Hl. Karl Borromäus

Hl. Karl Borromäus – Das Haus, das auf Fels gebaut ist

Quelle
Der standhafte Karl Borromäus
Bistum Augsburg – Hl. Karl Borromäus

„Alles, was der hl. Karl getan oder gewirkt hat, hat er auf den  festen Fels gebaut, der Christus ist, auf die volle Kohärenz und Treue zum Evangelium, auf die bedingungslose Liebe zur Kirche des Herrn.“

Der Beitrag des emeritierten Erzbischofs von Mailand beim Meeting von Rimini.

Von Kardinal Dionigi Tettamanzi, 2011

Alles ist Gnade: der Blick auf den hl. Karl

Ja, „alles ist Gnade“.

Auch unsere heutige Begegnung. Ich spüre die Hand der göttlichen Vorsehung auf mir. Jener Vorsehung, die gewollt hat, dass mein letztes Jahr an der pastoralen Leitung der Erzdiözese Mailand mit dem 400. Jahrestag der Heiligsprechung des Karl Borromäus am 1. November 1610 durch Papst Paul V. zusammenfiel. Ich möchte dem Herrn danken für dieses Jahr, das so intensiv war und so reich an Initiativen von grosser spiritueller, pastoraler und kultureller Bedeutung für die Kirche Mailands.

Erlauben Sie mir, an einige Fakten zu erinnern, vor allem an den Beginn dieses Jahrestages, an dem das bedeutungsvolle Apostolische Schreiben von Benedikt XVI., Lumen caritatis, vom 1. November 2010, stand, das dasselbe Datum trägt wie der Jahrestag der Heiligsprechung. Es war ein wichtiges und für mich besonders freudiges Ereignis, das mir die Gelegenheit gab, den Mailänder Gläubigen am Festtag des hl. Karl, am 4. November vergangenen Jahres, das Schreiben des Papstes vorzulesen. In besagtem Schreiben stellt der Heilige Vater einige grundlegende Aspekte der Heiligkeit des Karl Borromäus heraus.

Lassen Sie sie mich aufzählen.

Der erste Aspekt betrifft sein Werk als Reformbischof. Durch die kluge und getreue Umsetzung der Dekrete des Konzils von Trient hat der hl. Karl jene Kirche reformiert, die er zutiefst geliebt hat; ja, gerade weil er ihr eine so aufrichtige Liebe entgegenbrachte, wollte er sie erneuern; wollte ihr dazu verhelfen, wieder in ihrem schönsten Antlitz zu erstrahlen, dem der Braut Christi, einer Braut ohne Makel, ohne Falten.

Kommen wir zu einem zweiten Aspekt der Heiligkeit des Karl Borromäus: er war ein Mann des Gebets, des überzeugten, innigen und ausgiebigen Gebets; eines in seinem Leben als Seelenhirt erstarkten und blühenden Gebets. Und wenn der hl. Karl verliebt war in die Kirche, dann war er zuerst verliebt in den Herrn Jesus, der in der Kirche gegenwärtig ist und in ihr wirkt, und nicht nur in ihr, sondern auch in ihrer lehrmäßigen und spirituellen Tradition, in der Eucharistie, im Wort Gottes. Vor allem aber war er in den gekreuzigten Christus verliebt, wie uns die Ikonographie zeigt, die uns nicht umsonst das Bild dieses Heiligen in Kontemplation und Verehrung der Passion und des Kreuzes des Herrn überliefern wollte.

Und schließlich war Karl Borromäus – so ruft uns der Papst ins Gedächtnis – auch deshalb heilig, weil er die Gestalt des eifrigen und großzügigen Guten Hirten personifizierte, der bereit ist, der ihm anvertrauten Herde sein Leben ganz hinzugeben: der hl. Karl war durch seine häufigen Pastoralbesuche wirklich in der ganzen Diözese Mailand „allgegenwärtig“, er hatte in fast schon prophetischer Weise ein offenes Ohr für die Probleme seiner Zeit. Vor allem aber war er – wie alle großen Bischöfe des Mittelalters – wahrlich pater pauperum, Vater der Ärmsten und Schwächsten: man denke nur daran, wie viel er im Bereich der Wohlfahrt und der Caritas in dem schicksalsträchtigen Jahr 1576 getan hat, als Mailand von Pest und Hungersnot heimgesucht wurde. Das Schreiben des Papstes trägt zu Recht den Titel Lumen caritatis: es nimmt ausdrücklich Bezug auf die pastorale Liebe, die der hl. Karl Tag für Tag auf so heldenhafte Weise zu leben und zu geben wusste.

Und wirklich: in der Nachfolge Christi, der sein Leben hingegeben hat für unser Heil, hat der hl. Karl sein eigenes Leben im wahrsten Sinne des Wortes in der pastoralen Liebe „aufgehen“ lassen. Als er Bischof von Mailand wurde, stellte er die Sache des Evangeliums und das Wohl der Kirche in programmatischer und systematischer Weise über alles: über die eigene Bequemlichkeit, über jedes persönliche Interesse, die Interessen seiner Familie oder seines Freundeskreises, ja auch über seine Freizeit – was sogar soweit ging, dass er sich für sich selbst gar keine Zeit nahm, denn – wie er zu sagen pflegte – : die einem Bischof zur Verfügung stehende Zeit muss ausschließlich dem Seelenheil gewidmet sein.

Der Jahrestag von Mailand bis Rimini

Es ist mir eine große Freude, dass der Jahrestag des hl. Karl, begonnen mit dem Wort des Papstes, in einem gewissen Sinne hier in Rimini ausklingt, mit dieser Begegnung, die ein doppeltes Anliegen hat: ein kulturelles und ein spirituelles.

Da ist ein unleugbar kultureller Aspekt: heute wird nämlich eine Lehrausstellung über das Leben und pastorale Wirken des Karl Borromäus eröffnet; mit vielen Schautafeln, erläuternden Texten, umfangreichem Multimedia-Material. Es gibt auch einen Katalog mit wissenschaftlichen Beiträgen. All das ist wichtig, weil es uns in die Lage versetzt, ihn immer besser kennenzulernen, über viele Banalisierungen – ja vielleicht sogar ideologisch vorurteilsbehaftete Verzerrungen – hinaus; weil es uns ermöglicht, das wahre Gesicht dieses großen Bischofs und wahren Verfechters der tridentinischen Reform der Kirche zu zeigen.

Mir persönlich liegt allerdings daran, vor allem den spirituellen Aspekt der Initiative herauszustellen, der schon aus dem Titel hervorgeht, den die Organisatoren dieser Ausstellung geben wollten: „Das Haus, das auf Fels gebaut ist“. Er bezieht sich auf eine berühmte Passage der Bergpredigt, mit dem Gleichnis von den zwei Männern, von denen einer sein Haus auf Sand baute, der andere auf Fels. Und das Resultat ist leicht vorhersehbar: das Haus des ersten wird schon von den ersten Anfechtungen des Lebens und der Stürme der Geschichte zum Einsturz gebracht; das zweite dagegen trotzt den Widrigkeiten des Lebens, den Unbilden der Geschichte und hält stand. Es ist der Fels, auf dem Christus der Herr sein Haus gebaut hat, es ist Sein Evangelium der Wahrheit und des Lebens (vgl. Mt 7, 24-27).

Dieses Gleichnis passt in besonderer Weise auf den hl. Karl und sein Werk: alles, was er getan und gewirkt hat, hat er auf den festen Fels gebaut, der Christus ist, auf die vollkommene Bejahung und Treue zum Evangelium, auf die bedingungslose Liebe zur Kirche des Herrn. Deshalb konnte das, was der hl. Karl erbaut hat, den Stürmen seiner Zeit standhalten; konnten ihm auch die vielen vorübergehenden Jahrhunderte nichts anhaben, wie der Umstand bezeugt, dass viele seiner Intuitionen, viele der von ihm entworfenen und durchgeführten pastoralen und institutionellen Initiativen bis zum heutigen Tag Gültigkeit haben, und nicht nur für die Diözese Mailand, sondern für die gesamte lateinische Kirche des Westens.

Ein aktueller oder inaktueller Heiliger?

Es ist kein Zufall, wenn ich von „Aktualität“ spreche, denn ich muss gestehen, dass ich mich an diesem Jahrestag, während wir die wichtigsten Aspekte der Heiligkeit des Karl Borromäus Revue passieren ließen, mehrfach gefragt habe, ob er tatsächlich ein noch immer „aktueller“ Heiliger ist: ob er uns also heute – wie vor 400 Jahren – noch etwas Bedeutungsvolles zu sagen hat; ob er ein Vorbild für ein evangeliumsgemäßes Leben ist, das wir nicht nur bewundern können, sondern das wir in irgendeiner Weise auch nachahmen sollen.

Auf diese Frage, die ja im Grunde schon auf der Hand lag, können wir ohne zu zögern antworten: Ja! Der hl. Karl hat uns noch heute etwas zu sagen; er ist ein noch heute gültiges Vorbild der Heiligkeit. Und das Schreiben des Papstes, von dem wir hier ausgegangen sind, die Ausstellung hier in Rimini, die verschiedenen Initiativen in diesem „Karlsjahr“, zeigen das auf unmissverständliche Weise.

Gewiss, wir dürfen nicht Gefahr laufen, in einen Anachronismus zu verfallen, denn wir müssen offen zugeben, dass nicht wenige Dinge in der Kirche und in der Welt heute anders sind als sie es im späten 16. Jahrhundert waren. Und wir müssen auch zugeben, dass einige Aspekte des pastoralen Wirkens des hl. Karl – ebenso wie einige Aspekte seines Lebensstils (denken wir vor allem an seine überaus strenge Selbstkasteiung) – heutenicht automatisch auf unsere Zeit übertragen werden können. Aber trotz dieser offensichtlichen Feststellung, die überdies immer gilt, wenn wir auf Persönlichkeiten der Vergangenheit Bezug nehmen, gibt es einige wichtige Punkte der Heiligkeit des Karl Borromäus, die in ihrer tieferen und evangeliumsgemäßen Bedeutung tatsächlich immerwährende Gültigkeit haben. Also auch für unser christliches Leben des dritten Jahrtausends, in dem Maße, in dem auch wir heute, ebenso wie er vor 400 Jahren – „wie kluge Männer“ –, „unser Haus auf Fels bauen wollen“.

Dennoch liegt in der Gestalt des hl. Karl unter diesem Aspekt auch eine große Herausforderung – stellt sie doch viele Aspekte der Denk- und Lebensart unserer heutigen Welt in Frage. Das war auch der Grund, warum ich zu diesem Jahrestag nicht nur einige Erfahrungen und persönliche Erinnerungen meiner Annäherung an die Gestalt des Karl Borromäus sammeln, sondern diesem Thema auch ein Buch widmen wollte, das den Titel trägt: San Carlo, un riformatore inattuale.

Lassen Sie mich noch ein wenig bei diesem Adjektiv verweilen. „Inaktuell“ ist das direkte Gegenteil von „aktuell“. Diese zwei Begriffe stehen aber nur scheinbar im Gegensatz zueinander, weil der eine leicht in den anderen übergehen kann. Wenn man nämlich mit „aktuell“ meint: „der augenblicklichen Mode entsprechend“, „der Mentalität der gegenwärtigen Zeit entsprechend“, „der gängigsten Meinung entsprechend“, dann ist es klar, dass der hl. Karl „inaktuell“ ist. Wir haben es bereits gesagt, aber lassen Sie es mich zum besseren Verständnis der Begriffe aktuell-inaktuell noch einmal klarstellen: die Zeit des Karl Borromäus ist nicht die unsrige; seine Art, die Probleme einzuschätzen und zu lösen, ist nicht die unsrige – wir können seine Lösungen schon rein technisch nicht einfach auf unsere sozusagen „aktuelle“ Zeit übertragen.

Wenn man auf der anderen Seite unter „inaktuell“ das versteht, was in den grundlegenden Werten der christlichen Tradition verwurzelt ist, wenn „inaktuell“ bedeutet, noch an jenen Fels gebunden zu sein, der Jesus Christus ist und der der ge­samten Struktur des Hauses ihren wahren Halt gibt, wenn all das als „inaktuell“ eingestuft wird, nur weil es nicht zu dem passt, was heute als „politically correct“ gilt, dann müssen wir uns fragen, ob die Inaktualität des hl. Karl nicht zu einem einzigartigen und dringlichen Erfordernis des Umdenkens, der Neubewertung unserer Urteilsmaßstäbe, der Umstellung der Form unseres Lebens und unseres Zusammenlebens wird.

Eine für unsere Zeit prophetische und wohltuende „Inaktualität“

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang versuchen, drei Beispiele aus der Biographie des hl. Karl auf unsere „aktuelle“ Zeit anzuwenden.

Das erste betrifft die Treue zu unserem Lebensstand als Form der christlichen Identität. Karl Borromäus war sich bewusst, was es bedeutete, in einer entscheidenden Übergangszeit Bischof einer wichtigen Diözese zu sein – einer Zeit der Reform und der Veränderung. Gerade aus diesem Grund versuchte er stets, seine Beschlüsse und sein Handeln einer wahren „Deontologie“ anzupassen, der er auf heldenhafte Weise treu blieb und der er alles andere zu opfern bereit war. Dasselbe Pflichtbewusstsein verlangte der hl. Karl auch von seinen Priestern; und er verlangte es von den Laiengläubigen, Männern und Frauen, ihrer jeweiligen Befindlichkeit entsprechend. Für Halbherzigkeit und Bequemlichkeit hatte er kein Verständnis, ebenso wenig wie für Mittelmäßigkeit. Die Historiker erinnern uns daran, dass er als junger Kardinal in Rom, vor seiner sogenannten „Bekehrung“, ein „Christentum ohne Lob und Tadel“ gelebt hatte. Und gerade darin liegt die Gefahr, der wir Christen heute, ja die Priester und Bischöfe, ausgesetzt sind: uns mit einem lauen christlichen Leben zu begnügen, in dem wir das „makroskopische“ Übel (das Schmach über uns bringt) zu recht meiden, uns aber zur Beruhigung des eigenen Gewissens auf das notwendige Minimum beschränken, schnell und ohne allzu großen Aufwand.

Heute, wo wir alle uns als schon gefestigt betrachten und uns nicht allzu unstet fühlen wollen, von „Bekehrung“ zu sprechen, könnte daher „inaktuell“, oder doch zumindest unangemessen, anmuten. Das Beispiel des hl. Karl dagegen ist überaus aktuell und von einer einzigartigen Dringlichkeit, weil die Christen, alle Christen auf jeder Ebene, in der Kirche stets gerufen sind, „umzukehren“: von einem Christentum „ohne Lob und Tadel“, einem Christentum, das farblos und schal ist (also ohne das Licht und das Salz des Evangeliums), zu einem überzeugten christlichen Leben, das hell und wachsam ist, zur getreuen Erfüllung unserer Pflicht stets und überall, zur Suche eines Weges der Vervollkommnung, der uns dem Modell aller Vollkommenheit immer näher bringt: Christus Jesus, unserem Herrn. Und genau das hat der hl. Karl auf programmatische und systematische Weise getan: sein Vorbild lässt keinen Raum für Ausflüchte oder Ablenkungen. Er ist tatsächlich stets aktuell, weil er die Christen aller Zeiten, auch uns Christen des dritten Jahrtausends, an die immerwährende und unverzichtbare Notwendigkeit gemahnt, uns in Frage zu stellen. Vor allem muss ich sagen, dass mir die Lektüre der Schriften des hl. Karl und seine pastoralen Richtlinien den klaren Eindruck vermittelt haben, dass ihm die Distanz – die ja überdies immer besteht – zwischen dem Ziel, zu dem der Herr uns ruft (der Heiligkeit), und unserer konkreten Antwort ein gewisses Unbehagen bereitete. Und wenn sich schon der hl. Karl schuldig fühlte – daher sein Unbehagen, sein Gefühl, mit dem Gewissen nicht im Reinen zu sein –, was könnten dann erst wir tun oder sagen? Hier stellt sich eine Frage, der wir uns nicht entziehen können: wo, in welchen Bereichen unseres Lebens, unserer Standespflichten, müssen wir dem Vorbild des hl. Karl folgend, noch „umkehren“, um einem mittelmäßigen christlichen Leben „ohne Lob und Tadel“ zu entrinnen?

Aber Karl Borromäus ist noch unter einem anderen Aspekt aktuell: aufgrund seiner ausgezeichneten Fähigkeit, Tun und Kontemplation in Einklang miteinander zu bringen. Wir alle haben die Bilder des im Gebet – besonders vor dem Kreuz – versunkenen hl. Karl deutlich vor Augen, eingetaucht in wahre mystische Erfahrungen. Aber die starke kontemplative Dimension, nach der er sein Leben auszurichten verstand, ließ ihn doch nie seine Pflichten als Seelenhirt vernachlässigen.Im Gegenteil: wir können sagen, dass er gerade deshalb ein so bedeutender, vorbildlicher Bischof und Seelenhirt wurde, weil sein pastorales Wirken zutiefst von Gebet und Kontemplation durchdrungen war. Der hl. Karl hat in seinem Leben viel „getan“. Er hat so viele Projekte zu Ende geführt, dass man sich erstaunt fragen muss, woher er die Zeit und die Kraft dafür genommen hat. Man ist fast versucht zu sagen, dass das alles an ein Wunder grenzt: und das tut es ja auch! Es hat tatsächlich etwas Wundersames, weil alles so vom Gebet durchdrungen war, vom Zwiegespräch mit Gott, von der liebevollen Betrachtung der Heilsgeheimnisse Christi, angefangen bei Seiner Passion, Seinem Tod und Seiner Auferstehung. Das ist die stets aktuelle Botschaft, die uns der hl. Karl bringt: die Gemeinschaft mit Gott, das Gebet, die Kontemplation, entreißen uns der Geschichte nicht, sondern tauchen uns nur umso tiefer in sie ein und geben uns die Kraft, in der Welt und für die Welt Wunder zu wirken. Unsere Zeit dagegen ist eine Zeit der übertriebenen Aktivität, des frenetischen Schaffens, der Fließbandproduktion von Gütern und Dienstleistungen. So kommt es, dass die Menschen in unserer Zeit nicht nach dem beurteilt werden, was sie sind, sondern was sie tun und was sie leisten. Wie könnte man in einem solchen Kontext von Kontemplation, Meditation, Gebet und Stille nicht sprechen wie von etwas, das zu den „inaktuellsten“ Dingen gehört, die unsere Zeit erleben kann? Wahr ist jedoch genau das Gegenteil. Der hl. Karl hat uns daran gemahnt, uns nicht von dieser Art Droge täuschen zu lassen, sondern Ordnung in unser Leben zu bringen und den Primat Gottes über alles wieder herzustellen, in der Gewissheit, dass der Rest folgen wird. Nicht umsonst hat uns der Herr ermahnt: „Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben“ (Mt 6, 33).

Und wenn es einen Aspekt des pastoralen Wirkens des hl. Karl gegeben hat, der seine Zeitgenossen so sprachlos machte, dass sie ihn als außergewöhnlichen Menschen zu betrachten begannen, dann war das sein karitatives Wirken. Vor allem bei der schrecklichen Pest-Epidemie des Jahres 1576 gab er im wahrsten Sinn des Wortes sein Letztes: er entledigte sich nicht nur seiner Familiengüter und verschenkte seinen persönlichen Besitz, sondern sein ganzes Hab und Gut, nicht nur überflüssige Dinge, um der geplagten Mailänder Bevölkerung zu helfen. Und er tat dies mit Weitblick: beharrte er doch darauf, dass einige Wohlfahrtseinrichtungen auch dann noch bestehen blieben, wenn die Pestwelle wieder abgeebbt war. Er wusste, dass Armut, Bedürftigkeit, Ausgrenzung, sozialer und moralischer Verfall kein kurzfristiger, sondern ein andauernder Notstand waren. So ragte der hl. Karl allzeit als väterlicher Beschützer der Armen heraus – eines jeden Armen, eines jeden Menschen, der ihm hilfesuchend die Hände entgegenstreckte. Er war auch – um es mit einem Begriff unserer modernen Kultur zu beschreiben – ein „Sozialheiliger“: er verstand es, die sozialen Probleme seiner Zeit im Licht des Evangeliums zu sehen, hatte auch den ein oder anderen Lösungsvorschlag parat – und schon gar keine Angst, die Geißeln der Gesellschaft seiner Zeit anzuprangern: öffentliche Korruption, Wucher, ungerechte Privilegien gewisser Kasten, das Fehlen dessen, was wir heute „Bürgergewissen“ oder „Interesse am Gemeinwohl“ nennen.

Aber es gibt noch einen anderen Aspekt der Heiligkeit des Karl Borromäus, an den erinnert werden sollte: die asketische Dimension seines Lebens. Hier ging er so hart mit sich ins Gericht, dass er sogar in seinem näheren Umfeld kritisiert, ja oft missverstanden wurde. Er war arm, keusch, demütig, bußfertig; das Fasten praktizierte er mit großer Konsequenz; er betete oft bis spät in die Nacht, um tagsüber mehr Zeit für seine pastoralen Pflichten zu haben. Ruhe gönnte er sich kaum, um nicht zu sagen gar nicht. Wir wissen, dass ihn die Ärzte des Öfteren tadelten, weil er sich nicht genügend schonte – und seine lapidare Antwort lautete nur, dass wer auf die Ärzte hört, kein guter Bischof sein kann! Als ihn im Alter von nur 46 Jahren der Tod ereilte, wurde ein Leben beendet, in dem er sich mit seiner strengen Askese im wahrsten Sinne des Wortes aufgezehrt hatte. Dieser Aspekt mag uns erstaunen, und er hat auch seine Zeitgenossen erstaunt, die sich zu recht fragten, ob man dem hl. Karl in diesen in so hohem Maß geübten Tugenden überhaupt nacheifern könne. Und das fragen wir uns auch heute, ohne jedoch der Versuchung zu erliegen, die Übung der asketischen Tugenden in dem vom hl. Karl praktizierten Ausmaß als übertrieben zu beurteilen, ihn also unseren heutigen Parametern entsprechend als „inaktuell“ einzustufen. Ein solches Urteil könnte nämlich nur allzu leicht als bequeme Ausrede dafür dienen, ihm nicht nacheifern zu müssen! Wir sind vielmehr gerufen, ehrlich genug zu sein, in diesem Aspekt eine große Aktualität zu sehen: wenn man nämlich heute von „Askese“, „Buße“ oder „Verzicht“ spricht, läuft man Gefahr, ausgelacht oder als altmodisch bezeichnet zu werden, als jemand mit „mittelalterlichen“ Ansichten. Dabei haben doch gerade wir es so dringend nötig, unseren Lebensstil zu überdenken, ihn zu läutern, wieder maßvoller werden zu lassen; uns zu beherrschen und unsere Sinne, Instinkte und unkontrollierten Leidenschaften wieder in den Griff zu bekommen: als Weg zu einer inneren Freiheit, die uns wieder Herr unser selbst und unseres authentischen Weges zum Wahren, Guten, Rechten und Schönen werden lässt.

Der Ring, der Hirtenstab und der Kelch

Abschliessend möchte ich noch einmal auf die nun eröffnete Ausstellung zu sprechen kommen, die einen originellen Zug hat: im Zentrum der Ausstellung kann man drei Gegenstände bewundern, die keine Kunstwerke sind, sondern drei authentische Reliquien, die uns Aufschluss geben über die Persönlichkeit des hl. Karl: sie sind eine Epiphanie seines Herzens, eine Enthüllung seines spirituellen Geheimnisses.

Da ist zunächst einmal der Ring des Borromäus. Und der Ring eines Bischofs erzählt uns symbolisch von seinem ehelichen Band mit der ihm anvertrauten Kirche. Er ist also das Zeichen der pastoralen Liebe und Treue zu seinem Amt, seiner vollkommenen Hingabe.

Dann der Hirtenstab: er ist das Symbol der Autorität und der Leitungsgewalt des Bischofs. Aber wie wir wissen geht es um eine Autorität, die nie als reine Machtausübung zum Ausdruck kommt. In der Nachfolge Christi – dem Guten Hirten schlechthin – bedeutet die pastorale Leitung die Hingabe des eigenen Lebens bis zur vollkommenen Selbstaufopferung. Das hat Christus getan, das haben heilige Bischöfe wie Karl Borromäus getan.

Als letztes lohnt es sich noch, seinen Kelch zu betrachten, den er benutzte, um das eucharistische Opfer zu feiern. Er erzählt uns von dem Leben des Gebets, das ein Bischof haben muss; als Erinnerung daran, dass es letzten Endes das Opfer Christi am Kreuz, Sein Wort und Seine Sakramente sind – in denen Sein Heilswirken gegenwärtig und wirksam ist – , die die Kirche bauen, erhellen, beleben und führen.

Wie ich bereits am Anfang gesagt habe, bin ich mit diesem 400. Jahrestag der Heiligsprechung des Karl Borromäus am Ende meines pastoralen Mandats für die Mailänder Kirche angelangt. Und so komme ich nicht umhin, Ihnen zu gestehen, dass diese drei ausgestellten „Symbole“ (der Ring, der Hirtenstab und der Kelch des hl. Karl) in mir eine tiefe spirituelle Freude hervorrufen, in der Erinnerung an den Tag, an dem ich sie von meinen Vorgängern in Empfang nehmen durfte – und mit der Aussicht, dass mein Nachfolger sie schon bald von mir entgegen nehmen wird.

Es ist dieses wunderschöne Geheimnis der „traditio“, der lebendigen Tradition der Kirche, das – wie uns der hl. Karl gelehrt hat – wahrlich „das auf dem Fels gebaute Haus ist“! Ja, „als nun ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es nicht ein; denn es war auf Fels gebaut“ (Mt 7, 25). Das gilt für die Kirche, die uns in der Zeit vorausgegangen ist, für die Kirche, die wir heute erleben und für die Kirche, die sich in Zukunft auftun wird: eine Kirche stets voller Gnade und Liebe ihres Bräutigams und Herrn. So sind wir dann ohne jede Furcht, aber mit dem unerschütterlichen, überfließenden Vertrauen, das von Christus kommt, alle gerufen, gemeinsam auf unserem Weg zur Heiligkeit voranzuschreiten, im Hören auf Sein Wort, das wir zur täglichen Erfahrung unseres Lebens werden lassen: „Wer diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute“ (Mt 7, 24).

Es helfe uns der hl. Karl!

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