Brief von Johannes Paul II.
Brief von Johannes Paul II. – An die Deutschen Bischöfe
Den verehrten Brüdern im Bischofsamt in Deutschland Gruss und Apostolischen Segen.
1. Am 27. Mai 1997 haben wir entsprechend der Bitte von Herrn Bischof Karl Lehmann, dem Vorsitzenden Eurer Bischofskonferenz, miteinander die Fragen über die rechte Zuordnung der katholischen Schwangerschaftsberatungsstellen zur staatlich geregelten Beratung gemäss dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz vom 21. August 1995 besprochen und vertieft. Noch einmal danke ich Euch für diese Begegnung, in der Ihr Euer lebendiges Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Evangelium des Lebens sowie Eure Bereitschaft, in Einheit mit dem Nachfolger Petri die richtige Entscheidung zu finden, zum Ausdruck gebracht habt.
In den seither vergangenen Monaten habe ich die verschiedenen Gesichtspunkte der Frage erneut studiert, mich weiter über sie beraten und das Problem im Gebet vor den Herrn getragen. So möchte ich heute, wie am Ende der Gespräche angekündigt, die erzielten Ergebnisse noch einmal zusammenfassen und gemäss meiner Verantwortung als oberster Hirte der Kirche einige Richtlinien für das künftige Verhalten in den umstrittenen Punkten geben.
2. Eure Bischofskonferenz setzt sich seit Jahrzehnten in unmissverständlicher Weise ein, um die Botschaft von der unantastbaren Würde des menschlichen Lebens in Wort und Tat zu bezeugen. Denn obgleich das Recht auf Leben in der Verfassung Eures geschätzten Landes eine klare Anerkennung findet, hat der Gesetzgeber die Tötung ungeborener Kinder dennoch in bestimmten Fällen legalisiert, in anderen Fällen für straffrei erklärt, auch wenn dabei der Charakter der Unrechtmässigkeit gewahrt bleibt. Eure Bischofskonferenz hat sich zu Recht mit dem früheren und dem jetzt geltenden Abtreibungsgesetz nicht abgefunden, sondern freimütig und unerschrocken gegen die Abtreibung Stellung genommen. In vielen Ansprachen, Erklärungen, ökumenischen Initiativen und anderen Beiträgen, unter denen besonders das Hirtenwort Menschenwürde und Menschenrechte von allem Anfang an vom 26. September 1996 zu erwähnen ist, habt Ihr den Wert des menschlichen Lebens von der Empfängnis an verkündet und verteidigt.
Im Kampf um das ungeborene Leben muss sich die Kirche in unseren Tagen immer mehr von der sie umgebenden Umwelt unterscheiden. Sie hat dies von ihren Anfängen an getan (vgl. Brief an Diognet 5.1-6.2) und tut es bis heute. “Bei der Verkündigung dieses Evangeliums dürfen wir nicht Feindseligkeit und Unpopularität fürchten, wenn wir jeden Kompromiss und jede Zweideutigkeit ablehnen, die uns der Denkweise dieser Welt angleichen würde (vgl. Röm 12,2). Wir sollen in der Welt, aber nicht von der Welt sein (vgl. Joh 15,19; 17,16) mit der Kraft, die uns von Christus kommt, der durch seinen Tod und seine Auferstehung die Welt besiegt hat (vgl. Joh 16,33)” (Evangelium vitae, Nr. 82). Durch Eure vielfältigen Bemühungen im Dienst am Leben habt Ihr diese Worte in die Tat umgesetzt und dazu beigetragen, dass die Haltung der Kirche zur Frage des Lebensschutzes den Bürgern Eures Landes von Kindesbeinen an vertraut ist. Ich möchte Euch aus ganzem Herzen meine Wertschätzung und meine volle Anerkennung für diesen unermüdlichen Einsatz aussprechen. Ebenso danke ich allen, die in der Öffentlichkeit das Lebensrecht eines jeden Menschen verteidigen. Besondere Erwähnung verdienen dabei die Politiker, die sich in Vergangenheit und Gegenwart nicht scheuen, die Stimme für das Leben der ungeborenen Kinder zu erheben.
3. Neben einigen positiven Aussagen über den Lebensschutz und über die Notwendigkeit der Beratung sieht das Gesetz vom 21. August 1995 vor, dass die Abtreibung bei Vorliegen einer sehr vage umschriebenen “medizinischen Indikation” bis zur Geburt rechtmässig ist. Diese Bestimmung habt ihr zu Recht heftig kritisiert. Ebenso ist die Legalisierung der Abtreibung bei Vorliegen einer “kriminologischen Indikation” für gläubige Christen und für alle Menschen mit wachem Gewissen völlig unannehmbar. Ich bitte Euch, weiterhin alle möglichen Schritte zur Änderung dieser gesetzlichen Verfügungen zu unternehmen.
4. Nun wende ich mich den neuen Gesetzesbestimmungen über die Beratung der schwangeren Frauen in Not zu, weil diese bekanntlich für die kirchliche Sendung im Dienst am Leben und für das Verhältnis von Kirche und Staat in Eurem Land von erheblicher Bedeutung sind. Aufgrund meiner Besorgnis über die neuen Bestimmungen fühlte ich mich verpflichtet, am 21. September 1995 in einem persönlichen Brief einige Grundsätze in Erinnerung zu rufen, die in dieser Sache sehr wichtig sind. Ich lenkte Eure Aufmerksamkeit unter anderem darauf, dass die positive gesetzliche Definition der Beratung im Sinn des Lebensschutzes durch gewisse zweideutige Formulierungen abgeschwächt wird und dass die von den Beraterinnen auszustellende Beratungsbescheinigung nunmehr einen anderen juristischen Stellenwert hat als in der vorigen gesetzlichen Regelung. Ich ersuchte Euch, die kirchliche Beratungstätigkeit neu zu definieren und dabei darauf zu achten, dass die Freiheit der Kirche nicht beeinträchtigt wird und kirchliche Einrichtungen nicht für die Tötung unschuldiger Kinder mitverantwortlich gemacht werden können.
In den Vorläufigen Bischöflichen Richtlinien habt Ihr das Ziel der kirchlichen Beratung gegenüber dem Gesetz weiter im Sinn des unbedingten Lebensschutzes präzisiert. Durch diese und andere Massnahmen habt Ihr den kirchlichen Beratungsstellen ein deutliches eigenes Profil gegeben. Im Ringen um die staatliche Anerkennung der Vorläufigen Bischöflichen Richtlinien in den einzelnen Ländern ist die eigenständige Position der Kirche in der Frage weiter zutage getreten.
5. Umstritten blieb die Problematik der Beratungsbescheinigung, die gewiss nicht aus dem Beratungskonzept herausgelöst werden kann, aber sorgsam gemäss ihrer objektiven rechtlichen Bedeutung zu bewerten ist. In der Ansprache vom 22. Juni 1996 während meiner Pastoralreise in Deutschland stellte ich fest: “Von unserem Glauben her ist klar, dass von kirchlichen Institutionen nichts getan werden darf, was in irgendeiner Form der Rechtfertigung der Abtreibung dienen kann”.
Um in der Frage des Beratungsscheines eine Lösung zu finden, kam es – in Fortführung einer ersten Unterredung am 5. Dezember 1995 – am 4. April 1997 zu einem zweiten Gespräch zwischen einer Delegation Eurer Bischofskonferenz und Vertretern der Kongregation für die Glaubenslehre, bei dem trotz einer grundlegenden Einmütigkeit in der Lehre der Kirche zum Lebensschutz und in der Verurteilung der Abtreibung wie auch in der Notwendigkeit einer umfassenden Beratung schwangerer Frauen in Not die strittige Frage der Beratungsbescheinigung nicht endgültig gelöst werden konnte. Während der Begegnung am 27. Mai 1997 wurden alle zu berücksichtigenden Elemente noch einmal in einer brüderlichen Atmosphäre freimütig und offen vorgetragen.
In meinem Auftrag, die Brüder zu stärken (vgl. Lk 22,32), richte ich mich nun wiederum an Euch, liebe Mitbrüder. Es geht nämlich um eine pastorale Frage mit offenkundigen lehrmässigen Implikationen, die für die Kirche und für die Gesellschaft in Deutschland und weit darüber hinaus von Bedeutung ist. Auch wenn die gesetzliche Situation in Eurem Land einzigartig ist, so betrifft das Problem, wie wir das Evangelium des Lebens in der pluralistischen Welt von heute wirksam und glaubwürdig verkünden, doch die Kirche insgesamt. Der Auftrag, das Leben in allen seinen Phasen zu schützen, lässt keine Abstriche zu. Daraus folgt, daß die Botschaft und die Handlungsweise der Kirche in der Frage der Abtreibung in ihrem wesentlichen Gehalt in allen Ländern dieselben sein müssen.
6. Ihr legt grossen Wert darauf, dass die katholischen Beratungsstellen in der Schwangerenberatung öffentlich präsent bleiben, um durch eine zielorientierte Beratung viele ungeborene Kinder vor der Tötung zu retten und den Frauen in schwierigen Lebenssituationen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Seite zu stehen. Ihr unterstreicht, dass die Kirche in dieser Frage – um der ungeborenen Kinder willen – die vom Staat eröffneten Spielräume zugunsten des Lebens und der Beratung so weit wie möglich nützen muss und nicht die Verantwortung auf sich nehmen kann, mögliche Hilfeleistungen unterlassen zu haben. Ich unterstütze Euch in diesem Anliegen und hoffe sehr, dass die kirchliche Beratung kraftvoll weitergeführt werden kann. Die Qualität dieser Beratung, die sowohl den Wert des ungeborenen Lebens wie auch die Schwierigkeiten der schwangeren Frau ganz ernst nimmt und eine Lösung auf der Basis von Wahrheit und Liebe anstrebt, wird die Gewissen vieler Ratsuchender anrühren und für die Gesellschaft ein mahnender Aufruf sein.
Ich möchte in diesem Zusammenhang den Einsatz der katholischen Beraterinnen der Caritas und des Sozialdienstes katholischer Frauen sowie einiger anderer Beratungsstellen ausdrücklich hervorheben. Ich kenne den guten Willen der Beraterinnen und weiss um ihre Mühen und Sorgen. Ich möchte ihnen aufrichtig für ihr Engagement danken und sie bitten, weiterhin für jene zu kämpfen, die keine Stimme haben und ihr Lebensrecht noch nicht selber verteidigen können.
7. Was nun die Frage der Beratungsbescheinigung betrifft, möchte ich wiederholen, was ich Euch schon im Brief vom 21. September 1995 geschrieben habe: “Sie bestätigt, dass eine Beratung stattgefunden hat, ist aber zugleich ein notwendiges Dokument für die straffreie Abtreibung in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft”. Ihr selber habt diese widersprüchliche Bedeutung des Beratungsscheines, die im Gesetz verankert ist, mehrmals als “Dilemma” bezeichnet. Das “Dilemma” besteht darin, dass die Bescheinigung die Beratung zugunsten des Lebensschutzes bestätigt, aber zugleich die notwendige Bedingung für die straffreie Durchführung der Abtreibung bleibt, auch wenn sie gewiss nicht deren entscheidende Ursache ist.
Der positive Text, den Ihr dem von katholischen Stellen ausgestellten Beratungsschein gegeben habt, kann diese widersprüchliche Spannung nicht grundsätzlich beheben. Die Frau kann den Schein aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen dazu gebrauchen, um nach einer dreitägigen Frist ihr Kind straffrei und in öffentlichen Einrichtungen und zum Teil auch mit öffentlichen Mitteln abtreiben zu lassen. Es ist nicht zu übersehen, dass der gesetzlich geforderte Beratungsschein, der gewiss zuerst die Pflichtberatung sicherstellen will, faktisch eine Schlüsselfunktion für die Durchführung straffreier Abtreibungen erhalten hat. Die katholischen Beraterinnen und die Kirche, in deren Auftrag die Beraterinnen in vielen Fällen handeln, geraten dadurch in eine Situation, die mit ihrer Grundauffassung in der Frage des Lebensschutzes und dem Ziel ihrer Beratung in Konflikt steht. Gegen ihre Absicht werden sie in den Vollzug eines Gesetzes verwickelt, der zur Tötung unschuldiger Menschen führt und vielen zum Ärgernis gereicht.
Nach gründlicher Abwägung aller Argumente kann ich mich der Auffassung nicht entziehen, dass hier eine Zweideutigkeit besteht, welche die Klarheit und Entschiedenheit des Zeugnisses der Kirche und ihrer Beratungsstellen verdunkelt. Deshalb möchte ich Euch, liebe Brüder, eindringlich bitten, Wege zu finden, dass ein Schein solcher Art in den kirchlichen oder der Kirche zugeordneten Beratungsstellen nicht mehr ausgestellt wird. Ich ersuche Euch aber, dies auf jeden Fall so zu tun, dass die Kirche auf wirksame Weise in der Beratung der hilfesuchenden Frauen präsent bleibt.
8. Verehrte Mitbrüder!
Ich weiss, dass die Bitte, die ich an Euch richte, ein nicht leichtes Problem anrührt. Schon seit langem und verstärkt seit der Begegnung vom 27. Mai 1997 ist von vielen Seiten, auch von Menschen, die sich für die Kirche und in der Kirche einsetzen, nachdrücklich vor einem solchen Entscheid gewarnt worden, der die Frauen in Konfliktsituationen ohne den Beistand der Glaubensgemeinschaft lasse. Ebenso nachdrücklich ist freilich auch von gläubigen Menschen aller Schichten und Stände angemahnt worden, dass der Schein die Kirche in die Tötung unschuldiger Kinder verwickelt und ihren unbedingten Widerspruch gegen die Abtreibung weniger glaubwürdig macht.
Ich habe beide Stimmen sehr ernst genommen und respektiere die leidenschaftliche Suche nach dem rechten Weg der Kirche in dieser wichtigen Sache auf beiden Seiten, fühle mich aber um der Würde des Lebens willen gedrängt, die oben dargelegte Bitte an Euch zu richten. Zugleich anerkenne ich, dass die Kirche sich ihrer öffentlichen Verantwortung nicht entziehen kann, am allerwenigsten da, wo es um das Leben und die Würde des Menschen geht, den Gott geschaffen und für den Christus gelitten hat. Das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz bietet viele Möglichkeiten, um in der Beratung präsent zu bleiben; die Präsenz der Kirche darf letztlich nicht vom Angebot des Scheins abhängen. Nicht nur der Zwang einer gesetzlichen Vorschrift darf es sein, der die Frauen zu den kirchlichen Beratungsstellen führt, sondern vor allem die sachliche Kompetenz, die menschliche Zuwendung und die Bereitschaft zu konkreter Hilfe, die darin anzutreffen sind. Ich vertraue darauf, dass Ihr mit den vielfältigen Möglichkeiten Eurer Institutionen und Eurer Organisationen, mit dem reichen Potential an intellektuellen Kräften wie an Innovationsfähigkeit und Kreativität Wege finden werdet, die Präsenz der Kirche in der Beratung nicht nur nicht vermindern zu lassen, sondern noch zu verstärken. Ich bin davon überzeugt, dass Ihr in der geistigen Auseinandersetzung, die in der Gesellschaft Eures Landes bereits stattfindet und die nun folgen wird, alle Eure Kräfte mobilisieren könnt, um den Weg der Kirche nach innen und nach aussen verständlich zu machen, so dass er auch dort wenigstens Respekt findet, wo man nicht glaubt, ihn billigen zu können.
Dass die Kirche den Weg des Gesetzgebers in einem konkreten Punkt nicht mitgehen kann, wird ein Zeichen sein, das gerade im Widerspruch zur Schärfung des öffentlichen Gewissens beiträgt und damit letztlich auch dem Wohl des Staates dient: “Das Evangelium vom Leben ist nicht ausschliesslich für die Gläubigen da: es ist für alle da. … Unser Handeln als «Volk des Lebens und für das Leben» verlangt daher, richtig ausgelegt und mit Sympathie aufgenommen zu werden. Wenn die Kirche die unbedingte Achtung vor dem Recht auf Leben jedes unschuldigen Menschen – von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod – zu einer der Säulen erklärt, auf die sich jede bürgerliche Gesellschaft stützt, «will sie lediglich einen humanen Staat fördern. Einen Staat, der die Verteidigung der Grundrechte der menschlichen Person, besonders der schwächsten, als seine vorrangige Pflicht anerkennt»” (Evangelium vitae, Nr. 101).
Noch einmal danke ich Euch für Euer vielfältiges Bemühen, das Leben der ungeborenen Kinder zu schützen, und ebenso für Eure Bereitschaft, die katholische Beratungstätigkeit neu zu umschreiben. Ich empfehle die Euch anvertrauten Gläubigen – im besonderen die in der Beratung engagierten Frauen und Männer sowie alle schwangeren Frauen in Not – Maria, der Mutter vom Guten Rat, und erteile Euch von Herzen den Apostolischen Segen.
Aus dem Vatikan, am 11. Januar 1998, dem Fest der Taufe des Herrn
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