Fribourg
Fribourg – Warum treue Katholiken in der Schweiz besonders auffallen
Weihbischof Alain de Raemy ist ein Freund klarer Worte und der missionarischen Seelsorge. Beides vermisst er in der Kirche in der Schweiz manchmal. Im Interview erläutert er die Herausforderung einer besonderen Kultur des Kompromisses.
Kilian Martin, 10. Juni 2019
„Der gesamte Staat lebt aus dem Kompromiss“, sagt Weihbischof Alain de Raemy über die Schweiz
Herr Weihbischof, überall in den deutschsprachigen Ländern verliert die Kirche an Gläubigen. Eine Umkehr zu Mission und Evangelisierung ist trotzdem von manchen nicht gewünscht. Wie nehmen Sie diese Auseinandersetzung wahr?
Solange der Glaube mit einer werterfüllten Weltanschauung verwechselt wird, die sich unter anderem auf das Evangelium stützen kann, braucht es keine Mission, keine Evangelisierung. Wenn aber der Glaube eine persönliche und gemeinschaftliche Beziehung zum auferstandenen Jesus ist, der mich aus Liebe sogar vom Tode rettet, dann wird es ein tiefes Anliegen, dass ihn alle Menschen kennenlernen!
Sie sind in der Schweizer Bischofskonferenz unter anderem zuständig für die Jugend. Ihr deutscher Amtsbruder, Bischof Stefan Oster, müht sich in dieser Funktion sehr darum, die Jugendverbände zu mehr Verkündigung und weniger Politik anzuhalten. Wie ist das bei Ihnen in der Schweiz?
Sehr ähnlich. Die gut organisierten und finanzierten Jugendverbände sind die, die am wenigsten ausdrücklich den Glauben pflegen. Das betrifft vor allen Dingen die Deutschschweiz. Bei diesen Verbänden geht es vor allem um Dienstleistungen für die Freizeit. Man will unbedingt allen ermöglichen, dort mitzumachen und in dem Sinn scheut man sich, das Christliche zu stark hervorzuheben. Das ist so.
Wie gehen Sie damit um?
Ich versuche, den Verbänden die Überzeugung zu vermitteln, dass man, wenn man das Evangelium kennt und daraus schöpft, sich damit nicht verschliesst. Man schliesst andere damit nicht aus, sondern im Gegenteil, es ist eine zusätzliche Motivation, allen zu dienen. Aus diesem Glauben heraus kann man noch besser Dienstleistungen für die Freizeit, für die Jugendlichen allgemein, gestalten. Es soll ja nicht einfach der Glaube gepredigt werden, sondern das, was mir der Glaube sinnvoll macht und die Weltanschauung, die der Glaube bringt. Wenn man Jugendarbeit für Christus macht, macht man sie für alle noch besser. Dann muss man auch keinem vorzeigen, dass man ein guter Christ ist, um dort mitzumachen.
Wie viel Potenzial für Mission bietet das?
Viel! Mancher wird vielleicht doch Fragen stellen: „Warum machst Du das? Warum interessiere ich dich so sehr? Was ist dein Lebenssinn? Warum betest Du? Was erlebst Du im Gottesdienst, der Dir so wichtig ist?“ Wenn man zusammen ist, miteinander spielt und seine Freizeit verbringt, lernt man sich allmählich kennen und fragt sich gegenseitig ab. So kann Jugendarbeit sehr missionarisch sein, ohne nur Glaubensverbreitung sein zu wollen.
Und wie viel Mission hat die Schweiz nötig?
Wir brauchen nicht sehr viel Mission, sondern sehr vielfältige Mission. Das heisst, dass Christen sich überall einbringen müssen und zwar immer der Sache gerecht. Es geht dann nicht vorrangig darum, zu missionieren, damit der andere Christus annimmt, sondern darum, sich als Christ einzubringen. Das ändert die Sache an sich, sei es in der Wissenschaft, der Politik oder einem sozialen Dienst.
Welche Rolle spielt die Kirche dabei aktuell?
Eine sehr schwache Rolle. Ich kenne keine Stelle, die einen Christen, der sich in der Politik als solcher engagiert, irgendwie spirituell und sehr konkret unterstützen würde. Egal welche Partei, egal welche Arbeit: Es fehlt uns an Unterstützung des Christseins in allen Tätigkeitsbereichen. Das gibt es zu wenig.
“Wir brauchen nicht sehr viel Mission, sondern sehr vielfältige Mission.”
Weihbischof Alain de Raemy
Scheut sich die katholische Kirche in der Schweiz davor, öffentlich als Glaubensgemeinschaft sichtbar zu werden?
Sie scheut sich bestimmt nicht, wahrgenommen zu werden. Sie will aber sicher kein Störfaktor sein oder intolerant erscheinen. Manchmal haben wir etwas Angst, je nach Thema, klare Worte zu sprechen. Mir persönlich ist es aber jedenfalls immer wichtig, richtig verstanden zu werden, und niemals dem Zugang der Liebe Gottes im Herzen der Menschen ein Hindernis sein.
Wie sehen Sie die Gesamtsituation der katholischen Kirche in der Schweiz?
Schon auf Pfarreiebene, an der Basis, wo die Gläubigen Taufen, Hochzeiten, Todesfälle erleben, fehlt ein Aufbruch. Wir arbeiten dort, als ob sich in der Gesellschaft nichts verändert hätte. Wir sind noch nicht genügend angepasst an eine neue Zeit. Wenn Menschen Anfragen an uns haben, geben wir darauf klassische Antworten, wie vor 50 oder 60 Jahren. Wir sind in dem Sinn nicht missionarisch genug, dass wir zu wenig verstehen, was neu sein könnte, wie man es anders angehen könnte.
Sind dabei die Strukturen der Schweizer Kirche Problem oder Vorteil?
Beides. (lacht) Es ist ein Vorteil, weil dadurch doch anerkannt wird, dass die Kirche, die Christen und ihre Werke für die Gesellschaft gut sind. Darum bleibt das duale System erhalten. Man zahlt als Steuerpflichtiger, weil man die Präsenz der Kirche schätzt. Dank diesem Finanzsystem hat die Kirche auch die technische Möglichkeit, etwas aufzubauen. Wichtig ist auch, dass somit ihre Finanzen viel gründlicher und transparent kontrolliert werden. Das ist nicht zu unterschätzen!
Und wo ist das Problem?
Andererseits ist das System auch schlecht, weil es uns oft hindert, die Kirche frei und spontan zu erleben, unter der direkten und pastoralen Verantwortlichkeit des Apostolischen Dienstes der Diakone, Priester und Bischöfe. Die Struktur der Kirche, wie sie von Jesus kommt, ist hier schlecht wahrzunehmen, weil es Hürden gibt, die der Staat so will. Und in diesen Strukturen sind manchmal auch Menschen zu finden, denen der Glaube vielleicht nicht so wichtig ist, sondern vielmehr das Mitreden, wie in jedem Verein. Es kann dann sein, dass die Referenz nicht Christus, sondern die persönliche Meinung ist. Es ist wie in einer Demokratie, wo jeder dazu sagen kann, was er meint. Dann fehlt aber auch das Missionarische und das Spontane.
“Wir sind in dem Sinn nicht missionarisch genug, dass wir zu wenig verstehen, was neu sein könnte.”
Weihbischof Alain de Raemy
Fallen deshalb glaubenstreue Katholiken wie Bischof Vitus Huonder in der Schweiz besonders auf?
Ich glaube nicht, dass man die Glaubenstreue am Auffallen messen kann … Das Problem ist vielmehr, dass wir in der Schweiz so sehr auf den Kompromiss aus sind. Der gesamte Staat lebt aus dem Kompromiss. Jeder gibt etwas auf, damit man gut zusammenbleiben kann. Auf der religiösen Ebene ist das aber viel schwieriger. Und es wird immer schwieriger mit der wachsenden Zahl von Muslimen. Für sie gehören auch Details der Lebensführung zur Religion, wie die Frage, wie man begraben werden will oder was die Tochter zum Schwimmen tragen soll. Aber auch für uns gibt es Grundsätzliches, das nicht mit Kompromissen zu lösen ist. Darum fällt der überzeugte Katholik in dieser Kultur des Kompromisses manchmal so stark auf.
Alain de Raemy (60) ist Weihbischof im Bistum Lausanne, Genf und Freiburg. Der gebürtige Spanier gehört dem Präsidium der Schweizer Bischofskonferenz an. Er ist zuständig für die Jugendpastoral sowie die Armeeselsorge in der Schweiz.
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