2002 “Ad-Limina” – Besuch der Bischöfe Venezuelas

Ansprache des Heiligen Vaters Johannes Paul II. anlässlich des “Ad-Limina” – Besuches der Bischöfe Venezuelas  
Dienstag, 11. Juni 2002

Quelle
Apostolische Reise nach in Guatemala, Nikaragua, El Salvador und Venezuela
– (5. – 12. Februar 1996)

Liebe Brüder im Bischofsamt!

1. Am Ende meiner ersten Reise in euer Land verabschiedete ich mich in der Hoffnung, dass “die Kirche in Venezuela wahrhaft Zeugnis von der Gegenwart Jesu Christi geben und den Herausforderungen des bevorstehenden Jahrtausends mit Mut begegnen wird” (Ansprache zum Abschied, 29. Januar 1985). Jetzt, da das neue Jahrtausend begonnen hat und die mitunter schweren und unvorhergesehenen Herausforderungen nicht auf sich warten liessen, heisse ich euch anlässlich dieses “Ad-limina”-Besuches herzlich willkommen, und ich möchte euch in eurem Dienst als Hirten, Führer und Lehrer des Volkes Gottes auf dem Pilgerweg in dieser lieben Nation von neuem ermutigen.

Ich danke dem Erzbischof von Mérida und Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Baltazar Porras, aufrichtig für die herzlichen Worte, die er an mich gerichtet hat. Er hat damit auch euren festen Willen zur vollen Gemeinschaft mit dem Nachfolger des Petrus bekundet, dem aufgetragen wurde, seine Brüder im Glauben zu stärken (vgl. Lk 22, 32), und der »das immerwährende und sichtbare Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft« ist (Lumen gentium, Nr. 18). Ich kenne gut die Bestrebungen und Sorgen eures apostolischen Dienstes, die ihr in den Fünfjahresberichten dargelegt und über die ihr auch mit den Leitern der Dikasterien der Römischen Kurie sprechen konntet.

Ihr wißt, wenn im Dienst der Kirche »ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm« (1 Kor 12, 26), und deshalb könnt ihr bei eurem hochherzigen Einsatz die Kraft spüren, die aus der Gemeinschaft mit der ganzen Kirche erwächst, ebenso die Nähe und die Sorge dessen, der das Volk Gottes wie ein »amoris officium« weidet (vgl. Augustinus, In Io. Ev., 123, 5).

2. Es freut mich zu hören, daß derzeit die Feier des ersten Plenarkonzils von Venezuela im Gang ist; es wurde einberufen mit dem Ziel, »die Kräfte und den Willen zu vereinen, um sowohl das gemeinsame Wohl wie auch das Wohl der einzelnen Kirchen zu fördern« (Christus Dominus, Nr. 36). Dadurch wird der Anstoß zu einer umfassenden Evangelisierungsarbeit gegeben, die zugleich Ausdruck einer einmütigen Anstrengung ist, so »daß der Glaube wachse und das Licht der vollen Wahrheit allen Menschen aufgehe« (Lumen gentium, Nr. 23).

In diesem Zusammenhang wies ich nach der wunderbaren Erfahrung des Großen Jubiläums darauf hin, daß eine der wichtigsten Aufgaben des neuen Jahrtausends darin besteht, »die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft zu machen« durch einen tiefen geistlichen Weg, ohne den »die äußeren Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden zu seelenlosen Apparaten werden« (Novo Millenio ineunte, Nr. 43). Darum soll ein Partikularkonzil als bedeutendes kirchliches Ereignis und als wahrhaft außerordentliche Erfahrung des Heiligen Geistes gelebt werden, der seine Kirche leitet und in der Einheit des Glaubens und der Liebe erhält. Die erste Frucht ist die Gemeinschaft unter den Hirten, die ihrerseits das Prinzip der Einheit in den Teilkirchen sind, denen sie vorstehen.

Ich lade euch also ein, in allen Etappen dieses Konzils den Geist des Dialogs, der brüderlichen Eintracht und der guten Zusammenarbeit zu nähren, indem ihr jede Art von Dissens vermeidet, der unter den Gläubigen eine Orientierungslosigkeit hervorrufen oder der Vorwand sein kann für Gefahren von seiten derer, die andere, nicht auf das Wohl der Kirche ausgerichtete Interessen verfolgen.

3. Aufgrund eurer Volksnähe und eurer täglichen Pastoralarbeit, die ihr ausübt, seid ihr euch der tiefen und raschen sozialen Wandlungen bewußt, die die Evangelisierungsaufgabe erschweren und es erfordern, daß »man sich mutig einer Situation stellt, die immer vielfältiger und anspruchsvoller wird« (ebd., Nr. 40). In diesem Zusammenhang ist die Erneuerung der Katechese ganz besonders wichtig, mit deren Hilfe die Kirche der Pflicht nachkommt, »die Kraft und Schönheit der Glaubenslehre in ausgewogener Weise darzubieten« (Apostol. Konst. Fidei depositum, Nr. 1). Die laizistische Kultur, die Atmosphäre der religiösen Gleichgültigkeit oder die Brüchigkeit mancher fester traditioneller Institutionen wie der Familie, der Bildungszentren und auch so mancher kirchlicher Institutionen können die Kanäle verschließen, durch die der Glaube weitergegeben und die christliche Erziehung und Bildung der jungen Generationen gefördert werden.

In dieser Situation ist es angebracht, daran zu erinnern, daß, »wenn es um das Himmelreich geht, keine Zeit dafür ist, zurückzublicken« (Novo Millennio ineunte, Nr. 15). Es ist hingegen notwendig, in den Hirten und Katechisten neuen Eifer zu entfachen, damit sie durch ihr Zeugnis und die sie auszeichnende Kreativität die angemessenen Formen finden, die das Licht Christi in das Herz jedes Venezolaners gelangen lassen, indem stets die frohe Überraschung angesichts seiner Botschaft und seiner Gegenwart geweckt wird. Der Katechismus der Katholischen Kirche wird dabei als inspirierender Leitfaden einer neuen Katechese dienen, die auf die unterschiedlichen Gruppen eurer Gläubigen abgestimmt ist.

4. Mit dem Geist des guten Hirten stellt ihr oft fest, daß »die Ernte groß ist, die Arbeiter aber nur wenige sind« (vgl. Mt 9, 37). Deshalb ist es tröstlich, daß der Herr euer Land zunehmend mit neuen Berufungen und mit der großherzigen Präsenz von Personen gesegnet hat, die aus anderen Breitengraden kommen. Sie sind oft ein Vorbild der selbstlosen Dienstbereitschaft für das Evangelium und des Gespürs für die Sensibilität und die Bedürfnisse der Menschen. Ihr wißt sehr gut, wie wichtig für sie die Ermutigung und Hochschätzung ihrer Hirten sind, die keine Mühe scheuen dürfen, um eine Atmosphäre der Brüderlichkeit unter ihren ersten Mitarbeitern, den Priestern, zu schaffen. Ebensowenig dürfen die verschiedenen Charismen außer acht gelassen werden, die für jede einzelne Teilkirche einen Reichtum bedeuten.

Neben den entsprechenden Leitlinien, die ihr als Richtschnur geben müßt, dürft ihr nicht nachlassen, das geistliche Leben und das echte Streben nach Heiligkeit in denen zu nähren, die bei eurer apostolischen Sendung mitarbeiten, denn sie ist die tiefste Quelle, aus der die in den verschiedenen Umfeldern wahrgenommene Hirtenaufgabe erwächst. Gerade weil sie ihren Sendungsauftrag sehr oft unter schwierigen Umständen ausführen müssen, sollen sie die Freude an ihrem Einsatz nicht so sehr auf den vergänglichen Erfolg, sondern mehr auf das Bestreben gründen, daß »eure Namen im Himmel verzeichnet sind« (Lk 10, 20), indem sie den andern das verkünden, was sie vom Herrn selbst gesehen und gehört haben (vgl. Apg 4, 20; 22, 15).

5. Euer Land, das reich an natürlichen und menschlichen Ressourcen ist, hatte in den vergangenen Jahren eine schmerzliche Zunahme von zum Teil äußerster Armut vieler Personen und Familien zu verzeichnen. Das leidende Antlitz Christi wird in so vielen Landarbeitern und Eingeborenen erkennbar, die in den Städten ausgegrenzt sind, in ausgesetzten Kindern, verwahrlosten Alten, mißhandelten Frauen und arbeitslosen Jugendlichen. Ich weiß, daß eure Hirtensorge dadurch dringend auf den Plan gerufen wird, denn am Nächsten, der weniger Erfolg gehabt hat, kann man nicht unbetroffen vorbeigehen; er braucht umgehend Hilfe, noch bevor nach den Gründen seines Unglücks geforscht wird.

Die Kirche hat durch den selbstlosen Einsatz vieler Menschen und durch die ständige Arbeit vieler Institutionen Zeugnis von der göttlichen Barmherzigkeit gegeben und tut es weiterhin durch ihre hochherzige und bedingungslose Hingabe an die Ärmsten. Diese Haltung muß sich immer mehr in ein allgemeines Verhaltensmuster der gesamten christlichen Gemeinschaft umwandeln unter der aktiven Mitarbeit ihrer Glieder und der unermüdlichen Förderung des Geistes der Solidarität im ganzen venezolanischen Volk. 

Angesichts dieser Dringlichkeiten, die keinen Aufschub dulden, spürt ihr auch die Notwendigkeit, zum Aufbau einer gerechteren, friedlicheren und für alle vorteilhaften Gesellschaftsordnung beizutragen. Ohne mit dem, was den öffentlichen Autoritäten obliegt, konkurrieren zu wollen, wird sich die Kirche manchmal verpflichtet fühlen, ihre Stimme zu erheben für diejenigen, die niemand zu hören scheint, oder manchmal um »in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die sie mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Z ichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind« (Gaudium et spes, Nr. 11); manchmal auch, um gewisse Formen ehrlicher Mitarbeit in jenen Initiativen zu suchen, die das ganzheitliche Wohl der Person im Blick haben und darum der Sendung der Kirche und gleichfalls den spezifischen Zielsetzungen der sozialen Verbände entsprechen. Denn letztere können den wichtigen Beitrag der Kirche unter vielen Aspekten, die zum Gemeinwohl gehören, weder außer acht lassen noch herabsetzen.

Ich weiß, daß dieser Aspekt eures Dienstamtes nicht immer leicht zu vertreten ist, und es fehlt nicht an Mißverständissen, an dem Versuch, Ausflüchte zu finden, oder an der mehr oder weniger offenen Parteinahme. Aber das ist nicht die Ebene, auf der sich die Kirche bewegt; sie will eine Atmosphäre des geduldigen, selbstlosen, offenen und konstruktiven Dialogs unter den öffentlichen Verantwortungsträgern fördern mit dem Ziel, in jedem Gesellschaftsprojekt die Würde und die unveräußerlichen Rechte der Person zur Geltung zu bringen, um »unsere Erde brüderlicher und solidarischer zu gestalten, damit das Leben auf ihr angenehmer sei und Gleichgültigkeit, Ungerechtigkeit und Haß nie das letzte Wort haben« (Ansprache an das Diplomatische Corps, 10. Januar 2002, Nr. 2; in: O.R. dt., Nr. 4, 25.1.2002).

Ich empfehle euren Hirtendienst der heiligen Jungfrau Maria, die in eurem Land als Unser Liebe Frau von Coromoto tief verehrt wird. Vor ihr hab ich mich anläßlich meiner letzten Reise nach Venezuela niedergekniet, um ihren Schutz auf das venezolanische Volk herabzurufen. Heute bitte ich sie wiederum, daß die Katholiken dieses geschätzten Landes »als wahre Zeugen Christi das Salz und Licht für die anderen sein mögen« (Predigt im Heiligtum U.Lb. Frau von Coromoto, 10. Februar 1996, Nr. 6). 

Während ich euch bitte, euren Gläubigen den Gruß des Papstes zu übermitteln, der sie nicht vergißt, und den Priestern, den Ordensgemeinschaften und allen, die direkt bei der faszinierenden Aufgabe der Evangelisation mitarbeiten, seinen besonderen Dank auszusprechen, wiederhole ich meine Aufforderung, in beiderseitiger Gemeinschaft mit dem Stuhl Petri für die Sache des Evangeliums zusammenzuarbeiten; zugleich erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.

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