistulae, IX, 209: CCL 140A, 1714).
(8) Lodi di Dio altissimo, V. 7 u. 10, in: Fonti Francescane, n. 261, Padua 1982, S. 177.
(9) Legenda maior, IX, 1, in: Fonti Francescane, n. 1162, a.a.O., S. 911.
(10) Enkomia der Matutin vom Karsamstag.
(11) Homilie I, 2: PG 34, 451.
(12) »At nobis ars una fides et musica Christus«: Carmen 20,31: CCL 203, 144.
(13) Vgl. JOHANNES PAUL II., Apostolisches Schreiben Duodecimum Saeculum (4. Dezember 1987), 8-9: AAS 80 (1988) 247-249.
(14) La prospettiva rovesciata ed altri scritti, Rom 1984, S. 63.
(15) Paradiso XXV,1-2.
(16) Vgl. JOHANNES PAUL II., Predigt während der hl. Messe anläßlich der Beendigung der Restaurierung der Fresken von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle (8. April 1994): Insegnamenti 171 (1994), 899-904.
(17) Vgl. AAS 56 (1964), 438-444.
(18) N. 62.
(19) Botschaft an die Künstler (8. Dezember 1965): AAS 58 (1966), 13.
(20) Vgl. N. 122.
(21) II. VAT. KONZIL, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 62.
(22) La teologia nel XII secolo, Jaca Book, Mailand 1992, S. 9.
(23) II. VAT. KONZIL, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 22.
(24) Hymnus bei der Vesper zum Pfingstfest.
(25) F. DOSTOJEWSKIJ, Der Idiot, III. Teil, Kap. V.
(26) »Sero te amavi! Pulchritudo tam antiqua et tam nova, sero te amavi!«: Confessiones 10, 27,38: CCL 27, 251.
(27) Paradiso XXXI, 134-135.
(28) Oda do mlodosci, 69: Wybór poezji, Wroclaw 1986, vol. 1, p. 63.
© Copyright – Libreria Editrice Vaticana
Schreibe einen Kommentar